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ENTWICKLUNGSHILFE / AFRIKA Mit der Gießkanne

aus DER SPIEGEL 49/1964

Entwicklungshilfe als Dauerzustand ist ein Widerspruch in sich selbst. Sie ist Hilfe zur Selbsthilfe und verlangt nach einer angemessenen Zeit ein angemessenes Ergebnis.

Eugen Gerstenmanier

Über Schienen mit dem verwitterten Walzzeichen »Krupp 1908« klappern kaiserlich deutsche Güterwagen von Rost und Termiten zerfressen.

Die seit Jahrzehnten schrottreifen Vehikel gehören zum Eisenbahn-Inventar der westafrikanischen Republik Togo wie auch das Maschinenarsenal aus Wilhelminischer Kolonialzeit, mit dem sie immer noch einmal flottgemacht werden.

An der Flickarbeit ist seit drei Jahren die Bundesrepublik mit Bundesbahnern und einigen neuen Maschinen beteiligt. Die Beamten verwalten ihr afrikanisches Eisenbahnmuseum mit einer Mischung von Stolz auf die schier unverwüstliche teutonische Wertarbeit und Verzweiflung über den trostlosen Betrieb.

Während schwarze Arbeiter aus einer Waggonruine - es ist der Salonwagen des letzten deutschen Togo-Gouverneurs, Herzog Adolf Friedrich zu Mecklenburg - das verrottete Parkett entfernen, klagt Bundesbahnoberrat Walter Moritz: »Nach unserer deutschen Betriebsvorschrift

dürften wir hier keinen Zug mehr fahren lassen.«

Es ist ein Akt der Bonner Entwicklungshilfe, die Zuge dennoch fahren zu lassen. Er hat bis heute zweieinhalb Millionen Mark gekostet und ist eher eine Sterbehilfe, denn die Bahn wird voraussichtlich in wenigen Jahren ihren Betrieb ohnehin einstellen.

Die Helfer in Togo sind Symbol der allumfassenden Hilfswilligkeit, die Westdeutschland jedem der 30 Staaten des schwarzen Afrika südlich der Sahara angedient hat. Über Busch, Steppe und tropischen Urwald tröpfelt die Bonner Gießkanne ihren Geldsegen, niemand wird vergessen, wenig wird erreicht.

Bisher hat die Bundesregierung den unabhängigen Ländern Schwarzafrikas 1,17 Milliarden Mark als direkte Hilfe fest zugesagt oder bereits ausgezahlt Davon sind 921 Millionen Mark Kapitalhilfe, das heißt Kredite zu günstigen Zinssätzen zwischen zweieinhalb und fünfeinhalb Prozent mit Laufzeiten bis zu 20 Jahren. Das Empfängerland unterschreibt jeweils Wechsel über die gesamte Kreditsumme, mit denen, so hofft Bonn, die Rückzahlung gesichert ist.

Rund 233 Millionen Mark bekamen die schwarzen Afrikaner als Geschenk in Form der sogenannten Technischen Hilfe. Dabei bezahlt Westdeutschland den Einsatz von Experten und Ausrüstung, die bei Bahn oder Post, in Dörfern, Schlachthöfen oder Lehrlingswerkstätten, in Krankenhäusern, Gewerbeschulen oder auf Fischerbooten dem schwarzen Mann neue Fertigkeiten und moderne Methoden vermitteln sollen.

Überdies leistete Bonn eine Zubuße von 800 Millionen Mark zum Entwicklungsfonds der EWG, aus dem wiederum vorwiegend die Länder südlich der Sahara bedacht werden.

Die westdeutschen Zahlungen an andere internationale Hilfskassen wie etwa die Weltbank ungerechnet, hat Bonn bislang jedem der 175 Millionen Bürger Schwarzafrikas mehr als elf Mark zugeteilt. In allen übrigen Entwicklungsländern zusammen beträgt die deutsche Kopfquote weniger als sechs Mark (siehe Graphik Seite 48).

Das am reichlichsten bedachte Objekt westdeutscher Entwicklungshilfe ist aber zugleich das problematischste. Nirgends tritt das Mißverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Aufwand und Effekt so deutlich hervor.

Was sich die Bundesbürger unter Entwicklungshilfe

für Afrika vorstellen sollen, formuliert eine vom Bonner Entwicklungsministerium bearbeitete Schrift so: »Ähnlich wie nach dem Zweiten Weltkrieg die Marshallplanhilfe ... dient heute die Entwicklungshilfe beiden Seiten, den Gebenden und Nehmenden.«

Laut Heinrich Lübke sollen die jungen Staaten mit deutscher Unterstützung »ihre Produktivität und ihren Handel ausweiten und den allgemeinen Lebensstandard ihrer Bevölkerung verbessern«.

Entwicklungshilfe-Minister Walter Scheel. 45, hat sich das Ziel gesetzt, jedes Hilfsprojekt müsse »mit einem Höchstmaß an Wahrscheinlichkeit dem Entwicklungsland den größten Nutzen bringen«, und alle Bonner Hilfsbeflissenen wiederholen bis zum Überdruß den Slogan »Hilfe zur Selbsthilfe«. In der afrikanischen Realität jedoch klingen solche Leitsätze häufig hohl.

Im 600-Betten-Hospital der Togo -Hauptstadt Lomé beispielsweise behandelten schon während der französischen Mandatsherrschaft europäische Ärzte die Kranken; seitdem hat sich nur die Nationalität der Ärzte geändert: Früher waren es Franzosen, heute sind es Westdeutsche.

Schwarze Patienten pilgern von weither zu den Ordinationszimmern der sechs Mediziner und warten in zeitloser Geduld stunden- oder tagelang auf eine Untersuchung. Sie bringen oft ihre Familien mit, und in den überfüllten Krankensälen kampieren die Angehörigen auf dem Boden. Kinderarzt Dr. Schmidt: »Das hat auch sein Gutes, weil wir durch die Leute Pflegepersonal sparen.«

Auch dieser Samariterdienst, der mit bisher 2,6 Millionen Mark zu Buch steht, wird in Bonn unter Entwicklungshilfe geführt. Togolesische Mediziner mit Sorbonne-Diplomen ziehen derweil lukrative Privatpraxen der Krankenhaustätigkeit vor. Allein 15 von ihnen haben sich in Paris niedergelassen.

