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»Mit der Unbeirrbarkeit von Lemmingen«

Die Etablierten, die Grünen und die Unregierbarkeit der Republik ... gerade in solchen Epochen revolutionärer Krise beschwören sie ängstlich die Geister der Vergangenheit zu ihrem Dienste herauf, entlehnen ihnen Namen, Schlachtparole, Kostüm, um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen. Karl Marx
aus DER SPIEGEL 9/1983

Das Oberste Gericht der Vereinigten Staaten erlaubte sich - schien es - einen Scherz. Der beinahe fertige Tellico-Staudamm im Staat Tennessee, entschieden die Richter vor ein paar Jahren, dürfe nicht zu Ende gebaut werden.

Denn, so die Begründung, der Stausee lasse den Little Tennessee River verschwinden. In dem seichten, sauerstoffreichen Flußwasser aber lebe der Zwergbarsch (Percina tanasi), ein Fisch, der auf der Liste der von der Ausrottung bedrohten Tierarten steht. Werde der Damm vollendet, dann raube man dem Fisch seine natürliche Umwelt - die Tage seiner Art wären gezählt.

Solch ein Riesengetue um einen Zwergbarsch? Waren die sonst so seriösen Herren zu Blumenkindern geworden? Die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« entsetzte sich, schließlich habe das Kraftwerk »eine unterentwickelte Landschaft mit Industrie, Erholungsstätten und Elektrizität versorgen« sollen.

Fisch oder Kraftwerk, Altmühltal oder Rhein-Main-Donau-Kanal, Bäume oder Beton, Frieden ohne Waffen oder Wettrüsten: Solche Alternativen haben etwas Absurdes, für den jeweils anderen. Jene, die um Frieden und Natur besorgt sind, haben kaum noch Gemeinsames mit den anderen, die um Wohlstand und Wachstum bangen.

Längst ist der Wahlkampf in der Bundesrepublik grün gefärbt, denn die Alternativen drängen an die Schaltstellen der Etablierten, streben ins Bonner Parlament. Zum erstenmal in der Nachkriegsgeschichte haben radikale Reformer, die sich selbst eher als Nachfahren Jean-Jacques Rousseaus verstehen, die Chance, die Republik gründlich zu verändern - wenn SPD und Grüne am 6. März eine Mehrheit erreichen und auch zusammenfinden.

Das hat bewirkt, daß sich die Sozialdemokraten mit ihrem Kanzlerkandidaten Hans-Jochen Vogel - ängstlich zwar, aber immerhin - ein Stück bewegen. Die Unionschristen und ihr Koalitionskompagnon FDP aber haben sich verbissen in den alten Stellungen vergraben. Das ganz andere, das überhaupt nicht ins Konzept paßt und überkommene Systeme sprengt, wirkt bedrohlich. Dort, wo es »um die Wahrheit von Hoffnungen, Einstellungen und Gefühlen geht«, so der Naturphilosoph und Vogel-Berater Klaus Meyer-Abich, ist die Auseinandersetzung »am härtesten«.

Auf die Beschreibung der Krise können sich alle noch einigermaßen einigen. Der wunderbare Wohlstand, die atemraubenden technischen Entwicklungen hatten ihren Preis: Die Wälder sterben, die Flüsse sind krank, die Rüstung verschlingt Milliarden, es wächst die Angst um den Frieden. Mehr als zwei Millionen Menschen in der Bundesrepublik finden keine Arbeit, und die Zahl der Arbeitsverweigerer, der Aussteiger, wird immer größer.

Daß elementare Lebensbedingungen von Menschen, Tieren und Pflanzen bedroht sind, ist zum Allgemeinplatz geworden. Und ob die Überlebenschancen der Menschen steigen, weil pro Minute 2,3 Millionen Dollar für ihre mögliche Vernichtung verschwendet werden, stößt auf immer stärkere Zweifel.

Aber im Streit über die Ursache der Krankheiten oder gar eine Therapie herrscht Verwirrung. Da wird verharmlost und heruntergespielt. Miesmacher werden angeprangert, die angeblich mit der Angst um den Frieden, der Arbeitslosigkeit oder der Umweltzerstörung Panikmache betreiben.

