»MIT DEM TÖTEN IN NÄHEREM VERHÄLTNIS«
Am 17. Januar 1955 wurde Hans Hetzel, heute 40 Jahre alt, vom Schwurgericht in Offenburg wegen Mordes zu lebenslänglichem Zuchthaus verurteilt. Hetzel wurde für schuldig befunden, die Magdalena Gierth, 25; die er als Anhalterin in seinem Wagen mitgenommen hatte,in der Nacht vom 1. auf den 2. September 1953 »aus Geschlechtslust« getötet zu haben.
Hetzel, so das Schwurgericht, ermordete Frau Gierth, die sich zunächst freiwillig entkleidet und mit ihm in die Büsche geschlagen hatte, als sie sich einer besonderen, von ihm gewünschten Art des Verkehrs widersetzte. Die Einlassung Hetzels, die Frau sei ihm, mitten im nicht nur von ihm mit größter Heftigkeit betriebenen Vergnügen, zusammengesackt, wurde vom Schwurgericht nicht akzeptiert.
Es kam sogar mit Hilfe des Gerichtsmediziners Professor Ponsold, Münster, zu der Erkenntnis, Frau Gierth sei erdrosselt worden. Und zwar mit »einem Strick von der Art eines Kälberstricks« oder einem ähnlichen Gebilde.
Die Revision wurde verworfen, zwei Wiederaufnahmeanträge scheiterten. Die Achtung vor dem Richteramt sträubt sich aufzubegehren. Doch der Fall Hetzel ist ein Skandal. Denn wenn es für den krassen Irrtum, der zur Verurteilung eines absolut unschuldigen Mannes führt, immerhin noch Erklärungen geben mag, die den Gesamtbefund »Tragödie« erlauben: Das unbedingte Festhalten am Urteil gegen Hetzel, das immer tiefer in Strudel der
Sorge und des Zweifels geriet, seit es gefällt wurde, ist unentschuldbar. In Offenburg und Karlsruhe, wo über Hetzels Wiederaufnahmeanträge beraten wurde, scheinen Richter entschlossen, in dieser Sache das Exempel einer richterlichen Unabhängigkeit zu demonstrieren
vor der man zittern muß.
Hans Hetzel war bis zu dem Tag, an dem er Frau Gierth im Auto mitnahm, kein Lamm. Der gelernte Metzger hatte in seinem Leben vieles versucht, überall Schiffbruch erlitten und war verschuldet. Er war wahllos hinter Frauen her gewesen, ein gelegentlich roher Klotz von 1,83 Größe. Vor dem Gesetz hatte er keine sonderliche Scheu. Hetzel war mehrmals verurteilt worden.
Sadismus jedoch war ihm noch nicht vorgeworfen worden. Es sei denn, man mag aus folgendem auf Lust am Leidenlassen schließen: Am 7. Oktober 1941 hat Hetzel, 15 Jahre alt damals, im Schlachthof von Offenburg eine zum Töten gebrachte Katze durch zwei Schläge auf den Kopf getötet, »anstatt den elektrischen Apparat zu benutzen«. Der Metzgerlehrling Hetzel wurde deswegen zu einem Wochenendkarzer verurteilt.
In den Urteilsgründen hieß es damals, Hetzel habe zugegeben, das Töten der Katze habe ihm Spaß gemacht. Belehrungen des Richters habe er lächelnd entgegengenommen. Im Urteil 1955 sieht das so aus: »Bedenklich ist jedoch, daß ihm im Jahre 1941 das Töten einer Katze Spaß gemacht und daß er die richterliche Belehrung mit Lächeln entgegengenommen hatte.« Auch wird angeführt, daß Hetzel im Alter von zwei Jahren einigen Küken den Kopf mit der Beißzange abgezwickt haben soll. Das Schwurgericht ließ »den Vorgang« allerdings »außer Betracht«. Denn Hetzels Mutter bestätigte ihn nicht.
Ein für den Bürgersinn mit Recht unsympathischer Bursche, ein mit Klecksen und Kritzelei gefülltes Blatt. Das alles ist einzuräumen. Doch die Brückenschläge zum angenommenen Mord hinüber, über die (mit dem »Blutrührstock") getötete Katze und die zwar »außer Betracht« gelassenen, aber dennoch angeführten Küken: fatal.
Derartige Versuche des Schwurgerichts, sich ein Bild von Hetzel zu machen, könnten übergangen werden, wenn sie nicht vor einem Hintergrund zu sehen wären. Das Phantom Autobahnmörder ging 1955 um. Hetzel war zeitweise Fernfahrer gewesen. Er hatte die Leiche der Frau Gierth an einem Straßenstück niedergelegt, an dem früher zwei unbekleidete weibliche Leichen gefunden worden waren.
Heute wissen wir: Hetzel hat mit diesen beiden Leichen nichts zu tun gehabt. Und er ist auch nicht der Autobahnmörder gewesen. 1955 jedoch lastete auf Hetzel ein Verdacht, der noch viel größer war als die Anklage. Dergleichen findet so gut wie nie seinen Ausdruck im Urteil. Derartiges ist so gut wie nie für Revisionsbegehren und Wiederaufnahmeantrag zu fassen.