Afrikanische Praktikanten, die mit beträchtlichem Geldaufwand in der Bundesrepublik für technische Berufe ausgebildet worden sind, zeigen nach ihrer Rückkehr meist wenig Neigung zur Lohnarbeit. Statt in die Werkstatt zu gehen, warten sie auf einen Managerposten. Der arbeitsscheue, modisch gekleidete Heimkehrer, der ständig mit »I have been to Germany« aufschneidet, ist als »Been-To« bereits zur afrikanischen Witzfigur geworden.

Tatsächlich bietet Schwarzafrika für Fehlleistungen der Entwicklungshilfe ein besonders fruchtbares Feld. Der Dreiviertelkontinent ist in einem trostlosen Zustand. Ihm fehlen vorerst so gut wie alle Voraussetzungen, Hilfe in Entwicklung umzusetzen.

Ein wirres Mosaik von Staaten, getreues Abbild aller Zufälle der Kolonialgeschichte, ist zwischen den fünf arabischen Ländern und der Südafrikanischen Republik entstanden. Etliche der Neugründungen haben von vornherein kaum eine Chance: Zwerggebiete vom Umfang deutscher Bundesländer, wie Togo, Ruanda, Burundi oder Dahomey, Riesenareale wie Mali, Niger oder Tschad, die fünfmal so groß sind wie die Bundesrepublik, nur aus Wüste bestehen und keinen eigenen Zugang zur Küste haben.

Nennenswerte Rohstofflager, die als Grundlage für Exportindustrien dienen könnten, sind bisher nur in wenigen der schwarzen Länder entdeckt worden. Die meisten sind mithin auf landwirtschaftliche Produktion angewiesen, aber von den 20 Millionen Quadratkilometern Sub-Sahara-Afrikas sind nur etwa 30 Prozent landwirtschaftlich genutzt.

Allenfalls die Hälfte dieser Nutzfläche wirft Überschüsse ab, die sich auf dem Weltmarkt verkaufen lassen, denn das Produzieren von der Hand in den Mund ist immer noch Grundmodell afrikanischer Ökonomie.

Für die komplexen Aufgaben einer modernen Gesellschaft bringen Urwald -Afrikaner in der Regel nur das auf, was der deutsche Togo-Arzt Dr. Schmidt eine »Spiegelbild-Intelligenz« nennt: »Sie verrichten eine Sache perfekt, aber nicht zehn.«

Der Volkswagen-Repräsentant für Zentralafrika, Horst Entholt: »Wenn sie gelernt haben, daß man eine Schraube rechts herum anzieht, kommen sie nicht von allein darauf, daß man sie links herum löst.«

Mit der Geldwirtschaft westlichen Typs, mit Lohntüte, Erfolgsrechnung und Profit, ist die Mehrheit der schwarzen Afrikaner noch nie in Berührung gekommen. Die archaischen Sozialformen von Großfamilie und Stamm kennzeichnen heute noch die afrikanische Gesellschaft und damit das Bild der afrikanischen Staaten.

Jenseits hauptstädtischer Wolkenkratzer beginnt in der Regel die Steinzeit. Medizinmänner und »weise Frauen« genießen ungebrochenes Ansehen, selbst wenn ihnen nicht überall soviel offizielle Reverenz zuteil wird wie in Togo; dort führt sie das statistische Jahrbuch mit den deutschen Ärzten unter dem »professionellen« ärztlichen Personal auf.

Selbst in Nigeria, dem volkreichsten und fortschrittlichsten der schwarzen Staaten, melden die Zeitungen noch regelmäßig Fälle von Sklaverei.

Seit die Kolonialmächte abzogen, wüten im Busch wieder blutige Stammesfehden. Die Negerbevölkerung von Sansibar brachte Anfang dieses Jahres in einer Nacht mehrere tausend Araber um, die Bahutus in Ruanda erschlugen Tausende von Watussi. Fast in jedem Land terrorisieren streunende Banden weite Gebiete; so brachten es die Kondo in Uganda vergangenes Jahr auf 1400 Morde.

Es gibt weder einen schwarzen Mittelstand von Händlern, Handwerkern oder Farmern noch afrikanisches Privatkapital. Das Jahreseinkommen pro Kopf liegt in den Gebieten südlich der Sahara mit etwa 350 Mark weit unter dem was Nordafrikaner, Asiaten und Südamerikaner zur Verfügung haben.

Nur etwa jeder zehnte der 175 Millionen Schwarz-Afrikaner kann lesen, schreiben und rechnen, und davon zählt wieder nur ein Bruchteil zur qualifizierten, westlich geschulten Oberschicht. Vor allem aber: Diese verschwindend kleine Elite hat sich erst in jüngster Zeit gebildet, ihre Mitglieder haben erst selbst den Sprung aus der Steinzeit in die Gegenwart getan.

Kennzeichen dieser ersten Generation sind das pralle Selbstbewußtsein und die oft groteske Fehleinschätzung der eigenen Fähigkeiten. In den engen, von Arbeitslosen wimmelnden Straßen der nigerianischen Hauptstadt Lagos schaffen sich die Arrivierten im schwarzen Mercedes Platz, den Finger auf der Hupe. Aber unter afrikanischer Leitung brach alsbald das Hauptaggregat des Elektrizitätswerks von Lagos zusammen.

Die neuen Männer betreiben mit missionarischemn Eifer die »Afrikanisierung«, sie entfernen die Europäer aus Verwaltung und Wirtschaft. Zugleich aber träumen sie davon, sich im ersten Anlauf des europäischen Reichtums-Rezepts zu bemächtigen. »Afrika«, so schwärmt Guineas Präsident Sekou Toure, »wird die Epoche der Mechanisierung überspringen und gleich die Automation einführen.«

Als die schwarze Elite zur Kasse drängte, ließen wirtschaftliche und politische Notwendigkeiten Bonn kaum eine andere Wahl als zu zahlen.

»Das Entwicklungsland von heute ist der Kunde von morgen«, erläutert Franz Heinrich Ulrich, Vorstandsmitglied der Deutschen Bank und Aufsichtsratsvorsitzender der Deutschen Entwicklungsgesellschaft in Köln. Tatsächlich muß der westdeutschen Industrie daran gelegen sein, künftig ein größeres Stück des afrikanischen Marktes zu ergattern als bisher.

Sie lieferte im vergangenen Jahr nur für 998 Millionen Mark Waren, nicht einmal zwei Prozent der bundesdeutschen Ausfuhr, nach Schwarzafrika. Den Löwenanteil hatten nach wie vor die ehemaligen Kolonialmächte England und Frankreich mit Exporten von 5.5 und 2,53 Milliarden Mark.

In Schwarzafrika galt es jedoch nicht nur, einen Markt zu erschließen, sondern auch, das Chaos zu verhindern.