Andere wieder, denen die Ernsthaftigkeit der Krise klar ist, suchen die Hoffnung zu verbreiten, alles werde sich schon von selbst richten, oder sie bieten probate Hausmittel feil. Die Erkenntnis, daß die alten Methoden nicht weiterhelfen, daß grundlegende Neuerungen, lebensverändernde Einschnitte vonnöten sind, ist nur schwer zu vermitteln.

Ein Konsens über die Bewältigung der Krise ist zwischen den Lagern kaum noch herzustellen. Zwar leben die etablierten Parteien allesamt noch in fast feindlicher Distanz zu den Grünen. Nur die Sozialdemokraten stellen sich, wenn auch zaghaft, deren lästigen Fragen. Aber sie tun sich schwer mit Wettrüsten, Wohlstand und Wachstum. Sie verhehlen ihre Ratlosigkeit nicht, sie geben nicht vor, die fertigen Antworten zu wissen.

Auf dieser Grundlage sei »eine Wahlkampfstrategie nur schwer aufzubauen«, so Hamburgs Ex-Bürgermeister Hans-Ulrich Klose: »Da hat es die Union leichter.« Selbst der frühere Verteidigungsminister Hans Apel leugnet nicht, daß ihn manchmal Selbstzweifel befallen: »Wir sind alle erzogen, in kurzen Spannen zu denken, langfristige Probleme sind uns eher verschlossen. Den S.28 neuen Verbündeten in der konservativen Koalition ist derlei Zaghaftigkeit fremd. Franz Josef Strauß, Helmut Kohl und ihr Gefolge wissen die Bürger zu beruhigen. Sie halten nichts von Bescheidenheit.

Während Vogel-Berater Meyer-Abich behauptet, es entspreche »der Offenheit der heutigen Situation, keine Lösungen anzubieten«, kennen die Konservativen natürlich Wege aus der Krise und auch die Schuldigen, die dem Land die Krise eingebrockt haben. Ihr Markenartikel für die Wähler: Sicherheit. Diese - falsche - Sicherheit steht an diesem Sonntag zur Wahl.

Wer die Unionschristen ernst nimmt, kann sich ruhig schlafen legen. Sie werden unterdessen alles richten, wie damals, nur ein bißchen müssen die Bürger, wie damals, mithelfen.

»Als nach dem Krieg alles in Schutt und Asche fiel, in Trümmern lag, da haben wir einfach angepackt«, verkündet eine gemütliche Oma im Werbespot der CDU. »Und das sollte heute nicht mehr möglich sein?« fragt sie mahnend. Damals hat doch auch »der Herr Kohl als junger Mann schon mitgearbeitet«. Heute ist er Kanzler, na also: »Der weiß, was jetzt not tut.«

In einem anderen CDU-Streifen wird der kleine Hans an seinem 13. Geburtstag aufgeklärt über ein »schlimmes Geschenk": Massenarbeitslosigkeit, gigantische Staatsverschuldung, Wirtschaftskrise. Von wem wohl kam das Geschenk? Von der SPD natürlich. Aber: »Mit der CDU sind die Weichen gestellt für den Weg aus der Krise.«

Nach diesem schlichten Muster betreiben die Unionschristen, nicht viel anders die Restliberalen, ihren Wahlkampf - so als ob endlich ein schrecklicher Spuk vorbei sei, als ob jetzt nur noch die Politik der frühen Jahre neu aufgebacken werden müßte.

»Warum sollte das deutsche Volk nicht die Kraft zu einem zweiten Wirtschaftswunder mobilisieren?« fragt CSU-Generalsekretär Edmund Stoiber. Für seinen Chef Strauß ist es gar keine Frage, was »für uns politische Wende heißt: Die Rückkehr zu den tragenden Grundsätzen der unter Konrad Adenauer formulierten und durchgesetzten Wirtschafts-, Finanz-, Sozial-, Außen-, Verteidigungs- und Deutschlandpolitik«.

Zurück in die Vergangenheit heißt also der Weg in die Zukunft. Nostalgie als Werbegag, eben falsche Sicherheit. Denn das Wirtschaftswunder war nur möglich nach den Zerstörungen eines Krieges, als das Nötigste fehlte - Wohnungen, Straßen, Lebensmittel.