Im Fall Hetzel gibt es jedoch Indizien. Der Antrag der Verteidigung, den Medizinalrat Dr. Braun als Sachverständigen wegen Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, hatte 1955 in der Verhandlung Erfolg. Doch durch die Akten der Jahre 1953 und 1954 ziehen sich Dr. Brauns Äußerungen als ein triefender Faden: »Hetzel steht mit dem Töten in näherem Verhältnis.«
Wenige Tage nach der Verurteilung Hetzels äußerte sich Dr. Braun im »Offenburger Tageblatt": »Hetzel ist ein Sadist ... Im Hintergrund schlummert bei ihm die Bestie, die das Opfer verschlingt, wenn es willfährig geworden ist. Aus diesem Wesen ist mit Recht zu folgern, daß noch mehrere ähnliche nicht aufgedeckte scheußliche Taten Hetzels Werk sind.«
Die Ablehnung war zu spät gekommen. Dr. Braun hatte den Kampf gegen die Ärzte, die Frau Gierths Leiche obduziert hatten, schon längst gewonnen. Nach Meinung der Obduzenten waren die Verletzungen an der Leiche Frau Gierths ohne strafrechtlichen Vorwurf zu erklären. Doch Dr. Braun hatte mit Schriftsätzen, die stellenweise eine unflätige Parodie auf die Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität darstellten, die Ermittlungen entscheidend beeinflußt. Auf sein Betreiben wurde Professor Ponsold als Gutachter hinzugezogen. Als Gutachter über Papier wohlgemerkt: denn die Leiche gab es nicht mehr, auch keine Präparate. Nachdem die Obduzenten keinen Befund für Mord erhoben hatten, war die Leiche freigegeben worden.
Der Verteidigung unterlief in der Verhandlung ein Kunstfehler. Sie beantragte zwar die Ladung eines weiteren Gutachters, als Professor Ponsold überraschend zu Resultaten kam, die für Hetzel vernichtend waren; als plötzlich vom »Kälberstrick« die Rede war, dessen Marken Professor Ponsold als erster und einziger entdeckte. Doch 1955, vor dem Fall Rohrbach, war der Sachverständige noch eine heilige Kuh. So konnte es im Urteil heißen:
»Die Verteidigung hatte zwar die Erhebung eines Obergutachtens beantragt. Zur Begründung dieses Antrages hatte sie aber nur angeführt, daß im Hinblick auf die Schwere der Verantwortung die Sicherung der Beweisgrundlage durch ein weiteres Gutachten sich empfehle ... Der Antrag wurde deshalb als unbegründet abgelehnt.«
Der Verteidigung des Jahres 1955 ist kein Vorwurf zu machen. Eher wäre da der Mut des Professors Ponsold zu rühmen, der erklärte, »daß er seiner Begutachtung sicher sei und keiner weiteren Hilfe, etwa durch einen anderen Sachverständigen, bedürfe«. Von der Callas ist natürlich nie die Antwort zu erwarten, daß sie eine Partie nur unter Mitwirkung der Tebaldi singen kann. Doch wenn sich ein anerkannter Wissenschaftler derart erklärt, dann war das 1955 ein Wort.
Es mußte jedoch auch ein Wort sein, was 1961/62 die Professoren Laves, München, und Breitenecker, Wien, beide gleichfalls Lehrstuhlinhaber für Gerichtsmedizin, im ersten Wiederaufnahmeantrag vorbrachten. Breitenecker: »Ein Lustmord ist medizinisch nicht erwiesen. Wohl aber ein Sexualakt mit tödlichem Ausgang, nach vorherigem Brechen des Widerstandes durch Schläge und Würgen. Ein tödliches Würgen kann nach der Aktenlage nicht mit der für das Strafgericht notwendigen Sicherheit behauptet werden ...«
Professor Laves: »Der Verurteilte hat ... angegeben, es sei zu irgendeinem Zeitpunkt während des abnormen Verkehrs zu einem plötzlichen Zusammensinken und Aufhören der Herztätigkeit bei Frau Gierth gekommen. Diese Verantwortung ist ... äußerst wahrscheinlich ... Ein derartiger Ablauf war für den Täter in dieser Art jedoch nicht vorhersehbar.«
Der Wiederaufnahmeantrag wurde abgelehnt. Bitte: Zwei Sachverständige, deren Gutachten in unzähligen Prozessen die Urteile der Gerichte stützten, bringen massive Kritik am mündlichen Gutachten eines gleichrangigen Kollegen vor. Darüber müßte doch diskutiert werden, da kann man sich doch nicht hinter starrer Auslegung des Begriffes »neue Tatsachen« verschanzen, der Bedingung des Gesetzgebers für die Wiederaufnahme ist. Doch der Antrag wurde verworfen.
