»Mit unserem Freund Ludwig ...«
Macht Ludwig Poullain, 61, der sachverständige Angeklagte vor einer Großen Strafkammer des Landgerichts Münster, Pluspunkte? Ist die Anklage, die immerhin auf Betrug und Bestechlichkeit lautet, ins Wanken geraten? Die Auguren, die Deuter des Vogelflugs und anderer Naturerscheinungen, oder besser: die »kundigen Thebaner«, die eingeweihten Männer aus Shakespeares »König Lear«, die Ludwig Poullain so gerne anruft, murmeln und grübeln.
Doch »immer step für step, Schritt vor Schritt«, um ein Ludwig-Poullain-Wort zu gebrauchen, das Aussicht hat, ein geflügeltes Wort zu werden. Der Mensch mag denken und Gott lenken, aber das letzte Wort haben drei Berufs- und zwei Laienrichter.
Auch hat die Hauptverhandlung erst acht Sitzungstage (von denen einer nur ein paar Minuten dauerte) auf dem langen Weg zum Urteil zurückgelegt. Noch ist kein Zeuge, geschweige denn ein Sachverständiger gehört worden. Noch immer erklärt sich Ludwig Poullain zur Sache, zu den Vorwürfen, die ihm die Anklage macht.
Und wie er sich erklärt!
»Finanzierungsfazilitäten«, »Rediskontpolitik« und »Monetisierbarkeit« -- er verwendet solche Begriffe, als hätte er sie geschaffen, während alle anderen sie in den Mund nehmen, als seien sie an Worte aus der Sprache der Etrusker geraten. Ludwig Poullain wirkt nicht virtuos, er scheint der Schöpfer der Dinge, die er behandelt.
Es ist dem Leiter der Hauptverhandlung nach der Strafprozeßordnung, dem Vorsitzenden Richter Heinrich Neurath, 43, nicht vorzuwerfen, daß Ludwig Poullain derart im Mittelpunkt steht. Denn wie soll ein Gericht mit einem Angeklagten umgehen, für den die Vorwürfe, die ihm gemacht werden, nicht einmal auf einem Mißverständnis beruhen, das aufgeklärt werden muß, sondern der Finsternis einer Unkenntnis entspringen, zu deren Aufhellung er sich zur Verfügung stellt.
Er ist tatsächlich »... nie auf den Gedanken gekommen, eines Tages Rechenschaft ablegen zu müssen«. Aktennotizen hat er keine gemacht. Derartige Absicherungen gibt es in seiner Welt nicht. »Der Fall Camus, den ich Ihnen jetzt vortragen möchte ...«, beginnt er eine Ausführung. »Soviel zu Sindona«, beendet er eine andere. Zur Frage, ob da vielleicht eine Frage aufgetaucht ist: »Ohne Bedeutung, würde ich sagen.« Während er spricht, streut Ludwig Poullain auch Erkundigungen wie »Kann ich mich deutlich machen?« ein.
Hier ist nicht von Arroganz die Rede. Unschuldig kann sich nur fühlen, wer sich auch für schuldig halten könnte. Ludwig Poullain kann sich gewiß nicht vorstellen, daß mancher seine Art als arrogant empfindet. Arrogant ist ein Mann seines Selbstverständnisses nicht. Also ist er es nicht. Wenn Ludwig Poullain von einem Fehler spricht, der anfiel, dann spricht er von etwas, was ihm widerfuhr; dann spricht er von einer unseligen Konstellation, von etwas Unausweichlichem.
Würde die Strafkammer unter dem Vorsitzenden Richter Neurath diesem Angeklagten ins Wort fallen und seine Ausführungen mit Vorhalten durchschießen, sie setzte sich dem Vorwurf aus, sie wolle einem Mann dieser Größenordnung gegenüber ihre Unabhängigkeit demonstrieren. So ist der Ton der Hauptverhandlung in Münster dem Angeklagten gegenüber freundlich, ja sogar respektvoll. Für Ludwig Poullain ist das freilich nicht ungefährlich.
Er könnte den Eindruck gewinnen, daß bereits akzeptiert worden ist, was zunächst nur hingenommen wird. Und ganz sicher bemerkt Ludwig Poullain nicht, so selbstverständlich wie ihm seine Wirklichkeit ist, was alles er da ausbreitet und wie sehr seine Darstellung die Bewohner anderer Wirklichkeiten bestürzt.
Ludwig Poullain schildert in Münster eine Krise der Westdeutschen Landesbank Girozentrale (WestLB) in den Jahren 1973 und 1974. Daß sich, während er vorträgt, in West-Berlin die Garski-Affäre abspielt, scheint ihm nicht bewußt.
In Ludwig Poullains 1979 erschienenem Buch »Tätigkeitsbericht«, dieser gedruckten Explosion, weckt die Darstellung dieser Krise Mitgefühl. Sie ist farbig und blendend:
»Das Schiff der 'WestLB' lief in der Zeit, von der ich nun berichten will -es ging dem Ende 1973 zu -- auf Kurs. Die Fahrt, die es vorausmachte, entsprach exakt den Vorgaben der Schiffsleitung, das Wetter war gut, die See ruhig, der Wind blies stetig von achtern ...
