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Mit den Bomben leben

Von Rudolf Augstein
aus DER SPIEGEL 23/1975

Anarchie ist das Gegenteil von Herrschaft. So viele Unterschiede zwischen den Anarchisten aller Länder und Zeiten bestehen mögen, gemeinsam ist ihnen, nun nicht die Abwesenheit von Herrschaft, sondern das Streben, jedwede Herrschaft abzuschaffen. Denn wo Herrschaft ist, ist auch Knechtschaft. Oder, wenn man zynisch, und das heißt intelligent, argumentieren will: Wo Herrschaft ist, sitzt der Anarchist nicht an der Spitze.

Folgerichtig sieht der Volksmund, der ja auch Ohren hat, in einem Anarchisten nicht nur einen, der die bestehende Ordnung, sondern immer einen, der jedwede Ordnung abschaffen will. Mit Grund. Auch der grausamste Unterdrücker garantiert, so er nicht selbst ein Anarchist ist wie der Cäsar Caligula, ein Stück Ordnung. Auch der holdseligste Befreier bringt, ob er das nun weiß oder nicht, ein Stück Unordnung.

Ordnung beruht auf dem Glauben, daß Herrschaft (gleich Knechtschaft) sein muß. Der Anarchist aber sieht in der Ordnung ein nicht einmal dürftig getarntes Mittel der Herrschaftstyrannei. Der Ordnungsliebende, siehe Goethe, will lieber eine Ungerechtigkeit als eine Gesetzlosigkeit in Kauf nehmen, vorzüglich, wenn er sicher sein kann, daß die Ungerechtigkeit ihn nicht trifft.

Früher, als Henry Kissinger noch lebte, galt es lediglich, Ordnung in einem Bezugssystem von Staaten zu schaffen, sei es zwischen Castlereaghs England und Metternichs Österreich, sei es zwischen Nixons Amerika und Breschnews Rußland. Schöne Zeiten waren das. Heute klagen die Führer der USA ihre eigene Bevölkerung dafür an, daß die Weltordnung in Stücke gebrochen ist. Nie hätte der Riese Amerika vor dem Zwerg Vietnam in die Knie gehen müssen, wäre ihm der Gebrauch all seiner Glieder verstattet gewesen. Und die Regierenden der Bundesrepublik verkünden zuerst mit Aplomb, das Leben eines Menschen. zufällig eines Politikers, sei jedes Opfer wert, und dann, acht Wochen später, kein entführter Politiker werde künftig noch ausgetauscht.

Angesichts solcher Bandbreiten an Unsicherheit macht es sich vor den Wählern gut, wenn man, wie in Stockholm, gar nicht anders kann, als mit einem »Jetzt reicht's« auf den Tisch zu schlagen. Oder man schlägt, wie Präsident Ford gegen Kambodscha, auf jeden Fall erst einmal zu, auch wenn man mehr die vergangene Niederlage als die gegenwärtige Herausforderung meint. Je komplizierter die Unordnung, desto eher empfiehlt sich die drohende Gebärde; sie beeindruckt nicht den Feind, dem sie zugedacht ist, wohl aber die verunsicherten Wähler.

Gegen Nordvietnam konnte man seine Glieder. lies Atomwaffen, nicht einsetzen, weil man sich alsbald mit China im Krieg befunden hätte. Das war nicht komplizierter als in Sarajewo, nur sind die Waffen mörderischer (Waffen übrigens, die sich demnächst in den Händen antistaatlicher Gruppen wiederfinden könnten). Aber warum wird die Bundesrepublik mit ihren Anarchisten nicht fertig?

Viele meinen, ein voll aufgefächerter Terror würde genügen ("hinhauen"), so wie die Bewegung der Black Panthers in den USA wortwörtlich bei Nacht zusammengeschossen worden ist. Auch in den kommunistischen Einheitsstaaten gibt es kein Anarchisten-Problem.

Nur, wollen unsere Gesellschaften kommunistisch werden aus dem einen Grund -- es mag ja andere geben -- , daß sie nicht der Anarchie verfallen? Offenkundig nicht. Dann aber darf man sich von einem individuellen Terror, der als individueller Gegenterror firmieren würde, nicht zuviel und noch besser nichts versprechen.

Jeder Terror verändert die Gesellschaft, auch der Notwehr-Terror. Wie der Baader-Meinhof-Terror die Gesellschaft der Bundesrepublik schon nennenswert, wenn auch noch nicht entscheidend verändert hat, so würde ein vom Staat verordneter Gegenterror sie vollends umkrempeln. Das wäre dann ein anderer Staat, ein anderes Gemeinwesen.