Der von Heinrich Lübke ausgerufene »Kampf gegen Hunger, Elend, Krankheit und Unwissenheit« richtet sich nicht zuletzt gegen das Gespenst einer politischen Balkanisierung, wie sie etwa im Kongo nach Abzug der Kolonialmacht einsetzte.

Der Zwang zur Hilfe erschien somit unausweichlich. Aber die hilfswilligen Bundesdeutschen waren für das Mammutunternehmen, einen derart rückständigen und politisch zerrissenen Kontinent wirksam zu unterstützen, nicht gerüstet. Ihnen fehlte sowohl ein Konzept als auch der notwendige Apparat.

So mangelt es in Westdeutschland an Fachleuten, die bereit sind, Karrieren für längere Zeit im Stich zu lassen und Ordnung in das Chaos afrikanischer Wünsche und Bedürfnisse zu bringen. »Die Knappheit an Experten«, urteilt Minister Scheel, »ist ein empfindlicher Engpaß.«

Wo sich Gutachter finden, führt ihre Tätigkeit nicht immer zu optimalen Ergebnissen. So kam der Nationalökonom Professor Erwin von Mann, 57, in Togo zu der Erkenntnis, dem Lande sei unter anderem mit der Übernahme der D-Mark-Währung zu helfen. Die ehemalige Staatssekretärin Gabriele Wülker aus Wuermelings Familienministerium erstellte für Togo eine Expertise über die ökonomischen Wirkungen der Vielweiberei.

Der CSU - Bundestagsabgeordnete Walter Althammer vermerkte nach einem Aufenthalt in Somalia: »Bloßes Herumreisen (der Experten) mit Besuchen bei Einheimischen mag zwar romantisch sein, ist aber der sichere Anfang des Mißerfolgs.«

Althammer fand auch, daß die Experten oft »einfach falsch eingesetzt waren«. So wurde der deutsche Arzt Dr. Hiehlke mit einer fahrbaren Röntgenstation nach Nordsomalia geschickt, um Reihenuntersuchungen auf Tuberkulose anzustellen. Er diagnostizierte eine hohe Zahl von Tb-Erkrankungen, aber es gab weit und breit kein Hospital, in das er die Kranken hätte einweisen können.

Dem nach Lomé entsandten Augenarzt Dr. Schlitter wurde erst an Ort und Stelle klar, wie beschränkt seine Wirkungsmöglichkeiten waren: Das Hospital verfügt weder über einen Hals -Nasen-Ohren-Spezialisten noch über einen Neurologen, und nur mit deren Unterstützung sind Diagnose und Behandlung von Augenkrankheiten voll möglich.

Generell beeinträchtigen Sprachschwierigkeiten und Unkenntnis exotischer Verhältnisse das Wirken deutscher Fachleute in Schwarzafrika. Sie können sich dabei nicht einmal immer auf die Unterstützung ihrer Kollegen aus den ehemaligen Kolonial-Mutterländern verlassen.

So hieß es in einem bundesdeutschen Diplomatenbericht aus Westafrika vom September dieses Jahres: »Jede Initiative zur (deutsch-französischen) Abstimmung von Projekten oder zur Zusammenarbeit wird häufig von französischer Seite hintertrieben, wenn nicht erstickt.«

Auch an konkreten Instruktionen aus Bonn fehlt es dem deutschen Expertenkorps. Der Erfahrungsbericht vermerkt: »Unsere Experten erscheinen zwar zum Teil auf der Botschaft. Sie haben aber im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen keine Befehle zum ständigen Kontakt, geschweige denn, wie jene, genaue Weisungen... Welche unserer Botschaften weiß schon von den deutschen Projekten im Nachbarland? Wenn überhaupt, so beruht diese Kenntnis auf Zufälligkeiten.«

Der Bericht folgert: »Was uns fehlt, ist ein innerdeutscher Plan. Man wurschtelt sich von Projekt zu Projekt durch, mal Ablehnung, mal Zustimmung.«

Das Durchwursteln ist nicht zuletzt eine Folge der verworrenen Bonner Kompetenzen. Walter Scheels Entwicklungsministerium entstand überhaupt erst nach der Bundestagswahl 1961. Es ist bis heute nicht die einzige und nicht einmal die ausschlaggebende Instanz Das Auswärtige Amt und das Wirtschaftsministerium haben ein permanentes Mitwirkungsrecht, dazu kommen von Fall zu Fall noch Fachressorts, wie etwa das Ernährungs- oder das Verkehrsministerium.

Im ganzen, so fand der Bundesrechnungshof im Auftrag des Bundestags heraus, widmen sich 15 Ministerien, 17 nachgeordnete Behörden und acht weitere Institute, wie beispielsweise die Bundesbank, mit insgesamt 231 Referaten und 992 Beamten der Entwicklungshilfe.

So muß sich die Scheel-Formel vom optimalen Entwicklungsnutzen mühsam neben zahlreichen anderen Maßstäben behaupten, an denen Bonn seine Hilfe mißt. Vor allem haben von jeher politische Ziele die Verteilung der Gelder entscheidend mitbestimmt.

Unter politischem Druck aus Washington hatte sich Bonn überhaupt erst zu einer finanziellen Anstrengung größeren Ausmaßes aufgerafft. Schon die Regierung Eisenhower hatte darauf

gedrungen, daß der westdeutsche Bundnispartner sich einen größeren Packen der Entwicklungsbürde auf die Schultern lade.

Der amerikanische Finanzminister Douglas Dillon präzisierte: »Wir sehen ein Prozent des Bruttosozialprodukts als zumutbar an. Einige Länder mögen etwas mehr tun, andere etwas weniger. Offensichtlich würde Deutschland zu der Gruppe gehören, die etwas mehr tut.«

Bonn sah sich mithin gezwungen, mehr für direkte Hilfeleistungen auszuwerfen, und das just zu einer Zeit, als der halbe afrikanische Kontinent sich mit selbständigen Staaten überzog. Allein im Jahr 1960 erlangten 17 Kolonien in Schwarzafrika die Unabhängigkeit.

Die Folge war eine Flut finanzieller Versprechungen. Zwar vermieden die Westdeutschen dabei meist den Fehler der Amerikaner, frisch etablierten Regierungen Zuschüsse für deren Staatshaushalt und damit für unkontrollierbare Zwecke zuzustecken. Sie verkündeten vielmehr als Prinzip, nur konkrete und geprüfte Projekte sollten finanziert werden.