... als plötzlich aus heiterem Himmel der Blitz einschlug, alle Anlagen außer Betrieb setzte und das Schiff aus dem Ruder laufen ließ.«
Die maritime Färbung dieser Sätze erklärt sich dadurch, daß Ludwig Poullain nicht nur das Hobby Musik, sondern auch das Hobby Segeln hat ("Je nach Jahreszeit«, merkt er in Münster an, Gelächter). In der Hauptverhandlung verliert sich die Farbe schnell angesichts der Fakten.
Die WestLB betreibt auch einen begrenzten Devisenhandel im eigenen Interesse, sie spekuliert, wenn auch »nicht ins Blaue hinein«. Man schreibt 1973, das Jahr des ersten großen Ölschocks. »Unsere Meinung war übereinstimmend die ...«, daß der Dollar für kurze Zeit »nach oben gehen werde«. Der Vorstand, dessen Vorsitzender Ludwig Poullain ist, erteilt den Auftrag, 100 Millionen Dollar zu kaufen.
Doch der Devisenhandel der WestLB kauft nicht, er ist beim Verkaufen gewesen, als die Kauforder S.77 kommt, und er verkauft weiter. Je größer der Schaden wird, desto verzweifelter versucht der Devisenhandel zu verkaufen, »um die buchmäßig eingetretenen Verluste ins Gegenteil zu kehren«. Er geht dabei bis zu einer Milliarde Dollar, aber das reicht nicht aus, »den Trend zu ändern«.
Ludwig Poullains erste Reaktion, er schildert sie in Münster, ist, daß nicht bekanntwerden darf, was passiert ist. Denn die Konkurrenten würden diese Situation der WestLB bedingungslos ausnutzen. Verzweifelt versucht man, Dollar so unauffällig wie möglich zu kaufen, berichtet Ludwig Poullain. Vorsichtig dosiert kauft man ein, soweit man etwas zum Kaufen findet, um aus der »Schieflage« herauszukommen.
Für Ludwig Poullain steht in Münster im Mittelpunkt seiner Darstellung Hans Wertz, der damals Finanzminister in Nordrhein-Westfalen ist. Ihn allein weiht er damals ein, und der Minister erkennt an, daß nur »der lange Atem« helfen kann, er trägt die Situation mit. »Der war ein Mann«, sagt Ludwig Poullain. Und dieser Mann versichert ihm damals, daß er sein Wissen um die Krise nicht preisgeben werde, »auch nicht in der Fraktion«, daß er erst sprechen werde, wenn Ludwig Poullain ihm sagt, daß er nun sprechen kann.
Doch die WestLB ist »ein Kreditinstitut in der Rechtsform einer Anstalt des öffentlichen Rechts«. Über dem Vorstand, dem Ludwig Poullain vorsitzt, gibt es den Verwaltungsrat und über diesem die Gewährträgerversammlung. Und Hans Wertz gehört als Finanzminister dem Verwaltungsrat an. Der Mann, der ein Mann ist, hat im Verwaltungsrat die Geschäftsführung des Vorstands der WestLB zu überwachen. Die WestLB ist keine (private) Geschäfts-, sie ist eine Landesbank.
»Der Verwaltungsrat konnte die ihm vom Gesetzgeber vorgegebene Aufgabe nicht wahrnehmen«, sagt Ludwig Poullain in Münster, die Politiker hätten nun mal eine andere Mentalität. Andererseits erklärt er für undenkbar, »daß das Land nicht bis zur letzten Konsequenz einstehen solle« (für eine Bank, die es selbst geschaffen hat). Im Zusammenhang mit der Dollarkrise der WestLB in den Jahren 1973 und 1974 fragt denn auch Oberstaatsanwalt Ulf Richter, 44, der zusammen mit Oberstaatsanwalt Egon Weilke, 40, in Münster die Anklage vertritt, ob Ludwig Poullain denn überhaupt bereit sei, die Satzung der WestLB anzuerkennen.
Und da, zum ersten und bisher einzigen Mal, reagiert Ludwig Poullain in Münster scharf und nur eben noch beherrscht. Er findet es nicht richtig, daß der »Herr Oberstaatsanwalt« ihm »diese Frage in so scharfer Form« stellt.
Man könne nicht einfach reglementieren, sagt Ludwig Poullain, »dann kann man keine Bank machen«. Er schildert die Notwendigkeit schnell zupackenden, aggressiven Handelns wieder und wieder. Ludwig Poullain sagt auch, fast stolz sagt er das: »Ich habe mich ja nicht an eine Kleiderordnung gehalten.« Und wiederholt versichert er, er habe alles getan, um die Politik herauszuhalten -- wobei er die Interessen politischer Parteien mit der Verantwortung von regierenden Politikern für eine Landesbank verwechselt.
Die Affären der Landesbanken bedürfen der wiederholten Aufzählung nicht. In den Tagen, in denen Ludwig Poullain 1973 seine Devisen-Schieflage geheimzuhalten und zu retten suchte, was zu retten war, nahm bei der Hessischen Landesbank sein Kollege Wilhelm Hankel den Hut. Daß damals auch in Nordrhein-Westfalen die Politiker dachten, »mein Gott, wenn hier mal was passiert«, versteht Ludwig Poullain, er hält das für »eine legitime Angst«.