Bis in die 60er Jahre konnten die Unternehmen ihre Produkte nach dem gängigen Grundsatz »je mehr, desto besser« loswerden, um Bedürfnisse und Begehrlichkeiten zu befriedigen. Nun aber sind Märkte gesättigt, die Ziele von damals erreicht. Selbst Günter Rohrmoser, Philosophie-Professor in Stuttgart-Hohenheim und ideologischer Vordenker der Union, weiß: »Es gibt keinen Weg, der in die 50er und 60er Jahre zurückführt.«

Frei von derlei Skrupeln, staffiert die Rechtskoalition ihre Welt mit den Requisiten von damals aus. Alte Tugenden werden aufgeputzt, alte Feindbilder restauriert, alte Lieblingsspielzeuge hervorgekramt.

Die Reizthemen der Wende, von den Freidemokraten schon als Vorwand für den Absprung benutzt, gehören nun zum ständigen Repertoire:

* Den Unternehmen werden Anreize zum Investieren gegeben - so funktioniert Marktwirtschaft, so wird Arbeitslosigkeit beseitigt.

* Alle müssen Opfer bringen, ausgenommen allenfalls die Besserverdienenden - so wird der Haushalt saniert, das soziale Netz gesichert.

* Nur die Aufstellung von US-Raketen ist eine angemessene Antwort auf die sowjetischen SS-20 - so wird der Frieden gesichert. S.29

* Die grundlegenden Werte, von Linken zerstört, müssen wieder gelten - so wird die »geistig-moralische Krise« bewältigt.

Erstaunlich, wie sich in der kurzen Zeit seit dem Machtwechsel das politische Klima verändert hat. Als Kohl noch ohne Kanzlerwürde über sein Lieblingsthema, die »geistig-moralische Herausforderung«, redete, wirkte er meist lächerlich. Nun aber findet er lautstarke Mitstreiter, werden die Töne schärfer, verstärkt sich der Meinungsdruck - besonders aus den Reihen der CSU.

Konservative Kulturkritiker wie Rohrmoser oder Helmut Schelsky hatten schon lange die alte Regierung und vor allem die Intellektuellen im Visier. Die Sozialliberalen verdächtigte Rohrmoser, sie wollten die »libertär hedonistischen Ziele der Emanzipation durch Auf- und Ausbau kollektiver bürokratischer und sozialer Sicherheit ansteuern« und so »die Aufklärung vollenden«. Schelsky brandmarkte Lehrer, Journalisten, Pfarrer und Sozialarbeiter als verderbliche »Sinn-Vermittler«.

Schon 1978 forderte eine Gruppe von Kulturkämpfern um den Historiker Golo Mann und den damaligen Münchner Universitätspräsidenten Nikolaus Lobkowicz in neun Thesen »Mut zur Erziehung« und eine geistige Wende. Sie schmähten die Erziehung zur Mündigkeit, zur Kritikfähigkeit, zur Wahrnehmung eigener Interessen und zur Fähigkeit, persönliches Glück zu finden, als fatalen »Irrtum«. Sie stellten die wahren Tugenden dagegen: Fleiß, Gehorsam, Disziplin, Ordnung, Sauberkeit - Voraussetzung für das reibungslose Funktionieren des Staatsapparats. Und die Obrigkeit hat keine Last mit mündigen Bürgern.

Auf einer Tagung der Hanns-Martin-Schleyer-Stiftung über Pessimismus und Krisenangst verglich Lobkowicz die Gegenwart mit der untergehenden Antike und dem Ende des Mittelalters - Zeiten »irrationaler Ängste«, des »Zerfalls«, der »verrücktesten Massenbewegungen«. Lobkowicz wünscht, daß die kritische Fragerei aufhört, denn permanente Aufklärung führe zur Angst: »Wir bedürfen einer Zuversicht, die unabhängig davon ist, wie die Welt faktisch aussieht.«

In den Niederungen der Politik werden solche Wegweisungen dankbar aufgenommen. Auch dem CSU-Innenminister Friedrich Zimmermann paßt die »Infragestellung grundlegender Werte« nicht, er sehnt sich nach den »Tugenden der 50er Jahre« zurück.