Aber der ehrenwerte Vorsatz ging in der politischen Praxis häufig unter. In dem Drang, zugleich Washington zufriedenzustellen und die schwarzen Nachwuchs-Staatsmänner nicht zu enttäuschen, wurden hastig Verpflichtungen eingegangen. Bonn erteilte sogenannte Rahmenzusagen, das heißt, es versprach Millionenbeträge, für die entweder noch gar keine oder nur ungenügend geprüfte Projekte gefunden waren.

So erklärte sich die Bundesregierung beispielsweise bereit, dem westafrikanischen Ghana für 20 Millionen Mark eine Brücke über den Volta zu bauen. Sie wird keinen großen Verkehr zu bewältigen haben, denn jenseits des Volta beginnt die Republik Togo, mit der Ghana verfeindet ist. Es hat die Grenze nach Togo hermetisch geschlossen.

In Kenia, machten die Helfer vom Rhein ein landwirtschaftliches Projekt zum Star ihres Auftritts. Die Regierung des 71jährigen Jomo ("Brennender Speer") Kenyatta erhält von ihnen 13,5 Millionen Mark für das Vorhaben, 12 000 schwarze Familien als bäuerliche Kleinsiedler seßhaft zu machen.

Der Siedlungsplan verfolgt das Ziel, Kenias katastrophale Arbeitslosigkeit zu mindern - nicht einmal 500 000 der 8,7 Millionen schwarzen Kenianer gehen einer lohnbringenden Beschäftigung nach - und die Afrikanisierung zu beschleunigen.

Gleichzeitig aber beeinträchtigt er erheblich die Wirtschaft des Landes. Es werden nämlich nicht etwa brachliegende Böden unter den Pflug genommen, sondern Großfarmen aufgesiedelt, die bis dahin Europäern gehörten.

Die englischen Latifundien mit ihren gepflegten Herrenhäusern erschienen der neuen Elite Kenias als koloniales Ärgernis. Auch die Reitpferde, Golfklubs und Tennisplätze der weißen Großfarmer, die bei Visiten in der Hauptstadt Nairobi des Abends ihren »Sun-Downer« auf der Terrasse des Hotels »New Stanley« einnehmen, paßten kaum noch in das schwarze Kenia.

Aber: Auf die Erträge des Großgrundbesitzes ist das Land entscheidend angewiesen. Die modern bewirtschafteten Felder liefern den weitaus größten Teil aller Produkte, die Kenia exportiert. Drei Viertel des Kaffees zum Beispiel, des Hauptdevisenbringers, stammte im vergangenen Jahr noch von Europäer-Plantagen.

Von den schwarzen Arbeitslosen hingegen, die jetzt das Land mit deutscher Kapitalhilfe übernehmen, sind auf lange Zeit nicht annähernd so hohe Erträge zu erwarten wie von ihren Vorgängern.

Staatschef Kenyatta sah sich im September dieses Jahres genötigt, öffentlich gegen die miserable Arbeitsmoral der Parzellensiedler zu wettern: »Viele kräftige Männer kehren in die Stadt zurück, leben monatelang von ihren Verwandten und Freunden und sind eine allgemeine Plage. Sie lassen ihr Land unbestellt oder nur unter der Obhut ihrer alten Mütter, ihrer Frauen oder kleinen Brüder.« Das sei gegenwärtig die »größte Verschwendung« in Kenia.

Wenn deutsche Millionen in Afrika derart auf Abwege geraten, so liegt das keineswegs immer am Expertenmangel oder an dem Zwang, rasch und reichlich zu helfen. Oft verhindert vielmehr der Einfluß der Bonner Diplomatie eine optimale Verwendung der Gelder. Nachdem die Bundesregierung sich entschlossen hatte, dem im Herbst 1960 aus der Taufe gehobenen Staat Nigeria 100 Millionen Mark Kapitalhilfe zu gewähren, wurde Bonns Botschafter Dr. Harald Graf von Posadowsky-Wehner, 54, als Entwicklungshelfer tätig: »Ich ging zum nigerianischen Finanzminister und fragte 'Was habt ihr denn für Projekte?' Natürlich habe ich da noch nicht den Betrag genannt.«

Der vorgelegte Wunschkatalog enthielt unter anderem das Projekt einer sechsspurigen Straßenbrücke für Nigerias Hauptstadt Lagos.

Sowohl die City von Lagos als auch die von der Elite bevorzugten Wohngebiete liegen auf Inseln vor dem Festland, und die von den Engländern im Jahr 1926 gebaute Verbindungsbrücke vermag inzwischen den Verkehr nicht mehr reibungslos zu bewältigen. Bei Spitzenandrang kommt es auf der Carter -Bridge, wie etwa auf der Rheinbrücke zwischen Bonn und Beuel, zu beträchtlichen Stauungen.

Das kommunale Übel erschien nicht nur der nigerianischen Regierung, sondern auch dem deutschen Botschafter unerträglich. Er empfand überdies den »Brückenschlag als schönes Symbol« und versprach sich von dem Monument deutscher Großzügigkeit im Herzen der Hauptstadt einen »besonderen Sex -Appeal«. Graf Posadowsky empfahl das Brückenvorhaben in Bonn.

Als dann im Sommer 1961 eine nigerianische Delegation unter Führung des Finanzministers Chief Festus Okotie -Eboh (Posadowsky: »Eine blutvolle, barocke Persönlichkeit") am Rhein erschien, war kaum noch etwas zu ändern, denn »da war die Brücke schon im Gespräch« (Posadowsky). Chief Festus bekam seine Kreditzusage über 100 Millionen Mark, davon etwa 60 Millionen für die Brücke.

Diese Aktion gegen ein lästiges Kommunalproblem ist mit Abstand der dickste Brocken im westdeutschen Hilfspaket für Nigeria und eines der größten Bonner Engagements in Schwarzafrika überhaupt.

Der Ablauf des Unternehmens Lagos -Brücke macht die politischen Interessen deutlich, mit denen das Nützlichkeitsprinzip des Ministers Scheel konkurrieren muß. Posadowsky, heute Leiter des Afrika-Referats im Bonner AA, bestätigt: »Die Sache fängt ja bei unseren Botschaften an, nicht bei Scheel.«

Die bundesdeutsche Diplomatie ist fast immer die erste und häufig die ausschlaggebende Prüfstelle aller Entwicklungshilfe. Von den Wunschlisten mit mehreren Dutzend Projekten, die beim Wirtschaftsreferenten jeder deutschen Afrika-Botschaft auf dem Schreibtisch liegen, treffen die Auslandsvertretungen die erste Auswahl. Sie lassen sich dabei, ebenso wie später das Auswärtige Amt, naturgemäß von dem politischen »Sex-Appeal« eines Projekts mindestens so sehr befeuern wie von dessen Entwicklungseffekt.

