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ENGLAND / GEFÄNGNISSE Mit beschränkter Haftung

aus DER SPIEGEL 45/1966

In Englands Häfen brachen Scotland -Yard-Detektive letzte Woche Heringsfässer und Kisten auf. Sie stöberten nach dem entflohenen Meisterspion George Blake, 44, der - so hatten Polizeispitzel gemeldet - in hölzerner Verschalung Englands Insel verlassen wollte.

Am regnerischen Samstagabend hatte sich Blake (siehe Seite 151) über die sechs Meter hohe Mauer des mitten in London gelegenen Wormwood-Scrubs -Gefängnisses geschwungen und war im Großstadtgewimmel untergetaucht. Er galt als der gefährlichste britische Sowjet-Spion und war deshalb 1961 zur längsten Freiheitsstrafe der englischen Kriminalgeschichte verurteilt worden: zu 42 Jahren.

Der abgängige Agent, der die Zellengitter mit einem noch nicht gefundenen schweren Schlagwerkzeug herausbrach, muß Helfer außerhalb des Gefängnisses gehabt haben: Nylonseile und Stricknadeln, die zu einer Leiter verknüpft waren, stammten nicht aus Anstaltsbeständen.

Weiteres Indiz: Ein Blumentopf mit rosa Chrysanthemen wurde an der Mauer gefunden. Blakes Fluchthelfer hatten sich vermutlich damit getarnt - als Besucher des nahen Hammersmith -Hospitals.

Ohne Blumen, jedoch so zielstrebig wie Blake, enteilten seit Anfang des Jahres 537 Kriminelle dem staatlichen Gewahrsam - die meisten zwar aus offenen Anstalten, aber auch Mörder, Räuber und Sittlichkeitsverbrecher. 95 sind noch frei. Erst die Blake-Blamage machte die Regierung munter.

Innenminister Roy Jenkins setzte sogleich eine Untersuchungskommission unter Lord Mountbatten ein. Die Konservativen drohten dennoch mit einem Tadelsantrag, denn - so, empörte sich der Abgeordnete Duncan Sandys: »Wir sind es leid, immer von Ausbrüchen lesen zu müssen.«

Schon seit Jahren sind die englischen Gefängnisse und Zuchthäuser nur noch Haftanstalten mit beschränkter Haftung. Während vor dem Zweiten Weltkrieg durchschnittlich 15 Häftlingen je Jahr die Flucht gelang, stieg die Zahl der Ausreißer zwischen 1962 und 1965 von 249 auf 507.

Besonders glückhaft waren dieses Jahr Insassen des Wormwood-Scrubs -Gefängnisses. Im Februar entwischte ein Gewaltverbrecher. Im selben Monat bezog dort der Frauenschänder James O'Dea Zwangsquartier. Richter Edmund Davies hatte ihn mit den Worten »Sie ein Tier zu nennen, wäre eine Beleidigung für die Tiere« zu sechs Jahren verurteilt.

O'Dea aß nicht einmal sechs Monate aus dem Blechnapf. Im Juni stieg er aus und nahm gleich drei Knast-Kollegen (Delikt: räuberischer Überfall) mit. Sie hangelten sich an einem aus Sackleinwand gewundenen Seil über die Mauer. Das Kletterseil hatten sie mit Haken verankert, die sie in der Gefängnis-Werkstatt zurechtgeklopft hatten. Wormwood-Direktor Leslie Newcombe, 64, mußte sich nicht allein grämen. In den ersten Juni-Tagen

- entwischten drei Frauen, eine davon eine Mörderin, durch ein Loch im Zaun des Styal-Gefängnisses in Cheshire;

- entflohen zwei Kapitalverbrecher

aus dem Walton-Gefängnis in Liverpool; sie hatten mit Geduld und einem Nagel den Mörtel zwischen den Backsteinen herausgekratzt und so die Zellenmauer durchbrochen.

Innenminister Jenkins war ratlos: »Es gibt keine vernünftige Erklärung.« Jetzt muß er sich sagen lassen, daß es sogar mehrere gibt.

England hat zuwenig Häftlings-Hüter; der vielverlachten Schließgesellschaft fehlen minimal 500 Mann. Zudem sind die meisten englischen Gefängnisse alt und altmodisch - Relikte aus der Viktorianischen Ära. Ebenso alt ist die englische Abneigung, Staatsbürger im Gefängnis durch, bewaffnete Mauer-Posten bewachen zu lassen. Nachts werden die Mauern nicht einmal mit Scheinwerfern ausgeleuchtet.

Der moderne, liberale Strafvollzug in alten Mauern wiederum beflügelt den Drang nach draußen. Kleine Kriminelle werden in offenen Anstalten aufbewahrt, aber auch die schweren Jungs in geschlossenen Häusern dürfen häufig Besuche empfangen und sich mit Zellen -Nachbarn treffen - alles Gelegenheiten zur Konspiration.

Im Juli 1965 tauchte eine vermummte Gestalt auf der Mauer des Wandsworth-Gefängnisses auf und entführte Englands kapitalsten Kriminellen, den Postzugräuber-Ronald Biggs, per Lieferwagen in die Freiheit. Einen Monat später entsprang Posträuber Wilson.

Die sitzengebliebenen Bandenmitglieder mußten daraufhin ins Parkhurst-Gefängnis übersiedeln. Dort riegeln zwei Mauern den Komplex ab, in dem die Posträuber heute Postsäcke nähen. Ein TV-System überwacht sie Tag und Nacht.

Um den höchstbestraften Meisterspion Blake hingegen machten sich die Gefängnishüter die geringsten Sorgen. Der Musterhäftling hatte es sich im Knast bequem gemacht: Ein echter Buchara-Teppich und eine 100-Bände -Bibliothek zierten seine Zelle. Wenn er Besucher empfing, servierten die Wärter köstlichen Tee.

The Times, London

»Ich verurteile Sie, so lange im Gefängnis zu sitzen, bis Ihnen der Ausbruch glückt«

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