Sein Parlamentarischer Staatssekretär Carl-Dieter Spranger sieht »geistig-ethische Subversion und Zersetzung« am Werk, er will sein »christliches Menschenbild« wieder allgemein verbindlich machen. Bundespräsident Karl Carstens würde am liebsten eine regelmäßige nationale Gebetsstunde, etwa zu Beginn einer Bundestagssitzung, verordnen.

Franz Josef Strauß fand am Vorabend des 50. Jahrestages der Machtergreifung dazu die rechten Worte: Die abgehalfterte sozialliberale Koalition habe eine »kulturelle Entartung« zu verantworten. »Vokabel der Nazipropaganda«, empörte sich Heinrich Böll in einer Resolution, »es wäre eine Schande«, wenn eine Partei so Wähler gewinnen könnte.

Konservative begreifen kulturelle Veränderung, Wertwandel, Neuerung meist nur als Bedrohung. Sie neigen daher zum Rückgriff auf Bewährtes, den Traditionsbestand, zum Rückzug in die Geborgenheit.

Die Neokonservativen, analysierte der Philosoph Jürgen Habermas auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung, sähen ihre Aufgabe einerseits in der Mobilisierung der Vergangenheiten, zu denen man sich zustimmend verhalten könne, »andererseits in der moralischen Neutralisierung jener Vergangenheiten, die nur Kritik und Ablehnung herausfordern würden«.

Wenn die amerikanischen Bischöfe die Kernwaffen als unmoralisch verwerfen, den Kampf gegen das Wettrüsten als erweiterten Gottesdienst begreifen, dann kommt einer wie Strauß nicht mehr mit: »Irrationale Sehnsüchte«, »töricht«. Er versteht dafür den Kardinal Francis Spellman, der den Vietnam-Krieg als »Krieg zur Verteidigung der Zivilisation« rechtfertigte.

Einer wie Strauß begreift Moral ganz anders. Die »geschwächte moralische und materielle Verteidigungskraft« will er »stärken«. Er weiß noch Freund und Feind zu unterscheiden, das hat er in den 50er Jahren gelernt. Der Anspruch auf Überlegenheit, den US-Präsident Ronald Reagan erhebt, ist ganz nach seinem Geschmack. Die Sicherheitspartnerschaft, von der Helmut Schmidt stets sprach, war ihm zuwider, weil sie die Freund-Feind-Verhältnisse verwischt.

Nach den Begriffen von Strauß betreibt auch Hans-Jochen Vogel »Schindluder mit unserer Sicherheit«, weil er Raketen auf deutschem Boden verhindern will. Das Bekenntnis der Grünen Petra Kelly, »lieber tot als Massenmord«, ist für ihn unwirklich und weltfremd. Er braucht die »Geborgenheit eines geschlossenen Systems« (so der SPD-Abrüstungsexperte Egon Bahr), dann fühlt er sich sicher.

Aber sichert das Wettrüsten den Frieden? Geht die Nachkriegsgleichung auf: Je mehr Raketen, desto größer die Abschreckung? Wenn schon im Sandkasten geprobt wird, ob der Atomkrieg zu gewinnen ist, dann wird der Ausbruch, und sei es auch nur aus Versehen, wahrscheinlicher. Das Ergebnis solcher Planspiele: mindestens 20 Millionen Tote auf beiden Seiten.

Die Gemütslage derartiger Krisenmanager beschrieb der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger: »Die einzigen, die dem Jahr 2000 voller Frohsinn entgegenmarschieren, mit der Unbeirrbarkeit von Lemmingen, sind heutzutage die Technokraten.«

Die Macher haben, mit ihrer traditionellen Politik, der Bundesrepublik 2,5 Millionen Arbeitslose beschert. In der EG sind über zwölf Millionen, in den westlichen Industrieländern über 30 Millionen Menschen ohne Job. Mit den gleichen Mitteln, die bei der Aufgabe versagt haben, Massenarbeitslosigkeit zu verhindern, streben die Politiker nun draußen im Lande und weit in der Welt auf ein Ziel los, das unter den veränderten S.30 Bedingungen ebenso falsch wie nicht erreichbar ist: die Restauration der goldenen vollbeschäftigten Vorkrisenzeit.

Das war die Zeit, als die Jugend noch pünktlich und gehorsam war, als sie vor allem anderen »Leistung« zeigte. »Leistung muß wieder was bringen«, verlangt Helmut Kohl im Wahlkampf, dann werde man den Aufschwung schon schaffen - wie nach 1945.