Doch dann sagt er im gleichen Atemzug auch, daß gegen diese Angst »rationale Einwendungen« nichts halfen; dann ist diese Angst für ihn doch nichts als Hysterie, jedenfalls ihm gegenüber. Denn da war ja immer er, Ludwig Poullain. Anderen gegenüber war es vielleicht schon nötig, auf einer hemmenden Kleiderordnung zu bestehen und Erbsen zu zählen. Ihm gegenüber nicht.
Es ist nicht ohne Ironie, daß Ludwig Poullain in Münster Hans Wertz in den Himmel hebt, weil dieser »mittrug« und schwieg -- und Friedrich Halstenberg schilt, der im Zusammenhang mit Ludwig Poullains Ausscheiden aus der WestLB als Finanzminister von Nordrhein-Westfalen zurücktreten mußte, weil er sein Wissen von einem Ermittlungsverfahren gegen Ludwig Poullain zu lange für sich behielt.
Hans Wertz ist heute Präsident der Landeszentralbank in Nordrhein-Westfalen, S.80 Friedrich Halstenberg Schatzmeister der SPD. Beide Namen markieren Stationen einer Entwicklung, die trotz schwerer finanzieller Verluste (im Fall der Dollar-Krise der WestLB von 270 Millionen) bis heute nicht zu einer Beziehung der in Verantwortung stehenden Politiker zu ihren Landesbanken geführt hat, in der das Gewähren von Spielraum und die Aufsicht in einem angemessenen Verhältnis zueinander stehen.
Daß Fehler, die man nicht ehrenrührig nennen muß, dennoch Fehler sind, deren Begleichung die Öffentlichkeit erwartet, vielleicht begreift man es nach den jüngsten Vorgängen in West-Berlin.
Ludwig Poullain trägt in Münster zur Aufhellung der Historie bei, ohne daß ihm dies bewußt ist. Er sieht sich als ein Opfer der Politik, ihrer Kleinkariertheit, ihrer schlotternden Hosen. Er hat mit dem Finanzmakler Franz Josef Schmidt (FJS läßt dieser sich gerne nennen, und das soll ihm nicht vorenthalten werden) einen Vertrag über »beratende Tätigkeit in den Jahren 1967 bis 1972« geschlossen, der ihm einmal eine Million und dann noch einmal 100 000 Mark einbrachte.
Bis zu diesem Vertrag ist man in Münster noch nicht gediehen, doch FJS ist bereits allgegenwärtig. Der dekorierte sich gern mit Mercedes 600, mit Flugzeugen und Schlössern, der telephonierte zu jeder Stunde, und der diktierte Briefe und Fernschreiben in Überfülle an alle Welt, der galt als Schützling des großen Ludwig Poullain.
In mächtigen Schwell machendem Ton, sagen wir es halt auch mal seemännisch, sind die Texte von FJS gehalten, die in Münster verlesen wurden. Da ist laufend von »Spitzengesprächen« die Rede, und sanft mokiert sich Ludwig Poullain darüber, der auch leise abwehrt, wenn in diesen Texten »mit unserem Freund Ludwig« wie mit der Monstranz verfahren wird.
Andererseits rühmt er FJS, preist, wie der einen abschlägigen Bescheid klaglos wegsteckte. Auch ist er immer um FJS besorgt gewesen, er hat ihn vor falschen Entscheidungen bewahrt. Er hat ihn halt beraten und durch diese Beratung nur Vorteile für die WestLB gewonnen. FJS ist jeweils der gewesen, den Ludwig Poullain in ihm sah.
Die Intensität, mit der Ludwig Poullain in Münster seine Wirklichkeit als eine Wirklichkeit vorgeführt, in der alle anderen Wirklichkeiten aufgehen, ohne daß darüber diskutiert werden muß, ist eindrucksvoll, aber sie weckt, fördert und schärft auch die Kritik. Ludwig Poullain wird wohl, auch wenn er freigesprochen werden sollte, aus dieser Hauptverhandlung nicht als Sieger hervorgehen. Er war der Mann eines bestimmten Entwicklungsabschnitts, die Leitfigur der Expansion der Landesbanken, der aggressiven gewinnmaximierenden Geschäftspolitik, eines Wettbewerbs, als wäre man keine Anstalt des öffentlichen Rechts.
Die Entwicklung hat sich seiner entledigt, sie brauchte ihn nicht mehr. Er hat nicht nur Erfolgsmöglichkeiten, sondern auch Gefahren sichtbar gemacht. »Die Erzielung von Gewinn ist nicht Hauptzweck des Geschäftsbetriebs«, heißt es (beispielsweise) in der Satzung der WestLB. Ob Ludwig Poullain einen strafrechtlichen Preis dafür zahlen muß, daß die Entwicklung ihn ein paar Jahre gebrauchte, ist eine Frage zweiten Ranges, so wichtig sie für ihn ist.