In Nordkamerun etwa soll mit einem deutschen 25-Millionen-Kredit eine 200 Kilometer lange Straße von Mora nach Fort Foureau entstehen. Sie wird alljährlich während der Regenzeit unbefahrbar sein und Instandhaltungskosten von einer Million Mark im Jahr erfordern. Frankreich und die EWG hatten es zuvor abgelehnt, die Straße zu finanzieren.

Aber sie ist ein Lieblingswunsch des Präsidenten Ahidjo. Er stammt aus dem Norden des Landes, wo die Straße gebaut wird und wo er seine politische Anhängerschaft hat. Der Bundesbotschafter in Kameruns Hauptstadt Jaunde, Dr. Karl Döring, befürwortete das Vorhaben eifrig.

Eines der am deutlichsten politischen Bonner Entwicklungs-Unternehmen ist der Bau eines Hafens für Togo. Präsident Sylvanus Olympio - er wurde im Januar vorigen Jahres ermordet - hatte es als eine Frage »von Leben und Tod« für sein Land bezeichnet, einen Hafen zu bekommen. Wiederum war es der deutsche Botschafter, Dr. Alexander Török, der den Präsidentenwunsch in Bonn vertrat. Török ist heute Referent für Schwarzafrika in der handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amts.

Olympio konnte bei einem Besuch am Rhein im Mai 1961 die Bundesregierung davon überzeugen, daß sie den betont prowestlich auftretenden schwarzen Staatsmann, unmittelbaren Nachbarn des linksgewebten Ghana-Chefs Kwame Nkrumah und mit diesem über Grenzfragen verfeindet, mit Vorrang zu bedienen habe. Ihm wurde ein Hafenkredit in Höhe von 53 Millionen Mark zugesagt.

Auch für den Hafen gibt es freilich, wie für die Brücke in Lagos, außer politischen etliche praktische Argumente. Togos seewärtiger Handel vollzieht sich zur Zeit einigermaßen abenteuerlich.

Auf einem Gewirr rostiger Stahlträger ragt eine 35 Jahre alte Pier 300 Meter ins Meer hinaus. Zwischen ihr und den Schiffen, die in der Atlantik-Dünung ankern, werden die Waren mit Leichtern transportiert. Die Methode ist zeitraubend und riskant. Bei starkem Seegang fallen während des Leichterns gelegentlich Ladungsteile ins Wasser oder werden beschädigt.

Die Deutsche Togo-Gesellschaft in Lomé, an der die Hamburger Exportfirma Jos. Hansen beteiligt ist, muß oft fabrikneue Mercedes-Automobile ausbeulen, noch ehe sie an den Käufer ausgeliefert worden sind.

Aber: Der Warenverkehr, den das Land von der Größe Niedersachsens mit 1,6 Millionen Einwohnern und fast reiner Agrarwirtschaft über diese Pier abzuwickeln hat, ist unbedeutend. Im Jahr 1963 ankerten nur 477 Schiffe vor Lomé, darunter mindestens 100 Linien-Passagierschiffe. Es wurden ganze 156 000 Tonnen Güter umgeschlagen; das waren pro Woche 3000 Tonnen oder die Ladung eines kleinen Frachters.

Nur 100 Kilometer östlich von Lomé, über eine Asphaltstraße zu erreichen, steht bereits ein anderer Hafen kurz vor der Vollendung. Frankreich hat ihn in Cotonou, einer Stadt des Nachbarstaats Dahomey, während der letzten Jahre gebaut.

Der deutsche Entwurf gleicht dem französischen Cotonou-Projekt aufs Haar: eine aus Steinen angeschüttete Mole, hinter der die Frachter an massiven Liegeplätzen und gegen Wellen geschützt festmachen können. Eine Arbeitsgemeinschaft der Baufirmen Grün & Bilfinger AG, Ed. Züblin und Strabag Bau AG hat den Molenbau im Sommer dieses Jahres in Angriff genommen und hofft, schneller damit voranzukommen als die Franzosen in Cotonou, die seit fünf Jahren bauen. Die Deutschen müssen auch hoffen, daß sie billiger abschneiden: Der Hafen in Dahomey hat bislang immerhin schon 160 Millionen Mark verschlungen.

Die Togo-Mole wird selbst in Bonn nicht als Musterbeispiel für wirtschaftlich sinnvolle Entwicklungshilfe angesehen. Dr. Karl-Gerhard Seeliger, seit einem Jahr Bonns Botschafter in Lomé, spricht von dem »politisch bedingten und wirtschaftlich umstrittenen Hafenbau«.

Solcher Entwicklungs-Praxis, die den politischen Nutzen höher einschätzt als den wirtschaftlichen, liegen eine fixe Idee und ein Minderwertigkeitskomplex zugrunde. Bonns Diplomaten wollen die Unterstützung der afrikanischen Regierer für die Wiedervereinigungspolitik gewinnen und

den Vorwurf des Neokolonialismus entgehen.

Hallstein-Doktrin und Ost-West-Ideologie gehören zum Standard-Inventar der Bonner Afrika-Missionen. Stoßseufzer eines deutschen Botschafters: »Wenn die Regierung hier während meiner Amtszeit die Zone nicht anerkennt, habe ich mein Ziel erreicht.«

Der Presseattaché der Lagos-Botschaft und frühere Gehilfe in Adenauers Bundeskanzleramt, Dr. Karl Wand, sieht es so: »Wir kämpfen hier. Wir sind an der Front, wir fühlen uns belagert.«

In der Bonner außenpolitischen Zentrale klingt es weniger deutlich. Afrika-Referent Graf Posadowsky bestreitet, daß die Hallstein-Doktrin Motto der westdeutschen Entwicklungshilfe sei, und spricht statt dessen lieber von der politischen Notwendigkeit deutscher »Präsenz«.

Nach einem Besuch in Äthiopien mit Heinrich Lübke im Oktober dieses Jahres begeisterte sich Posadowsky: »Die deutsche Schule liegt direkt an der Prachtstraße von Addis Abeba, und unser Krankenhaus hat der Kaiser schon zweimal besucht. Da haben wir eine großartige Präsenz.«

Mit dem selbst auferlegten Zwang zu werbewirksamer Präsenz haben die Bonner Geldgeber ihre Entscheidungsfreiheit drastisch beschränkt. Nicht nur verstärkt er die Tendenz, Projekte mehr nach ihrem politischen Sex -Appeal als nach ihrem Entwicklungsnutzen auszuwählen, sondern er hat auch die Gießkannen-Methode hervorgebracht, nach der schlechthin jedes Entwicklungsland mit Gaben bedacht wird.

