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»Mit offenem Visier auftreten«

Als »Element des vom Grundgesetz abgelehnten Gestapo-Systems« bezeichnet ein internes Regierungspapier uneingeschränkte Informationsflüsse zwischen Polizei und Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV). Aufgeworfen wurde die Frage nach den Grenzen solcher »Amtshilfe« durch den Verbund zwischen Datenbanken von Polizei und Nachrichtendiensten und durch die elektronische Beschaffung, die der Bundesgrenzschutz auf Ersuchen des BfV vornimmt (SPIEGEL 20 und 22/1979). Autor der Expertise ist Gerhard Loewenich, Leiter der Abteilung Innere Sicherheit des Innenministeriums. Auszüge:
aus DER SPIEGEL 23/1979

Das Grundgesetz wollte die Trennung von Polizei und Verfassungsschutz wegen der schrecklichen Erfahrungen der Nazi-Zeit.

Eine Konsequenz dieser vom GG bewußt angelegten Trennung könnte

... sein, daß ein systematischer Aufgabenverbund zwischen Polizei und Verfassungsschutz nicht zulässig ist in der Weise, daß die Polizei systematisch und nicht nur im Einzelfall (im Wege der Amtshilfe) Informationen für den Verfassungsschutz sammelt.

Immerhin wäre bei einem systematischen Informationsgewinnungsverbund Polizei/Verfassungsschutz ein Element des vom GG abgelehnten Gestapo-Systems, nämlich die umfassende, alle Bereiche erfassende und zugleich die Möglichkeiten einheitlich zentraler Auswertung nutzende Informationsgewinnung, erhalten.

Die verfassungsmäßige Ordnung des Grundgesetzes geht davon aus, daß der Staat dem Bürger offen gegenübertritt, daß der Bürger zu erkennen vermag, wenn der Staat ihm gegenüber Maßnahmen ergreift.

Die Rechtsweggarantie in Art. 19 Abs. 4 GG hat nur dann ihre volle Wirkung, wenn das Prinzip des gegenüber dem Bürger offen und transparent handelnden Staates strikt durchgeführt wird.

Möglicherweise gibt es eine Ausnahme zu diesem verfassungskräftigen Offenheitsprinzip: Das GG hat ausdrücklich den Verfassungsschutz vorgesehen, der seinem Wesen nach ein Nachrichtendienst ist und der auch mit nachrichtendienstlichen Mitteln zu arbeiten befugt ist.

Das Privileg des Verfassungsschutzes, dem Bürger nicht mit offenem Visier gegenübertreten zu dürfen, darf wegen seines Ausnahmecharakters nicht extensiv genutzt werden. Mit anderen Worten: Die Möglichkeit des Verfassungsschutzes, insgeheim und ohne daß der Betroffene es wahrnimmt, Informationen über ihn sammeln zu können, kann nicht beliebig auf andere Behörden übertragen werden, auch nicht im Wege der Amtshilfeersuchen. Ein (systematisches) geheimes Sammeln von Informationen über den Bürger ist anderen Behörden als dem Verfassungsschutz versagt.

Auch die Polizei darf Informationen über den Betroffenen nur offen sammeln. (Die polizeilichen Ermittlungen im Rahmen des strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens sind nur scheinbar eine Ausnahme: Ihr Ergebnis findet Eingang in die Ermittlungsakten, in die der Betroffene über seinen Verteidiger Einblick nehmen kann.)

Nach § 3 Abs. 3 Satz 1 VerfSchG stehen dem BfV keine polizeilichen Befugnisse oder Kontrollbefugnisse zu. Bei dieser Bestimmung handelt es sich um eine vom Gesetzgeber aufgrund der Erfahrungen der Nazi-Zeit bewußt angeordnete Begrenzung des Verfassungsschutzes.

Diese gesetzlich gewollte. Beschränkung würde weithin illusorisch gemacht, wenn das BIN zwar nicht selbst kontrollieren, aber die Polizei um die Vornahme von Kontrollen und Mitteilung des Ergebnisses ersuchen könnte. Eine solche Gestaltungsmöglichkeit wäre wohl eine bewußte Umgehung des Gesetzes.

Auch für den Verfassungsschutz gelten die im Polizeirecht entwickelten Grundsätze der Geeignetheit, Erforderlichkeit, Verhältnismäßigkeit. Das heißt, er darf nur dann und insoweit Informationen über Bestrebungen nach § 3 Abs. 1 VerfSchG sammeln, als diese Informationen geeignet und erforderlich sind, um solche Bestrebungen zu erkennen, und er muß beim Sammeln mit Anwendung nachrichtendienstlicher Mittel den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachten.

Es erscheint zweifelhaft, ob diese Grundsätze bei den generellen Ersuchen an den BGS, allgemeine Informationen bestimmter Art dem BfV zu melden, beachtet waren.

Möglicherweise ist auch folgende Überlegung ein Ansatzpunkt für eine sachgemäße Differenzierung: Nach § 3 Abs. 1 VerfSchG ist es Aufgabe des BIN, »Bestrebungen« gegen die freiheitlich demokratische Grundordnung zu sammeln.

Man (wird) vielleicht hinsichtlich solcher Aktivitäten differenzieren können: Aktivitäten im Vorfeld des Landesverrats und der Staatsgefährdung bewegen sich in der Nähe strafrechtlicher Vorschriften. Sie erscheinen daher dem Zugriff des Nachrichtensammelns durch den Verfassungsschutz eher offen als solche Aktivitäten, die -- ohne in die Nähe des Strafrechts zu gelangen -- »lediglich« extremistisch sind. Man wird insbesondere beim strafrechtlich nicht relevanten Extremismus auch den hohen, für die demokratische Staatsordnung schlechthin konstitutiven Wert des Grundrechts der Meinungsfreiheit zu beachten haben.

Eine Differenzierung in der Intensität der Informationsbeschaffung durch den Verfassungsschutz in dieser Richtung wäre wohl eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit. Auch insofern müßten Amtshilfeersuchen des BfV geprüft werden.

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