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Mit Abscheu und Hingabe

Der Aufstieg der Sündenmeile auf St. Pauli im Zeichen bürgerlicher Doppelmoral
aus DER SPIEGEL 50/1997

Beim Spaziergang vor den Toren seiner Stadt stieß der Hamburger Gelehrte Jonas Ludwig von Heß auf eine märchenhafte Häuserzeile. Die Häuschen, notierte er, »lachen durch die offenen Thüren und winken mit der Musik zerfiedelter Geigen«. Hier, folgerte der Spaziergänger, »genießt der starke, rohe Matrose die höchsten Freuden seiner Menschheit«.

Das war, vor 200 Jahren, die Entdeckung der Reeperbahn für die Geschichtsschreibung. Fortan pflegte das Hamburger Bürgertum seine Schmuddelmeile vor den Toren mit Abscheu und Hingabe, Empörung und Lust. Eine Zugbrücke übern Stadtgraben trennte bis 1860 die sündige, sandige Ebene am Elbufer zwischen Hamburg und Altona von den hochanständigen Nachbarn, eine praktische Erfindung der bürgerlichen Moral, beliebig rauf- und runterzuziehen.

Die bewegliche Moral des aufstrebenden Bürgertums wurde zur Triebkraft für das Leben in der Vorstadt rings um die Kirche, die dem sittenstrengen Apostel Sankt Paulus gewidmet war. Schließlich waren es nicht nur rohe Matrosen, die Freuden in St. Pauli suchten. Schon zu Zeiten der Französischen Revolution, Ende des 18. Jahrhunderts, leisteten sich ganze Familien den Ausflug ins Reich der buntgeschmückten Mädchen, der Gaukler, Schlangenbeschwörer und Zwerge. Immer mehr Schaustellerbuden eröffneten entlang der langen Bahn, auf der »Reeper« - Seiler - ihre ebenso langen Schiffstaue drehten.

In St. Pauli fanden alle eine Heimat, die nicht ins Bild der properen Hanseatenwelt paßten. Neben Huren und Fremden die Armen, Obdachlosen, Pestpatienten, Schmuggler, Revolutionäre.

Napoleon, der 1806 Hamburg besetzt hatte, ließ die aufsässige Vorstadt, weil unregierbar, niederbrennen. Schon wenige Jahre später erstand St. Pauli aufsässiger, größer und schöner von neuem. Denn die Pfeffersäcke hinter der Zugbrücke ließen sich ihr Lustquartier nicht nehmen. In der Mitte des 19. Jahrhunderts bekam das schwierige Volk sogar die Bürgerrechte, eine Polizeiwache und Gaslicht.

Unter den Laternen drückten sich damals 182 amtlich registrierte Prostituierte herum, ein paar hundert Illegale dazu. Und in den Hinterzimmern der Kneipen spielte so mancher beim »Silentium« mit, einem Glücksspiel, das dem heutigen Zahlenlotto ähnelt und damals von der Obrigkeit zum Nutzen der Spielmacher streng verboten wurde.

Armutswellen, Brandkatastrophen und Seuchen spülten ihre Opfer meist nach St. Pauli, wo es immer enger wurde. Aber weil zugleich auch das große Geld immer irgendwie auf der Reeperbahn ankam, wurde es da auch immer bunter.

Die französischen Reparationen nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 wurden im Siegesrausch auch auf der Reeperbahn verpraßt. Mit der Reichsgründung begann in St. Pauli ein goldenes Zeitalter.

Im Carl Schultze-Theater wurde Johann Straußens »Fledermaus« aufgeführt; das war der Beginn des Operettenzeitalters in Deutschland. Im Wintergarten von Ludwig's Concerthaus beleuchteten 500 bunte Glühbirnen einen künstlichen Wasserfall; das war der Beginn des elektrischen Zeitalters. Das erste Hamburger Auto fuhr 1894 natürlich über die Reeperbahn. Es gehörte dem Inhaber des Wachsfigurenkabinetts.

In den Armutsvierteln wurde die Situation unerträglich. 70 000 Menschen wohnten in winzigen Wohnungen hinter den Glitzerfassaden. Aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts war St. Pauli weltberühmt. Mit Schiffen kamen die Lustreisenden für einen Reeperbahnbummel.

Es erhöhte den Reiz solcher Ausflüge, daß die doppelte Moral im neuen Reich ihren Höhepunkt erreicht hatte. Im Strafgesetzbuch von 1871 - es gilt im Kern noch immer - wurde Prostitution zum Straftatbestand. Die Obrigkeit reagierte flexibel: Neben der Reeperbahn bekamen die Nutten eine abgeschottete kleine Straße, wo sie sich, um nicht in aller Öffentlichkeit aufzutreten, hinter Glas präsentieren durften. Erst hieß sie Heinrich-, später Herbertstraße.

Das war der Sündenfall. Das fröhliche Miteinander von Tanz, Hurerei und Sauferei in der Vorstadt erstarb. Die Wirte, ihrer Einnahmequellen in den Séparées verlustig, verlegten sich aufs Neppen, die Zuhälter ohne Gefolge suchten sich anderweitige kriminelle Aktivitäten.