Außer der Bundesrepublik hat es nur Amerika auf sich genommen, alle Hilfsbedürftigen zu versorgen. England und Frankreich zahlen fast ausschließlich an ihre früheren Kolonialgebiete, während Länder wie Schweden, die Schweiz oder Israel sich ihre Pflegekinder sorgfältig aussuchen.

Die Gießkanne ist den Westdeutschen nicht einmal von den Amerikanern in die Hand gedrückt worden. US-Finanzminister Dillon gestand vielmehr dem Bonner Partner ausdrücklich zu, nach eigenem Ermessen Schwerpunkte zu bilden: »Wir wären völlig zufrieden, wenn (die Bundesrepublik) es auf sich nähme, ihre Hilfe einem bestimmten Gebiet oder einer bestimmten Gruppe von Entwicklungsländern zukommen zu lassen.«

Aber der deutschen Präsenz zuliebe setzt Bonn jedes Land auf die Empfängerliste, sobald es unabhängig wird, und manchmal noch eher. Obwohl die verfügbaren Summen begrenzt und die Fachleute knapp sind, verteilt sich die westdeutsche Hilfe allein in Schwarzafrika auf 30 Länder und 383 Projekte. Afrika-Referent Graf Posadowsky: »Wir haben jetzt etwa den größtmöglichen Rahmen erreicht und müssen erst mal zusehen, daß wir ihn ausfüllen.«

Bonn ist so sehr ein Gefangener seiner schrankenlosen Großzügigkeit geworden, daß es zu einer Verzweiflungstaktik Zuflucht nehmen mußte: Kein Ministerium erteilt Auskunft darüber, wie hoch die Gesamtzuwendungen an einzelne Länder sind. Damit Afrikas miteinander wetteifernde Potentaten nicht immer höhere Forderungen stellen, wird auch dem westdeutschen Steuerzahler die Information verweigert, wieviel er seinen Kostgängern im einzelnen zahlt.

Das Gießkannen-Prinzip führt zur Zersplitterung der verfügbaren Mittel, was sich besonders deutlich bei den Projekten der sogenannten Technischen Hilfe zeigt. Diese Art der Entwicklungshilfe entsprang der einleuchtenden Überlegung, daß den jungen Staaten mit praktischer Unterweisung und Ausbildung am besten gedient sei.

Bonns Freigebigkeit hat jedoch die Zahl solcher Hilfsprojekte derart aufgeblüht, daß für die einzelnen Vorhaben oft nur kärgliche Mittel übrigbleiben. Von den fast 300 Unternehmen dieser Art in Schwarzafrika haben viele lediglich den Charakter von Busch-Karitas, wie sie die christlichen Missionen schon seit Jahrzehnten praktizieren.

Dr. Horst Geuting, als Wirtschaftsberater des Tanganjika-Präsidenten Nyerere selbst ein Produkt der Bonner Entwicklungshilfe, klagt: »Wir haben ja überall irgend jemand oder irgend etwas. Das kommt nirgends richtig zum Tragen, da es sich immer um kleine Projekte handelt.«

Aber nicht nur bei der Technischen Hilfe, sondern auch bei den größeren Vorhaben der Kapitalhilfe beraubt das Gießkannenprinzip die deutschen Entwicklungspolitiker der Möglichkeit, sinnvolle Schwerpunkte zu bilden.

Dazu wäre nach dem Urteil des Botschafters Dr. Seeliger beispielsweise in Togo Gelegenheit: »Das Hafenprojekt kann nur dann ein Erfolg sein, wenn es Teil und Kern eines Gesamtplanes wird, der den Auf- und Ausbau der togoischen Wirtschaft vorsieht.«

Ein solcher Gesamtplan müßte sich vor allem mit dem katastrophalen Wassermangel des Landes beschäftigen, den Präsident Olympios Nachfolger Nicolas Grunitzky, 51, Sohn eines Danziger Kaufmanns und einer togolesischen Mutter, als »Problem Nummer eins« bezeichnet. In der sieben Monate währenden Trockenzeit wächst auf den verdorrten Feldern nichts, und die Dörfler marschieren oft 30 Kilometer weit, um Trinkwasser zu holen. Daß es in Togo Grundwasservorräte gibt, steht bereits fest, Bonn aber kann die kostspieligen Tiefbohrungen, mit denen das Wasser erschlossen werden müßte, nicht bezahlen. Es schüttet der kleinen Republik für 53 Millionen Mark eine Mole in den Atlantik, und mehr gibt die Gießkanne nicht her.

Bankier und Entwicklungshelfer Franz Heinrich Ulrich schlug vor: »Wir sollten mal ein großes Projekt von Anfang bis Ende durchziehen, wie den Assuandamm oder den Euphratdamm.« Aber solche spektakulären Leistungen läßt die zerfaserte Bonner Afrikahilfe nun erst recht nicht zu.

Bei der Finanzierung etwa des Niger-Staudamms in Nigeria, eines Objekts von 760 Millionen Mark und entscheidend für die Entwicklung des Landes, sowie des Volta-Damms in Ghana für 800 Millionen Mark tritt die Bundesrepublik nicht in Erscheinung.

Die verzettelten Bonner Gaben nehmen denn auch in allen afrikanischen Staaten einen vergleichsweise bescheidenen Raum ein. Meist rangieren die ehemaligen Kolonialmächte und die USA beträchtlich vor der Bundesrepublik, gelegentlich hat auch der Ostblock die Spitzenstellung. So bekommt etwa Somalia von der Sowjet-Union rund 400 Millionen Mark, von Rotchina 140 Millionen. Die deutsche Hilfe beträgt 45 Millionen Mark.

Das Streben nach allumfassender Präsenz führt sich somit selbst ad absurdum: Der davon erhoffte politische Werbenutzen wird um so geringer, je breiter Bonn die Millionen streut.

Tatsächlich können die rheinischen Entwicklungshelfer bisher auch nur einen negativen Erfolg ihres politischen Kalküls verzeichnen: Außer Sansibar hat bisher noch keiner der neuen afrikanischen Staaten die DDR anerkannt. In Sansibar allerdings sitzt heute noch, nachdem der winzige Inselstaat sich mit Tanganjika (zur Republik Tansania) vereinigt hat, unangefochten der Ost-Berliner Botschafter Günther Fritsch und bringt unter anderem das Propagandablatt »News - The Illustrated Weekly from the German Democratic Republic« auch auf dem Festland unters Volk.