Doch obwohl der Winterwahlkampf läuft, obwohl es um die Macht geht, werden selbst in der Union Zweifel an so simplen Direktiven laut. Da ist plötzlich der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth mit dem Grünen-Werber Heinrich Böll einig.

Späth zu Kohls Aufbruch-Phantasien: »Ärmel aufkrempeln, 50 Stunden arbeiten, das ist keine Antwort, die wir den Jungen geben können.« Böll: »Mit der kumpelhaften Aufforderung, die Ärmel hochzukrempeln, ist keinem gedient, der wohl anpacken möchte, aber nichts findet, was er anpacken kann.«

Es könne sich als gefährlich erweisen, warnt Böll, den Arbeitslosen falsche Hoffnung auf herkömmliche Arbeitsplätze zu machen - gefährlicher jedenfalls, als öffentlich zuzugeben, daß Arbeit herkömmlicher Art knapp bleiben werde.

Des Dichters Bundesgenosse in der wachstumsvernarrten Union sieht das genauso. Wenn es denn überhaupt Wachstum geben werde, so Späth, dann müsse es sich um eines mit »sehr viel stärkerem immateriellem Wertbewußtsein handeln«, allein schon deshalb, »weil in den nächsten 20 Jahren viel mehr materielle Güter als heute nicht zur Verfügung stehen werden«.

Die Schlußfolgerung aus dieser Erkenntnis allerdings verbreitet er derzeit lieber nicht: daß die zentrale Strategie gerade seiner Partei unsinnig ist, nämlich den Bürgern einzureden, ausreichendes Wirtschaftswachstum sei möglich und damit auch die Wiederherstellung der Vollbeschäftigung.

Der technische Fortschritt - da sind alle Experten ausnahmsweise einig - kann in den folgenden Jahren dazu führen, daß jährlich etwa drei Prozent mehr Güter produziert und Dienstleistungen erbracht werden, ohne daß deswegen auch nur ein Mann oder eine Frau zusätzlich einen Arbeitsplatz fände. Voriges Jahr aber stieg das Wirtschaftswachstum nicht, es sank um 1,2 Prozent. Für 1983 peilt die Bundesregierung das Ziel an, wenigstens gleich viel Güter und Dienste bereitzustellen wie im Vorjahr.

Schon dieses Ziel ist ehrgeizig genug. Da aber der Produktivitätsfortschritt fest einprogrammiert ist, bedeutet Wachstumsstillstand zwangsläufig ein weiteres Anwachsen des Heeres von Arbeitslosen. Es wird noch verstärkt durch rund 100 000 Jugendliche und Ausländer, die zusätzlich jedes Jahr einen Job haben wollen. Selbst bei einem Wirtschaftswachstum von drei Prozent im Jahr, an das überhaupt nicht zu denken ist, würde die Arbeitslosigkeit in den nächsten fünf Jahren noch zunehmen. Erst bei sechs Prozent Zuwachs könnten, mittelfristig, jeder Mann und jede Frau in Arbeit und Brot gebracht werden.

Ein absurdes Wachstumsziel: Die Vorstellung, im Jahre 1992 würden doppelt so viele Autos neu zugelassen wie 1982, doppelt so viele Fernseher und Rasenmäher verkauft, ist eine Schreckensvision. Wenn solch ein Tempo in allen Industrieländern vorgelegt werden könnte, dann wären die Rohstoffe bald aufgezehrt, die Ausbeutung der Dritten Welt würde forciert.

Spätestens dann hätte die »Konsum-Solidarität« der Menschheit (Meyer-Abich) den »Frieden mit der Natur« endgültig zerstört. Luft, Wasser und Boden wären irreparabel geschädigt, das Überleben der Spezies Mensch auf dem Raumschiff Erde könnte nur durch immer aufwendiger werdende Technik ermöglicht werden.