Das Milieu zerfiel in oben und unten. Mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wurde St. Pauli krimineller - und schicker. An der Davidstraße entstand darum der Neubau der »Davidwache«, fortan Inbegriff für deutsches Polizeiwesen. Ein paar Ecken weiter eröffnete Francesco Cuneo das erste italienische Lokal der Stadt. Mixer und Mixerinnen schüttelten in der neuen »America-Bar« etwas bis dahin Unbekanntes: »Cocktails«.

Die Gegensätze wurden in den Hungerjahren nach dem Ersten Weltkrieg noch härter. Da wurde in der America-Bar Gefrierfleisch für die Besserverdienenden verkauft. Zugewanderte Chinesen errichteten erste Opiumhöhlen. Die hanseatischen Nachbarn wandten sich voller Ekel ab und setzten durch, daß der Senat die letzten Bordelle als »Kulturschande« mit Polizeigewalt schließen ließ.

Wozu noch Bordelle? Im Inflationsjahr 1923 wimmelte es in St. Pauli von Frauen aus ehemals besseren Familien, die für ein paar Devisen zu fast allem bereit waren.

Es war mitten in den »Roaring Twenties«, im Alkazar-Varieté lupften die Mädchen endlich ihre allerletzten Gazeschleier, da stieß die Polizei erstmals auf die Spur des organisierten Drogenhandels. 114 Kilo Heroin wurden sichergestellt, versteckt in Grabsteinen. St. Pauli stieg nach dem Urteil zeitgenössischer Kriminalisten auf zum größten Verbrecherzentrum Europas nach dem Londoner Viertel Whitechapel.

Die Meile der mobilen Moral war das ideale Exerzierfeld für die Nazis. Der »Kampf unserer Polizei gegen die öffentliche Unsittlichkeit« ("Hamburger Tagblatt") begann schon 1933 mit der »Inschutzhaftnahme« von mehr als 1500 Prostituierten. Mit dem Gesetz gegen »gefährliche Gewohnheitsverbrecher« bedrohte die Justiz Kleinkriminelle mit der Todesstrafe. Homosexuelle kamen wegen »Widernatürlichkeit« in Konzentrationslager. Dort landeten auch Hunderte von Bettlern und Obdachlosen, die Opfer der »Aktion Arbeitsscheu« wurden. Und an der Stelle der America-Bar entstand eine Badeanstalt.

Doch selbst im harten Griff der Nazis dudelte es noch ein bißchen auf der Reeperbahn. In Hinterzimmern gab es den verbotenen Swing zu hören. Nazi-Offiziere, so hieß es, hätten sich für die Duldung eingesetzt, einige tanzten ja mit.

Am 25. Juli 1943 war es auch mit diesem letzten Rest von doppelter Moral vorbei. Die alliierte »Operation Gomorrha« legte Teile St. Paulis in Trümmer. Im Hagel von 9000 Tonnen Bomben aus 3000 Flugzeugen starben 31 647 Hamburger.

Ende mit Schrecken? Immer noch nicht. Noch 1944 drehte Helmut Käutner den Kiezfilm »Große Freiheit Nr. 7«, der das Lied »Auf der Reeperbahn nachts um halb eins« so berühmt wie dessen Interpreten Hans Albers machte. Weil die Original-Location in Trümmern lag, drehte Käutner einige Szenen im besetzten Prag.

Aus den Trümmern des Nachkriegs-St. Pauli entwickelte sich der Zeitgeist der neuen Republik. Freddy Quinn löste 1952 mit ersten Auftritten auf der Reeperbahn eine Schmalzwelle aus, die das ganze Land verklebte. Im Star-Club debütierten für ein paar Mark 1962 die Beatles, als sie noch keiner kannte. 1968 wurde mit dem »Grünspan« ein Tempel der psychedelischen Musik eröffnet, der alsbald zum Handelsplatz für die Modedrogen Haschisch und LSD wurde.

Nirgendwo im Lande ließ sich so trefflich wie in St. Pauli studieren, wie verklemmt der Nachkriegsstaat auf die sexuelle Revolution der siebziger Jahre reagierte. Regelmäßig zogen Trupps von Ordnungshütern durch die Lokale, um unzüchtige Mädchenbilder von den Wänden zu picken. Der Versuch der säuerlichen Obrigkeit, fast ganz St. Pauli zum Sperrgebiet zu erklären, scheiterte an den nackten Realitäten. Auf der Bühne des »Salambo« kopulierten erstmals Paare bei Musikbegleitung.

Die Libertinage war jedoch bald zu Ende. Mehr noch als die Obrigkeit ruinierte die Unterwelt die Große Freiheit. Heroin und Kokain kamen über St. Pauli, in den achtziger Jahren deckte die Polizei Verbindungen zwischen einheimischen Gangstern und der US-amerikanischen Mafia auf.

Aber die Hintermänner vom Kiez haben die Vorstadt längst verlassen. Manche residieren in feinen Elbvillen. Die Unterwelt von St. Pauli hat den Sprung in die Hamburger Oberwelt geschafft.

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