Die Möglichkeiten der Schwarzafrikaner zu aktiver politischer Unterstützung Bonns, etwa in der Wiedervereinigungsfrage, sind ebenso gering wie ihr Interesse daran. Der ganze Kontinent hat sich ohnehin dem Neutralismus verschrieben. Etliche Empfänger massiver deutscher Hilfe, wie etwa Ghanas Nkrumah oder Malis Modibo Keita, machen kein Hehl daraus, daß ihre Sympathien dem Ostblock gehören.

Der routinemäßige Mauer-Tourismus afrikanischer Deutschlandbesucher kann ebensowenig als Erfolg der Bonner Entwicklungshilfe gelten wie die gelegentlich in afrikanischen Zeitungen erscheinenden Mauer-Photos. Ihre Veröffentlichung ist in der Regel mit Annoncen deutscher Firmen erkauft, die von der Deutschen Botschaft als Anzeigen-Akquisiteur beschafft werden.

Überdies sind die Zeitungen auch der anderen Seite gern zu Diensten. Nachdem Bonn in Tanganjika darauf gedrungen hatte, die Ost-Berliner Sansibar-Botschaft zu schließen, druckte Nigerias »West African Pilot« eine scharfe Attacke: »Für ein paar Mark Wirtschaftshilfe soll Afrika im ost-westlichen Tauziehen Partei ergreifen ... Wir sollen die Sünden der deutschen Nazi-Vorväter ausbaden helfen, weil wir wirtschaftlich die Kinder des heutigen Deutschlands sind.« Der Artikel trug die Überschrift »Neokolonialismus« und berührte damit einen Punkt, an dem Bonn besonders empfindlich ist.

Aus Furcht, die afrikanischen Freunde könnten Bevormundung, Neokolonialismus oder gar Nazi-Rassismus wittern, scheuen sich die deutschen Entwicklungsunterhändler, ihre Meinung energisch zu verfechten, Kritik zu üben oder Bedingungen zu stellen. Umgekehrt neigen sie dazu, die schwarze Elite zu glorifizieren.

Dieser Bonner Minderwertigkeitskomplex verhindert oft, daß die Hilfsmillionen mit optimalem Nutzen verwendet werden. Er ist auch für zahlreiche Ungereimtheiten der westdeutschen Entwicklungshilfe verantwortlich, etwa für die lange geübte Praxis, nicht einmal auf einer Beteiligung deutscher Firmen an den Hilfsprojekten der Bundesregierung zu bestehen.

Die 156 Millionen Mark Haushaltsmittel etwa, die Bonn dem Sudan für zwei Staudämme kreditierte, verbauen italienische Firmen. Deutsch-Bankier Ulrich entrüstet sich: »Wenn bei uns manchmal geradezu zur Bedingung gemacht wird, daß die Aufträge aus unserer Kapitalhilfe nicht nach Deutschland gehen, dann kann ich da nicht mehr folgen.«

Mittlerweile bemüht sich Bonn um die Auftragsvergabe nach Westdeutschland. Dabei gibt es allerdings immer noch Pannen. So ließ sich die Bundesrepublik den Großauftrag entgehen, das nigerianische Telephonnetz zu modernisieren, obwohl Bonn bereits seit vier Jahren der nigerianischen Post mit Fernmelde-Experten und Gerät für bisher 1,6 Millionen Mark aushilft.

Die Unsicherheit gegenüber den arrivierten Schwarzafrikanern äußert sich oft grotesk. Sie ist der Grund für die aufwendigen Empfänge, die jedem der zahlreich anreisenden dunkelhäutigen Potentaten in Bonn zuteil werden. Sie läßt deutsche Diplomaten zusammenzucken, wenn ihnen im privaten Gespräch mit Landsleuten das verpönte Wort »Neger« oder »Schwarze« unterläuft statt des allein zulässigen »Afrikaner«.

Umgekehrt verstehen es die Afrikaner, deutsche Komplexe unverfroren in Zahlungswilligkeit umzumünzen. Auf dem Flugplatz von Lagos beschwerten sich nigerianische Journalisten, die auf Kosten der Bundesregierung zur Information nach Westdeutschland fliegen sollten, daß man sie in der Economy -Klasse untergebracht hatte. Sie wurden eilends in die Erste Klasse der Lufthansa-Maschine komplimentiert, obwohl der Bund sogar seine Botschafter in der billigen Abteilung reisen läßt.

Rebellion gegen solche Selbstverleugnung äußert sich bislang nur hinter vorgehaltener Hand. Ein deutscher Afrika-Diplomat: »Natürlich sollten wir öfter mal auf den Tisch schlagen

- aber ich habe das nicht gesagt.«

Gegen das diplomatische Liebeswerben um schwarze Afrikaner will Entwicklungsminister Scheel seine pragmatische Nützlichkeits-Doktrin durchsetzen.

Einen ersten Erfolg meint er bereits errungen zu haben: Am 14. Oktober dieses Jahres regelte das Bundeskabinett die Kompetenzen neu und machte das Scheel-Ministerium zuständig für »die Grundsätze, das Programm und die Koordinierung der Entwicklungspolitik«. Der Minister strahlt: »Koordinierung, das ist sonst ein Vorrecht des Bundeskanzlers. Aber hier habe ich es schwarz auf weiß für mein Ministerium.«

Jedoch hat die Kabinettsentscheidung noch andere Textstellen, auf die AA-Staatssekretär Rolf Lahr vor Journalisten sogleich aufmerksam machte. Das Außenministerium behält »die Zuständigkeit für alle politischen Fragen«, Grundsätze und Programm sind von Scheel und dem Außenamt »gemeinsam zu erarbeiten«, es muß jeder Hilfsmaßnahme zustimmen und behält ein Vorschlagsrecht.

Wie argwöhnisch Bonns Ministerialbürokratie die Pauschalkompetenz des Entwicklungsministers beäugt, erfuhr Walter Scheel am 5. November im Bundestag, als er vor dem Entwicklungsausschuß über die neue Regelung referierte. Unter seinen Zuhörern waren nur elf Abgeordnete, aber nicht weniger als 36 zumeist ranghohe Ministerienvertreter, die Scheels Interpretation seiner neuen Befugnisse eifrig mitschrieben.

