»Mit Kohl werden wir noch Spaß haben«
Nur vor CDU-Generalsekretär Heiner Geißler getraute sich Helmut Kohl seinen Rachegefühlen freien Lauf zu lassen. Im Fond des Dienst-Mercedes, auf der Fahrt nach Bonn, schwor der CDU-Vorsitzende vergangenen Mittwoch: Sollte die CSU tatsächlich zur Europawahl auch außerhalb Bayerns um Wähler werben, dann werde er zurückschlagen, dann kandidiere die CDU auch in Bayern.
Geißler, immer schon Verfechter einer massiven Vergeltung gegen die renitenten Alpenländler, stimmte begeistert zu. Er bestärkte seinen Chef noch, es dem CSU-Vorsitzenden Franz Josef Strauß endlich einmal heimzuzahlen.
Nützlich für die Union, darüber ist sich Kohl im klaren, wäre die große Abrechnung nicht -- zumindest bei den Europawahlen und den nächsten Landtagswahlen müßte die Union den Zwist mit Stimmenverlusten bezahlen. Doch wenigstens könnte er dann, so glaubt der Christdemokrat, Strauß die Schuld zuschieben und die Diskussion von seiner eigenen Person weglenken. Vor allem aber hofft er, seinen ruinierten Ruf als tatkräftiger Parteiführer wiederherzustellen, sollte die CDU in Bayern tatsächlich als CSU-Konkurrenz antreten.
Eine bundesweite Rivalität zwischen Christdemokraten und Christsozialen hätte indes für die CDU noch eine andere -- fatale -- Folge: Sie müßte die Bonner Fraktionsgemeinschaft auflösen. Nach Paragraph 10 der Bundestagsgeschäftsordnung nämlich dürfen sich nur Parteien zu einer Fraktion verbinden, die »in keinem Land miteinander im Wettbewerb« stehen. Daß diese Bestimmung auch für die Europawahl gilt, wollen und können die Sozial- und Freidemokraten mit ihrer Mehrheit im Bundestag beschließen.
Trennen sich CDU und CSU im Bundestag, verlieren sie auch das Recht, den Bundestagspräsidenten zu stellen. Die Sozialdemokraten könnten dann wieder das zweithöchste Amt im Staat besetzen, das nach parlamentarischem Brauch der stärksten Fraktion zusteht. Der derzeitige Parlamentsvorsteher Karl Carstens hat öffentlich erklärt, er werde zurücktreten, wenn die Union nicht mehr die größte Fraktion stelle -- kein schöner Abgang für einen Mann, der im Mai Bundespräsident werden will.
Ob es soweit kommt, liegt allein bei Franz Josef Strauß. Der Bayer zögert noch; allzugut weiß er, daß Kohl nur darauf lauert, mit dem Thema Bundes-CSU die Personaldebatte in der CDU wegzudrücken.
In der Sitzung des CSU-Landesvorstandes am vergangenen Montag lehnte Strauß es ab. sich bereits jetzt auf einen Probelauf der Vierten Partei zur Europawahl festzulegen. Und auch jener verlorene Haufen, der in der letzten Woche mit dem Projekt einer »liberalkonservativen Aktion« als Partner der CSU von sich reden machte, vermochte den CSU-Chef nicht umzustimmen. Da er diesen Leuten keine Chance gibt, zeigt er sich an einer Listenverbindung nicht interessiert (siebe Seite 19).
Ob Strauß aber auch außerhalb Bayerns eine CSU-Liste zur Europa-Wahl auslegt, was er ohne Änderung der Parteisatzung könnte, hängt von der weiteren Entwicklung in der CDU ab. Strauß am vergangenen Donnerstag zum SPIEGEL: »Es ist bis jetzt weder ein Beschluß noch eine innere Entscheidung getroffen.«
Schneidet etwa die CDU bei den Landtagswahlen in Berlin und Rheinland-Pfalz am 18. März schlecht ab und demontiert sie sich weiter, indem sie auf dem Kieler Parteitag in der folgenden Woche, statt einen neuen Vorsitzenden zu küren, Kohl lediglich mit einem faden Stimmergebnis straft, dann träumt Strauß vom Abkoppeln. Dann, so seine Überlegungen, könnte die Delegiertenversammlung der CSU, die am 31. März über die endgültige Zusammensetzung ihrer Europaliste zu beschließen hat, gleich auch über eine außerbayrische Präsentation der Christsozialen befinden.