Schlimmer noch, Terror von oben ließe sich nicht auf eine Gruppe im Staat beschränken. Zwangsläufig würde er Terror von unten anfachen, Gewalt und Gegengewalt müßten einander hochschaukeln. Es scheint ja so, als hätten die Leute um Baader und Meinhof dies genau im Sinn, ob sie das nun wissen oder nicht: eben jene Zustände heraufzuführen, die ihren Kampf legitimieren könnten (gewisse Anrüche hinsichtlich der Person eines bundesrepublikanischen Parteiführers lassen sich hier nicht gänzlich fortwedeln). Eines allerdings ist richtig, jede auf

Ordnung bedachte und rechtsstaatlich verfaßte Gesellschaft wird eher den Rechtsstaat opfern als den Terroristen nachgeben, soweit reicht der Reflex purer Selbsterhaltung allemal. Man denke nur, daß Diether Posser. der den SPIEGEL-Verhafteten 1962 als Strafverteidiger von Kommunisten ein Sicherheitsrisiko zu sein schien, derzeit die Straffreiheit für Helfer der Anklage verficht. Aber den Terroristen nachgeben und sie mit Terror überziehen ist zweierlei. Noch sind wir nicht am Ende unseres Alphabets. Noch dürfen wir abwägen, wie wir uns gegen die Terror-Anarchisten zu wehren haben.

Nachgeben kann man ihnen schon darum nicht, weil sie uns gar keine Ordnung, auch keine kommunistische oder sozialistische, anzubieten haben. Sie sind Sektierer, vom manichäischen Wahn einer bösen und einer guten Welt beseelt, sind von der Gewalt, die sie anderen antun und die ihnen angetan wird, berauscht, ja bezaubert. Aber wenn wir ihnen nicht nachgeben, dürfen wir uns doch fragen, wie es kommt, daß eine weltweite Kumpanei antikapitalistischer und in diesem Verstand »linker« Anarchisten jenen internationalen Zusammenhalt gewährleistet, ohne den die nationalen Gruppen sich isoliert und verloren fühlen müßten.

Weltweit ist die Kumpanei, sie macht nur notgedrungen halt vor den kommunistischen Gesellschaften, die sich gegen sie zu schützen wissen. Japaner morden in Israels Flughafen Lod; die Leute um Baader und Meinhof haben bei Palästinensern gelernt und werden nach Südjemen ausgeflogen; ein Kommando, das sich auf Ulrike Meinhof beruft, droht dem französischen Justizminister.

Der Anarchist Ulrich Schmücker, ehe

seine Kumpane ihn als Verräter »hinrichteten«, wurde mit dem Versprechen eingelullt, er könne sich bei den Terroristen Nordirlands bewähren. Unsere Innenminister hinwiederum geben Alarm, wenn zwanzig Japaner auf dem Flug in die Bundesrepublik gemeldet werden. Warum gibt es so absonderliche Verbindungen wie die zwischen deutschen und japanischen Terroristen, zwischen japanischen Antikapitalisten und arabischen Antizionisten?

Was bringt einen Jean Amery dazu. der hungerstreikenden Ulrike Meinhof die Fortsetzung des Streiks zu empfehlen? Was einen Rudi Dutschke, am Grabe des verhungerten Terroristen Holger Meins zu rufen: »Holger, der Kampf geht weiter!«

Welcher Kampf? Wir können nicht außer acht lassen, daß von den nur vier Angeklagten des Mammutverfahrens in Stuttgart-Stammheim drei viele Jahre lang keinerlei kriminelle Neigung oder Begabung haben erkennen lassen. Ihr »Kampf« geht vordergründig gegen den amerikanisch inspirierten Kapitalismus. Aber den bekämpfen ja auch, jeder auf seine Weise, Mao und Breschnew und Castro. den postum siegreichen Onkel Ho nicht zu vergessen.