Das Versprechen der Union, die Vollbeschäftigungsgesellschaft der frühen 70er Jahre mit den Methoden und Tugenden der 50er Jahre zu restaurieren, ist nicht zu halten. So sieht es auch CDU-Späth: »Nirgends steht geschrieben, daß die Industriegesellschaft die Krone der Schöpfung und die 40-Stunden-Woche das Mindestmaß an Arbeit sei, dessen ein Mensch bedürfe.«

Wenn Grüne so etwas sagen, werden sie von den Unionschristen als Zerstörer der Industriegesellschaft geschmäht. Aggressiv propagieren Kohl und Stoltenberg, Strauß und Lambsdorff in diesem Wahlkampf die Sehnsucht nach der schönen alten Industriewelt.

Auch die meisten Genossen und Gewerkschaften verweigern sich noch der Erkenntnis, daß die Arbeitslosen auch dann nicht in den Fabrikhallen und Verwaltungstürmen verschwinden werden, wenn die Wirtschaft anspringt.

Alt-Kanzler Schmidt tönt wie eh und je, es sei unsinnig, gerade in Krisenzeiten die Verhältnisse zu ändern. Hans Apel will im Wahlkampf ebenfalls nicht mit vagen Vorstellungen über zukünftige Entwicklungen aufwarten, sondern mit seinen Wählern lieber über »dreifuffzich mehr oder weniger« reden.

Doch es geschieht auch schon anderes. Apel hat immerhin gelernt: »Die Macher-Attitüde war schnell kaputt.« Was als Ersatz kommen soll, will er öffentlich nicht diskutieren: »Sonst denken die Wähler: Nun fängt der auch noch an, Quatsch zu reden.«

Davor haben sie eine Heidenangst, die plötzlich von Selbstzweifeln befallenen Politmanager: »Quatsch« zu reden, mit den »Spinnern«, den Grünen aller Schattierungen verwechselt zu werden. Dabei hatten doch Genossen wie Erhard Eppler S.31 schon vor acht Jahren ("Ende oder Wende"), hatten die Alternativen so viel häufiger recht als die selbstgewissen Experten: beim Energieverbrauch, beim Schnellen Brüter, beim Waldsterben, bei Wasserverseuchung und Säureverklappung in der Nordsee.

Die »wunderlichen oder sektiererischen Formen« (Meyer-Abich), mit denen Friedensbewegte, Ökobauern und Grüne ihre Argumente vortragen, ihre Utopien entwickeln, stoßen das Bonner Establishment ab. Meyer-Abich, den Vogel aus Sorge um die Umwelt und Furcht vor Stimmenverlusten an die Alternativen in seine Mannschaft geholt hat, fühlt sich zwar auch als Grüner. Doch er gibt zu bedenken, daß die Alternativen schließlich nicht das Recht gepachtet haben, in die Zukunft zu denken, nur weil sie Alternative sind.

Unter Kritikern oder gar Sektierern lasse sich aber leichter jemand finden, der so weit denkt, wie es nötig sei, als bei denen, die »sich heute angstvoll an die Ziele von gestern klammern und jeden, der diese auch nur in Frage stellt, abwehren als einen, der gegen alles ist«.

Diesem Muster folgt etwa Graf Lambsdorff, wenn er den Grünen vorwirft, sie planten den Ausstieg aus der Industriegesellschaft. In ihrem Programm verlangen die Grünen etwas anderes: den »teilweisen Abbau und den Umbau« des Industriesystems.

Damit stehen sie nicht allein. Dies ist auch Vogels Vorstellung, sonst hätte er sich nicht Meyer-Abich zum Berater nehmen können. Und CDU-Späth glaubt sich im Einklang mit vielen Jugendlichen, denen Konsum immer weniger bedeutet, sinnvolle Freizeit aber immer mehr: »Die waschen ihre Jeans hundertmal, denen kann keiner mehr mit einem neuen Anzug imponieren.«

Der Frankfurter Ökonom Bertram Schefold hat durchgespielt, wie sich eine Weiterentwicklung der klassischen Wirtschaftspolitik und wie sich alternative Konzepte auf den Energiebedarf auswirken könnten.

Im ersten Fall müßte ein gewisser Prozentsatz von Arbeitslosen weiter aus dem Ertrag der Arbeitenden ernährt werden - so wie schon bisher: 1982 wurde die Arbeitslosigkeit in der Bundesrepublik mit 50 Milliarden Mark subventioniert.

