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EHRENBÜRGER Mit starker Hand

aus DER SPIEGEL 43/1966

Schon zweimal hatte Georg Sinner, Bürgermeister im bayrischen Wolfertschwenden, von Herzen gehofft, seine Mitbürger würden ihn endlich zum Ehrenbürger machen. Zweimal, an seinem 70. und 75. Geburtstag, war der Wunsch unerfüllt geblieben.

Nun nahte der 80., und wiederum erschien den 600 Allgäuern ihr Sinner nicht bedeutend genug, ihn als ersten mit einem Ehrenbürgerbrief auszustatten. Das, obwohl er die Gemeinde seit 1929 regiert - mit einer Unterbrechung zwischen 1945 und 1952, als die Amerikaner dem NS-Ortsgruppenleiter ein öffentliches Amt verwehrten.

Georg Sinners Langmut war erschöpft. »31 Jahre«, so grollte er, »lenke ich nunmehr die Geschicke der Gemeinde, und nun wollen sie mich mit einem Almosen abspeisen.«

Das Almosen: ein Fernsehgerät, das die acht Ratsherren dem verdienten Greis zuwenden wollten. Vom Jubilar abgewiesen, machten sich die Gemeindeväter dann doch daran, ihrem Sinner den Herzenswunsch auf parlamentarischem Wege zu erfüllen. Es war ein beschwerlicher Weg.

Schon die erste Abstimmung hatte ein unerquickliches Ergebnis: Zwei Ratsherren waren für die Ehrenbürgerschaft, fünf aber dagegen. Sinner knöpfte sich seinen Stellvertreter Hans Fleschhut vor: »Ja, leben die denn hinter dem Mond?«

Das wollte Fleschhut nicht auf sich beruhen lassen, und er ließ noch einmal abstimmen, diesmal schriftlich. Doch es klappte wieder nicht. Der Stellvertreter errechnete vier Minus- und Vier Pluszeichen und mithin Ablehnung.

Kurzerhand erklärte daraufhin-Fleschhut, die Abstimmung sei »nicht ordnungsgemäß verlaufen«. Ihm war rechtzeitig die bayrische Gemeindeordnung in den Sinn gekommen, die ein schriftliches Votum in solchen Fällen nicht vorsieht. Fleschhut später: »An und für sich hatte ich das auch gewußt.«

Zur dritten Abstimmung rief Fleschhut seine Räte in die Gastwirtschaft »Zum Adler«. Zwei Stunden lang debattierten die Volksvertreter über das Für und Wider der Ehrenbürgerschaft, dann stimmten vier dafür, vier dawider.

Hernach aber, beim Bier, wurde dem Gemeinderat von Wolfertschwenden die Tragweite des abschlägigen Votums bewußt. Denn Bürgermeister Sinner ist als ehemaliger Versicherungsinspektor nicht nur des Lesens und Schreibens kundig, er vermag auch Formulare auszufüllen und sogar Renten zu berechnen. Und ein zurückgetretener Sinner könnte im Gemeindeamt ein bürokratisches Chaos nach sich ziehen.

Ein rascher Entschluß tat not. So bat Hans Fleschhut zu einer neuen Sitzung - für den nächsten Tag. Und weil es sowieso schon spät war, blieb man gleich sitzen und begann um Mitternacht.

Doch da tauchte eine neue Widrigkeit auf: Ein Ratsherr war schon nach Hause gegangen. Fleschhut eilte an die Schlafstatt des Frühheimkehrers: ob er damit einverstanden sei, den letzten Sinner-Beschluß »für gegenstandslos« zu erklären? Er war es, wie die meisten anderen.

Endlich stimmten sechs Männer für den Ehrenbürgerbrief. Georg Sinner bei der großen Feier, glücklich das Papier schwenkend: Er werde auch weiterhin »die Geschicke von Wolfertschwenden mit starker Hand lenken«.

Bürgermeister Sinner

Entscheidung nach Mitternacht

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