Warum organisierter Terror in dem am wenigsten anarchischen Land Bundesrepublik, das befriedet ist wie nur je. ohne nationale oder religiöse Leidenschaften, ohne soziale Abgründe? Wir können, dürfen, müssen mutmaßen. Auffällig ist ja, daß die Baader-Meinhof-Terroristen weniger die Gesellschaft um sich herum im Auge haben als ihre eigene Befindlichkeit. Sich von der Realität abzukapseln, macht ihnen offenkundig nichts aus. Es ist, als hätten sie Eldridge Cleavers Wort, damals auf die Schwarzen der USA und nicht so sehr auf die gesamte Menschheit gemünzt, voll inhaliert: »Wir werden Menschen sein, oder die Welt wird in Stücke fallen bei unserem Versuch. es zu werden.«

Als ob die Welt nicht gute Anstalten machte, auch ohne Eldridge Cleaver und Ulrike Meinhof in Stücke zu fallen! Die ins Auge gefaßte Menschwerdung kontrastiert seltsam zu der wachsenden Gefährdung der Menschheit, wie sie ist. So wäre denn der gewaltsame Anarchismus in Westdeutschland und West-Berlin Ausdruck einer kollektiv verdrängten Angst vor der Befindlichkeit heutiger Welt und Menschheit? Vielleicht.

Wie, wenn weltweit und jedenfalls in den hochtechnisierten Gesellschaften verlorengegangen wäre, was Erich Neumann, ein Schüler C. G. Jungs, »die Erfahrung von der Sympathie aller Dinge« nennt, die »Einheitswirklichkeit«? Wie, wenn das Gefühl, die menschliche Gesellschaft habe sich »übersteuert« (Arnold Gehlen) und taumele nun auf ihrem Planeten hilflos durch den Weltraum, in einerseits sensiblen und andererseits kriminell aufladbaren Naturen explodierte?

Kriminalität findet nicht mehr statt. wenn die Regeln des Zusammenlebens als Terror der Mächtigen durchschaut worden sind. Es ist ja nicht mehr so wie noch vor dreißig Jahren, und erst recht nicht wie im 19. Jahrhundert, als man keine Skrupel hatte, die Zukunft der Erdbevölkerung mit gesichertem Optimismus ins Auge zu fassen, sei es evolutionär oder revolutionär. Mag Pessimismus schädlich sein, Optimismus ist heute ruchlos. Noch ist nicht ausgemacht, daß wir die Menschheit durch ständiges Gegensteuern, also durch Reagieren allein, am Leben halten. Die Anarchie ergreift ganze Länder und ganze Biosysteme.

Geradezu dankbar schlürfen wir am

Strohhalm klassischer Konflikte in Nordirland und im Vorderen Orient. Irgendwann wird es hier, wie noch nach jeder bewaffneten Auseinandersetzung, Frieden geben. Namentlich in Gesellschaften mit Diskussionsfreiheit weist der Gegensatz zwischen Pose und Tun oft ins Lächerliche. Man stelle sich doch nur vor, daß Ford im Amt bleiben könnte, weil er die Kambodschaner gehauen, und Schmidt, weil er die im Falle Stockholm unerläßliche harte Entscheidung wirkungsvoll vertreten hat. Wo Anarchie sich ausbreitet. dies die Erwägung, entsteht ein Weltgefühl. das Anarchisten aus der Erde sprießen läßt.

Sie fördern die Anarchie, sind aber ihr Produkt, nicht ihre Urheber: Sensible und psychisch anfällige Sensoren, ganz sicher so sehr Opfer wie Täter, auch sie in Lücken angesiedelt, die der Erforscher von Fauna und Flora »ökologische Nischen« nennt.

Man kann diese Leute nicht bekämpfen, indem man trachtet, ihnen »den Wind aus den Segeln zu nehmen«. im eigenen Land also etwa Reformen durchführt; ganz abgesehen davon, daß sie zur allgemeinen Reformbereitschaft nicht gerade beisteuern. Sie wollen nicht wissen, was vor ihrer Tür geschieht. Sie nehmen wahr, was in Vietnam, Brasilien, in Südafrika und in den Zuchthäusern der USA passiert. Sie sind von einem Weltgefühl erfaßt und auf Weltrevolution aus, darunter tun sie"s nicht.

Wer diese Leute nach ihren Zielen und Erfolgsaussichten fragen wollte. würde Wasser mit einem Sieb schöpfen. Biblisch gesprochen sind sie auf Endzeit eingestimmt, auf Schrecken und Untergang, aus denen irgendein Weltenheiland -- das »Volk« oder immer noch das »Proletariat« -- triumphierend hervorgehen und das Reich der Freiheit einläuten soll (christliche Pfarrer sollten sich im verbalen Umgang mit den Terroristen bedeckt halten).