Im zweiten Fall würden diese Erwerbslosen irgendeine selbstgewählte Arbeit verrichten, sei es nun Pullover stricken oder Tische schreinern. Diese Fertigung ist zwar nicht so produktiv wie Industriearbeit, macht dem Arbeitenden aber mehr Freude als das Fließband - deshalb soll sie ihm subventioniert werden. Zum Ausgleich für die höhere Arbeitsbefriedigung müßte sein Einkommen aber deutlich unter dem Verdienst des Industriearbeiters liegen.

Auch andere - keineswegs grüne - Pläne, die Arbeitslosen sinnvoll als Altenpfleger, als Landschaftsgärtner oder als Umweltschützer zu beschäftigen, zielen in diese Richtung: die Produktivität des industriellen Sektors der Wirtschaft umzuverteilen auf weniger produktive, personalintensive Sektoren. Ein »zweiter Arbeitsmarkt«, so das SPD-Konzept, soll entstehen.

Auch Lothar Späth will dafür Staat, Wirtschaft und Gesellschaft schröpfen. Seine Arbeitslosen sollen 20 bis 25 Stunden wöchentlich arbeiten, ein Gehalt deutlich über dem Arbeitslosengeld beziehen und in der Freizeit an ihrer Weiterbildung arbeiten. Da Freizeit an Bedeutung gewinnen müsse, wünscht Späth sich eine »verstärkte Hinwendung zur Familie«, die Übernahme »sozial-pflegerischer oder umweltschützender Aufgaben« oder Lust auf »handwerkliche Leistungen und künstlerische Versuche«.

Anders als Kohl und Lambsdorff unterstellen, will weder die Grünen-Partei noch die Minderheit der Umwelt- und Arbeitsmarktutopisten in der SPD die neue Welt zum Nulltarif. Auch da ist Späth mit von der Partie. Er hält eine gewisse Nivellierung der Einkommen für unerläßlich: »Die Inhaber traditioneller Besitzstände werden zu zumutbaren und individuell variablen Solidaritätsopfern herangezogen.«

Späth sieht die Welt am Beginn eines »säkularen Wandlungsprozesses«, dessen Ergebnis noch nicht erkennbar ist. Auch Heinrich Böll registriert »große, noch nicht genau erkenn- und analysierbare Veränderungen«. In einem sind beide mit Erhard Eppler einig: »Die Fortschreibung bestehender Trends ergibt keine Politik.«

Ergibt keine Politik? Die Fortschreiber sehen das anders.

Für sie ist die Umwelt immer noch ein Reservoir von Rohstoffen. Die Zerstörung, bei der Ausbeute unerläßlich, will Strauß gerade »mit moderner Technik« wieder »in Griff kriegen«. Dem Forschungsminister Heinz Riesenhuber kam als Antwort auf das Waldsterben eine besonders gelungene Idee: Er will Bäume züchten, denen der Saure Regen nichts anhaben kann.

Seit die Grünen die Chance haben, auch in Bonn ins Parlament einzurücken, reagieren die Technokraten verschreckt. Industrieführer warnen vor grünen Ajatollahs. Gewerkschafter, im Verein mit Rechtsliberalen und Unionschristen, machen sie jetzt schon verantwortlich für künftige Massenarbeitslosigkeit. CSU-Generalsekretär Stoiber sieht »antidemokratische Kräfte« am Werk und warnt: »Wehret den Anfängen.« Strauß stellt die Grünen außerhalb der Verfassung. Und alle beschwören ein drohendes Chaos, die Unregierbarkeit der Republik.

Die Grünen fragen zurück, ob nicht gerade die anderen längst das Chaos angerichtet hätten - in der Umwelt, auf dem Arbeitsmarkt, durch Wettrüsten.

Die Ausgangslage für diese Wahl, so der Schriftsteller Carl Amery auf dem Bundestreffen der Grünen in Sindelfingen, sei klar: »Wir, die wenigen Realisten in der bundesdeutschen Politik (und vorläufig ziemlich ohnmächtig), haben anzutreten gegen eine mächtige Allianz von Utopisten und Traumtänzern, die sich selbst allerwichtigste Tatsachen vorenthalten und sie dem Wähler vorenthalten wollen. Sie werden, wenn sie weiter das Sagen haben sollten, diese Republik unregierbar machen.«

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