So wird es wieder an Kohl liegen, ob die Einheit der Union, von ihm in der Vergangenheit stets als wichtigstes Erbe der Adenauer-Ära beschworen, auch diesmal noch zu retten ist. Einstweilen hält sich der CDU-Vorsitzende weiter an seine Devise, mit der er gerade eben die schlimmsten Stürme der Kritik über sich hat ergehen lassen: abwarten und nichts tun. Kohl glaubt, die CDU -- »immer noch keine wirkliche Partei wie die SPD« -- durchlaufe gegenwärtig wegen allzu langer Machtabstinenz einen Prozeß der »Selbsthysterisierung«, der freilich schon wieder abklinge.
Auch an der Spitze der Fraktion bleibt alles beim alten. Entgegen den großen Ankündigungen des Vorsitzenden wird die Führung nicht gestrafft, die insgesamt 19 Würdenträger des neuen »geschäftsführenden Vorstands« -- der Fraktionschef und seine Stellvertreter, parlamentarische Geschäftsführer und Arbeitskreisvorsitzende -- machen in Wahrheit das, was sie auch bislang getan haben: Sie werden regelmäßig beraten.
Die Schuld am ganzen Elend vermag Kohl nicht etwa bei sich zu entdecken: Der »Feigling« Hans-Dietrich Genscher, Führer der FDP, habe ihm alles eingebrockt. Er sei von den Liberalen schmählich im Stich gelassen worden. Genscher habe einst gegenüber der Präsidenten-Familie Scheel unmißverständlich erklärt, er wolle im Lauf dieser Legislaturperiode in Bonn von der Seite der SPD zur Union überwechseln.
Nun will Kohl, der zwei Jahre lang auf derlei Hörensagen seine ganze Bonner Strategie aufgebaut hatte, von den Freidemokraten überhaupt nichts mehr wissen. Die nämlich würden sich weder 1980 noch bei der übernächsten Bundestagswahl, 1984, von den Sozialdemokraten lösen.
Seine selbstverschuldete Enttäuschung kompensiert der verdrossene Pfälzer mit einer verblüffenden Einschätzung der eigenen Lage: Allen Demütigungen zum Trotz möchte er auch künftig von seinem »Grundrecht der freien Berufswahl Gebrauch machen« und Bundeskanzler werden.
Sendungsbewußtsein? Stehvermögen? Mangel an Entschlußkraft? Amtsvorgänger Rainer Barzel, die verstellten Horizonte seines eigenen trostlosen Marsches durch die Talsohle vor Augen: »In Sachen eigener Karriere ist Kohl ein Genie.«
Sein nächster Geniestreich: Erst einmal in Kiel im Amt des Parteivorsitzenden bestätigt -- mit welchem Ergebnis auch immer -, will Kohl wieder um die Kanzlerkandidatur kämpfen.
Folgerichtig plant er, die Partei mit der Drohung eines totalen Ämterverzichts unter Druck zu setzen. Schon heute kündigt Kohl seinen Freunden an: »Am selben Tag, an dem ein anderer als. Kanzlerkandidat nominiert wird, lege ich den Vorsitz von Partei und Fraktion nieder. Ich sage dann nur, bitte, hier ist mein Stuhl, und bin wieder der einfache Abgeordnete Kohl.«
Solch starke Worte meint der Christdemokrat sich erlauben zu können, weil er unerschütterlich und nicht ganz wirklichkeitsfern am Glauben festhält, er sei und bleibe ohne personelle Alternative in der CDU. Nach wie vor sieht er sich gegenüber allen Konkurrenten im Vorteil.