Der Untergangsprophet predigt und redet den Untergang herbei. Manchmal hat er noch zu seinen Lebzeiten recht, wie der Prophet Jeremias, und jedenfalls irgendwann nach seinem Tode. »Aus der Welt werden wir nicht fallen«, heißt es bei Grabbe, »wir sind einmal darin.« Es sind aber inzwischen Menschen leibhaftig aus der Welt gefallen.

Eugène Ionesco drückt das neue, das ganz andere Weltgefühl aus, und zwar so: »Es gibt keine »menschliche« Existenz in der natürlichen Welt. Soziale und biologische Existenz ist nicht genug für den Menschen.« Des Menschen Streben sei religiös und metaphysisch, und da es sich nicht erfüllen werde, »gehen die Menschen im Kreis, wie in einem teuflischen Käfig, und töten sich gegenseitig«.

Man muß schon ein Konfektionsdenker sein wie Matthias Walden, um zur Eröffnung des ersten großen Anarchisten-Prozesses in Deutschland die Angeklagten für gemeine Verbrecher zu erklären. Sogar sein Gesinnungsfreund Helmut Schelsky, auch nicht gerade ein Ausbund an Originalität, hält solch simple Einschätzung für eine unangebrachte Selbstberuhigung, für legalistische Blindheit.

Natürlich, schreibt Schelsky. seien diese Gewalttäter nicht »einfache Kriminelle« (er sagt das, weil der Staat sich nicht damit begnügen dürfe, nur die Gewalttäter zu unterdrücken; Böll, Mitscherlich und ein vergleichsweise harmloser Mensch wie ich sollen offenbar auch dran glauben). Vielmehr, die Baader-Meinhof-Leute wollten das rechtsstaatlich politische Normgefüge zugunsten einer heilsorientierten Prophetenherrschaft beseitigen.

Keine Frage. Ulrike Meinhof ist eine Priesterin der Gewalt (Schelskys Idiosynkrasie liegt nur darin, daß er auch Mitscherlich, Böll und Gaus in einem Aufwaschen zu Exponenten der Priesterherrschaft erhöht). Wie der Jerusalemer Tempel den Priestern des Klosters Qumran als zerstörenswertes Bild einer verderbten Welt erschien, so sah Gudrun Ensslin in dem von ihr angezündeten Kaufhaus das Sinnbild des Konsumkapitalismus; gäbe es nur noch den HO-Laden, würden diese ansehnlich ausgestatteten Frauen hinter ihrem Kaufhaus herweinen, wie seinerzeit die nicht orthodoxen, die tempelfeindlichen Juden hinter dem von den Römern zerstörten Heiligtum.

Die Endzeit des Kapitalismus vorauszusagen, das Reich der Freiheit und der Notwendigkeit zugleich aus den Wirren der Endzeit hervorgehen zu sehen, das ist nicht neu. Ernst Bloch. der wortmächtigste aller messianischen Propheten des Marxismus, hat die Formel gefunden »ubi Lenin, ibi Jerusalem«. Wo die deutschen Philosophen von Rang an das »Proletariat« als den neuen Weltenheiland nicht (mehr) glauben mögen, schaffen sie sich einen neuen, wie Herbert Marcuse ("Substrat der Geächteten"), oder, wie Schelsky, einen falschen, einen Lügenmessias. Oder sie besinnen sich -- doch wohl angesichts trostloser Weltlage? -auf einen rettenden Gott, so Heidegger und selbst Wittgenstein. Für unwiderruflich verderbt hielten Horkheimer und Adorno die moderne Industriegesellschaft. Einen rettenden Messias erwarteten sie in jüngeren Jahren von nirgendwo, und als sie älter wurden aus den Wolken des Himmels.

Ob gewaltlose oder gewalttätige Prophetie, ob heilsorientierte Herrschaft mit oder ohne Bomben, mit oder ohne Entführungen: Klar ist, daß die Propheten und Heilskünder und Sinngeber uns so wenig wie die Priester sagen können, was wir zu tun haben. Die komplexe Welt läßt nur Teil- und Viertellösungen, ja sie läßt nur Lösungen zu, die sich eines Tages als falsch herausstellen müssen.

Eine Weltbehörde mit diktatorischen Vollmachten, die alle wissenschaftlichen Daten vergleichen, gewichten und in einen gigantischen Steuerungsmechanismus einfüttern könnte, scheint gar nicht vorstellbar. Darum werden wir mit der Anarchie und gegen sie leben müssen. Nicht die Anarchisten schaffen die Anarchie; vielmehr die Anarchie schafft Anarchisten.

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