Unbekümmert um sein hellhöriges Publikum visierte der Minister vor dem Ausschuß gleich das nächste Ziel an. Damit sein Ministerium »vor Ort« sachverständig vertreten sei, will Scheel »besonders vorgebildete Leute« an die Botschaften abstellen: »Als Arbeitstitel könnte man sie Entwicklungsattachés nennen.«

Im Auswärtigen Amt hebt Afrika-Referent Graf Posadowsky ob solcher Pläne nur abwehrend die Hände, Scheel aber ist zuversichtlich: »Die klassische Diplomatie hat sich auch gegen Militärattachés gewehrt. Sie wird das auch schlucken.«

An dem laut Scheel wichtigsten Instrument für eine optimal wirksame Hilfe arbeitet sein Ministerium bereits seit drei Jahren: an einer »Programmierung« der Bonner Entwicklungspolitik.

Dabei wird für jedes Entwicklungsland eine »Darstellung der Ist-Situation« (Scheel) angefertigt, so daß Bonn künftig den Wünschen der Bittsteller mit eigenen detaillierten Kenntnissen begegnen kann. Scheel: Bisher haben wir uns doch nur im Schnellverfahren eine ungefähre Vorstellung davon machen können, was für ein Land am nützlichsten ist. Jetzt werden wir schon bei den ersten Kontaktgesprächen eine bestimmte Meinung von der wünschenswerten Entwicklung haben.«

Damit künftig mehr fachkundige Programmierer und Experten für die Arbeit vor Ort zur Verfügung stehen, förderte Scheel die Gründung eines Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik mit Bundeszuschuß. Es wurde im März dieses Jahres in Berlin eröffnet und soll Examens-Absolventen aller Fachrichtungen in einjährigen Kursen mit der Entwicklungs-Wirklichkeit vertraut machen.

Das Prinzip der Gießkanne will der strebsame Jungminister immerhin so weit modifizieren, daß die Bonner Millionen nicht mehr in einer Vielfalt von Einzelprojekten versickern können. Scheel will »Kombinationen von Projekten bilden, auch Kapitalhilfe und Technische Hilfe zusammen einsetzen, langfristig planen und aufeinander abstimmen«.

Als Exerzierfeld für die Methode dient Ostafrika, das Scheel als »neuen Schwerpunkt« der Bonner Entwicklungspolitik bezeichnet. Er kann dort bereits zwei Großvorhaben neuen Typs vorweisen, die sein Ministerium in jüngster Zeit konzipiert hat.

In Kenia erschließt die Bundesregierung für 9,5 Millionen Mark ein 5000 Hektar großes Gelände für den Anbau von Zuckerrohr. Gleichzeitig baut der Konzern Gutehoffnungshütte eine Zuckerfabrik, für deren Kosten von 16,8 Millionen Mark der Bund eine Kreditbürgschaft übernimmt.

Das Projekt ist intensive Entwicklungshilfe. Brachland wird kultiviert, mehr als 4000 schwarze Kenianer erhalten ständige Beschäftigung, und die Devisen des Landes, das jährlich für 22 Millionen Mark Zucker einführt, werden geschont.

Zugleich demonstriert der Zuckerplan die Kombination mehrerer Hilfsarten. Außer Kapitalhilfe und Kreditbürgschaft wird sich auch die technische Hilfe mit Fachleuten und Ausrüstung des Zuckerrohranbaues und später der Produktion annehmen.

Kenias Landwirtschaftsminister Bruce McKenzie, eingebürgerter Brite mit eindrucksvollem Backenbart, lobt das »package deal«, das »alle Aspekte von der Kultivierung des Bodens bis zum fertigen Produkt umfaßt«.

Noch ehrgeiziger ist Scheels neuer Schwerpunkt in Tanganjika. Mit deutscher Hilfe soll das Tal des Kilomberoflusses, ein Gebiet von der Größe Bayerns, für die Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. In Daressalam treibt Entwicklungshelfer Dr. Horst Geuting, Wirtschaftsberater des Präsidenten Julius Nyerere, das Projekt voran.

Geuting empfängt Besucher stilgerecht in einer der weitläufigen, etwas düsteren Verwaltungskasernen, die Tanganjikas deutsche Kolonialherren hinterlassen haben. Wenige Türen weiter sitzt seit kurzem im Planungs-Direktorat der »rote Babu«, einer der kommunistenfreundlichen Revolutionäre von Sansibar.

Durch die radikale Nachbarschaft eher angespornt als eingeschüchtert, preist Geuting das Kilombero-Unternehmen: »Da wollen wir uns nicht mehr verplempern. Eine Eisenbahnlinie ist bereits im Bau, dann werden ordentliche Straßen gebaut, ein größerer und zwei kleine Staudämme.«

Westdeutsche Experten untersuchen den Boden und stellen Bewässerungspläne auf, die Errichtung von Musterfarmen, landwirtschaftlichen und hydrologischen Instituten ist geplant Über die Gesamthöhe der deutschen Beteiligung wird noch verhandelt.

Mit dem New Look der Entwicklungspolitik will Scheel »die Initiativein die Hand bekommen« und nicht mehr »auf die Zufälligkeiten angewiesen sein, die unsere Hilfe bisher häufig bestimmt haben«. Der ehemalige Finanzberater kritisiert: »Die politischen Ziele, von denen sich unsere Diplomatie leiten läßt, sind oft allzu kurzfristig.« Tatsächlich ist zweifelhaft, ob sich in den unterentwickelten Neu-Staaten mit Hilfsgeldern überhaupt Zuneigung erwerben läßt.

Der Nationalökonom Dr. Klaus Billerbeck, zwei Jahre lang Oberregierungsrat und Chef-Programmierer im Ministerium Scheel und heute Direktor des Berliner Entwicklungsinstituts, vermerkte in seiner Schrift »Reform der Entwicklungshilfe": »Jede Hilfe (ist) Ausdruck einer Überlegenheit, des die Hilfe gewährenden Landes, sie ist immer mit Ratschlägen verbunden, in welchen Formen man sie auch gewähren mag.« Deshalb entwickeln die Empfänger oft einen »Komplex, der sich nicht selten in Arroganz äußert«.

Die amerikanischen Erfahrungen hätten gezeigt, »daß vielleicht in offiziellen Kommuniqués, nicht aber in der öffentlichen Meinung (der Entwicklungsländer) eine Würdigung und faire Beurteilung der geleisteten Hilfe erfolgen wird«. Vor allem aber: Die ehemaligen Kolonien betrachteten den Milliardenaufwand meist »als selbstverständliche Gaben ... und zugleich auch als eine Abtragung der Schulden des weißen Mannes«.

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