Und in der Tat zerstoben und zerstieben so manche CDU-Träume vom wohlfeilen Kohl-Ersatz. So die Vision vom Supermann Dregger, seitdem er in Hessen die SPD/FDP-Koalition nicht hatte unterbügeln können. Zwar gilt Gerhard Stoltenberg wegen seiner Kompetenz in Wirtschaftsfragen noch Immer als potentieller Kanzlerkandidat. Aber die Kohl-Anhänger nehmen ihn schon deshalb nicht ernst, weil der Kieler Ministerpräsident Mühe haben wird, seine Landtagswahl am 29. April zu gewinnen. Südlich des Main, als Kanzlerkandidat der Union, sei der unterkühlte Norddeutsche ohne jede Chance.
Rivale Kurt Biedenkopf, so trösten sich Kohls Mannen, sei dabei, die Union Gruppe für Gruppe zu verprellen. Gegen den kleinen Professor stehe nicht nur der Arbeitnehmerflügel der CDU, auch die einflußreiche Mittelstandsvereinigung unter dem Konkurrenzprofessor Gerhard Zeitel wolle von Biedenkopf nichts mehr wissen.
Die nach vorn drängenden Ministerpräsidenten Bernhard Vogel und Lothar Späth sind in den Augen Kohls nicht gefährlich. Vogel wird in Rheinland-Pfalz größte Schwierigkeiten haben, das außerordentlich gute Wahlergehnis seines Vorgängers Helmut Kohl auch nur annähernd wieder zu erreichen. Das gleiche gilt für Späth, den Nachfolger des Stimmenfängers Filbinger in Baden-Württemberg.
Und nicht einmal vom machtbewußten niedersächsischen Ministerpräsidenten Ernst Albrecht sieht Kohl sich ernsthaft bedroht: Albrecht stehe solidarisch zu ihm. So hat der Niedersachse über sein vertrauliches Vier-Augen-Gespräch in München mit Franz Josef Strauß Ende vorletzter Woche seinem Parteivorsitzenden Kohl prompt Bericht erstattet.
Seither glauben Kohl-Vertraute zu wissen, daß Strauß sich mit dem Münchner Exil noch immer nicht abgefunden habe. In einem langen Monolog habe er dem Niedersachsen seine tiefe Verbitterung darüber bekundet, nach dem Abtreten von Adenauer und Erhard vom Schicksal um die Kanzlerchance gebracht worden zu sein. Albrecht, so mutmaßt die Kohl-Crew, erstrebe gar nicht die nur im Kampf zu erstreitende Kanzlerwürde, sondern schiele viel eher nach dem geruhsameren Amt des Bundespräsidenten.
Gesichert an dieser Spekulation ist einstweilen nur, daß Carstens tatsächlich überlegt, das Präsidentenamt bloß fünf Jahre, bis 1984, auszuüben. Ein Carstens-Mitarbeiter: »Der Mann ist Jahrgang 1914. Siebzig Jahre sind ein rundes Datum, um aufzuhören. Aber das hängt alles auch noch vom Gesundheitszustand ab.«
So bleibt allein Franz Josef Strauß der Mann, den Kohl auch künftig am meisten fürchten muß. Könne der schon nicht Bundeskanzler werden, so wolle er wenigstens die Macht, so Kohls Ahnung, mit Helmut Schmidt teilen: Der Kanzler regiere mit der sozialliberalen Mehrheit im Bundestag, Franz Josef Strauß mit der Unionsmehrheit im Bundesrat.
Der CDU-Vorsitzende ist entschlossen, die Pläne des Bayern zu durchkreuzen. Schon hat er in Einzelgesprächen mit christdemokratischen Ministerpräsidenten davor gewarnt, Strauß die Führerrolle im Bundesrat zu überlassen. Denn dann sei es aus mit der Politik der Mitte, dann werde Strauß politisch die gesamte Union auf seinen Rechtskurs zwingen.
Den CSU-Chef indes beeindruckt Helmut Kohls unerschütterlicher Glaube an sich und seine Sendung wenig. Strauß gelassen: »Den sind wir so schnell nicht los. Mit dem werden wir noch Spaß haben.«