In Bonn sprießen die Spekulationen, welche entspannungspolitischen Sonderangebote Michail Gorbatschow noch im Sortiment hat. Hintergrund: Kanzler Helmut Kohl hatte Tageszeitungs-Chefredakteuren aus der Provinz an einem Maien-Tag erzählt, er würde sich gar nicht wundern, wenn der Reformer im Kreml bald noch weiter reichende Vorschläge mache und dabei auch an Pläne des früheren polnischen Außenministers Adam Rapacki für eine kernwaffenfreie Zone in Mitteleuropa aus dem Jahre 1958 anknüpfe.
Solche Worte aus höchstem Munde befeuerten Visionäre des Regierungslagers zu dem Gedankenflug, der Kreml-Chef werde um den Preis des Truppenabzugs der Supermächte aus Europa den Deutschen die Wiedervereinigung andienen. FDP-Graf Otto Lambsdorff, der seit einiger Zeit die Dosis erhöhen muß, um Schlagzeilenwirkung zu erzielen, vertraute »Bild« an, »der Wiedervereinigungsvorschlag überrascht mich nicht«, er habe »so etwas« schon vor Wochen den Amerikanern angekündigt.
Parteifreund Hans-Dietrich Genscher tat »so etwas« als Unsinn ab. Der Außenminister: »Ich lehne es ab, mich weiter damit zu beschäftigen.« SPD-Oppositionsführer Hans-Jochen Vogel juxte vorigen Donnerstag vor seiner Abreise nach Ost-Berlin, er werde mit SED-Chef Erich Honecker dann schon mal die Kabinettsliste durchgehen« - für eine gesamtdeutsche Regierung. Ergänzte CDU-Kanzleramtsminister Wolfgang Schäuble: »Mit Lambsdorff als Regierungssprecher. »
Der einzig erkennbare Sieger in der Geisterdiskussion scheint Ottfried Hennig, 50, Parlamentarischer Staatssekretär im Innerdeutschen Ministerium zu sein. Er hatte in einer Besprechung der Memoiren des sowjetischen Ex-Botschafters und »DDR-Statthalters« Pjotr Abrassimow im SPIEGEL vor zweieinhalb Jahren gewettet, die Sowjets würden im Laufe der nächsten fünf Jahre die »deutsche Karte« spielen. Der Kreml scheint dies nicht vergessen zu haben.
Grünen-MdB Otto Schily richtete Hennig letzte Woche nach einem Moskau-Besuch aus: Er habe ja noch eine interessante Wette laufen, die noch nicht verloren sei.