Man verweigerte ihm sogar die Zulässigkeit. Ein für zulässig erkannter Wiederaufnahmeantrag ist noch lange nicht am Ziel. Zulässig: Das bedeutet nur, daß sich das Gericht direkt mit dem befassen wird, was der Antrag an Beweisen, Zeugen und Sachverständigen vorträgt. Doch nicht einmal dazu war man 1962 bereit. Und dazu konnte man sich auch nicht entschließen, als es jetzt um den zweiten Antrag ging.
Wie 1962 befand man, keiner der angebotenen Sachverständigen verfüge über Forschungsmittel, die denen des Professors Ponsold überlegen sind. Schon 1962 hatte Professor Breitenecker gebeten, das Gericht möge Ponsold und seine Kontrahenten einmal gemeinsam hören. Er drückte die Überzeugung aus, »daß eine fachliche Aussprache mit den Vorgutachtern in Gegenwart der Gerichtsbehörden zu einer fibereinstimmung der bisher gegenteiligen Auffassungen führen werde«.
Ponsold äußerte sich 1955 über eine Leiche, die er nicht gesehen hatte. Er sprach über Papier und Lichtbilder. Er zog Schlüsse aus Antworten, die ihm die Obduzenten in der Verhandlung gaben. Wer so gutachten muß, ist dem Irrtum ausgesetzt. Den gilt es zu prüfen, sobald sich ernst zu nehmende Kritik regt; sobald gegensätzliche Meinungen laut werden, die zwar »nur« auf gleichwertigen Forschungsmitteln, aber auch auf denselben bruchstückhaften Unterlagen beruhen.
Ausgerechnet in Professor Ponsolds schriftlichem Gutachten, das seinem Auftritt in der Verhandlung voranging, ist zu lesen: »Wenn man sich, wie im vorliegenden Fall, nur auf von anderer Seite erhobene Befunde stützen muß, stehen der Begutachtung über die Todesursache ... erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Die beste Beschreibung und das beste Lichtbild vermögen die eigenen Beobachtungen nicht zu ersetzen.«
Der Gipfel ist, daß den nunmehr abgelehnten Antrag Gutachter stützten, nach deren Ansicht Professor Ponsold seinerzeit aus den ihm zur Verfügung stehenden Lichtbildern etwas herausgelesen hat - Drosselspuren nämlich -, was in den Lichtbildern gar nicht enthalten ist. Diese Sachverständigen sind samt und sonders Lehrstuhlinhaber. Ihre Fachgebiete sind Photogrammetrie, Experimentalphysik, Photochemie und wissenschaftliche Photographie. Doch nein: verworfen, ohne Gehör und ohne Diskussion.
Das Oberlandesgericht Karlsruhe hat, als es die Beschwerde gegen die zweite Ablehnung verwarf, einen Schlüssel zu den Entscheidungen gegen Hetzels Wiederaufnahmeanträge gegeben. Es erinnerte an die Notwendigkeit, ein rechtskräftig gewordenes Urteil zu schützen. Es zitierte aus einer Begründung des Oberlandesgerichts Köln, daß »neue Tatsachen sich leicht aufstellen und auch Zeugen ... sich finden (lassen), die sie bestätigen wollen, während es immer schwieriger wird, in einer erneuerten Hauptverhandlung wiederum den Schuldbeweis zu führen, da bei größer werdendem zeitlichen Abstand von der Tat notwendige Beweise verlorengehen oder an Überzeugungskraft. verlieren«.
Dem kann man nur zustimmen. Doch wo wird im Fall Hetzel »neu aufgestellt?« Es liegen heute wie 1955 die gleichen, kargen Unterlagen über die Leiche der Frau Gierth vor. Der »zeitliche Abstand« konnte nichts verändern. Hier geht es nicht um eine Serviererin im Hahnhof zu München.
In Zukunft werden Wiederaufnahmeanträge Hetzels von einer Justiz noch leichter abzuwehren sein, die in solchen Anträgen Attentate sieht. Denn, was einmal nicht als »neue Tatsache« anerkannt wurde, ist verbraucht. Es gibt nur noch eine Chance für Hetzel: Professor Ponsold könnte sich als Wissenschaftler zu einer, zugegeben einmaligen Geste entschließen. Er könnte sich einem Gespräch mit den Kollegen stellen, die anderer Meinung sind als er. Danach wäre es dann allein an ihm, zu entscheiden, ob heute nicht doch kollegiale Hinweise vorliegen, die ihn 1955 zu einem anderen Gutachten veranlaßt hätten.
Der SPIEGEL erreicht allwöchentlich auch einen Mithäftling Hetzels in Bruchsal. In Heft 8/1966 waren die Seiten mit dem ersten Bericht über den Fall Hetzel geschwärzt. Der Häftling beschwerte sich. Das Oberlandesgericht Stuttgart entschied für die Schwärzung: wegen der »einseitigen Art der Behandlung« des Falles Hetzel. Nun, wenn man den Fall Hetzel einseitig darstellen wollte ...
Verurteilter Hetzel
Belastet mit Küken und Katze
Hetzel-Gutachter Ponsold
Die Leiche nie gesehen