SOWJET-UNION Mit unseren Augen
Wenige Tage nachdem der amerikanische Produzent Michael Todd in der sowietischen Hauptstadt mitgeteilt hatte, daß Hollywood und Moskau eine Reihe von Spielfilmen gemeinschaftlich drehen wollen (SPIEGEL 21/1956), wurde in der deutschen Film-Metropole München auch ein westdeutsch-sowjetrussisches Gemeinschaftsprojekt bekannt: Schon in den nächsten Wochen werden Münchner Filmleute zusammen mit den Sowjets einen abendfüllenden Dokumentarfilm in Agfa-Color über die Sowjet-Union drehen.
Die Moskauer Funktionäre haben eine Reihe unerwarteter Konzessionen gemacht; die Deutschen dürfen praktisch filmen, was und wo sie wollen. »Man hat uns quasi das ganze Land zur Verfügung gestellt«, sagte Heinz Neubert, der Geschäftsführer der Münchner Filmproduktion Divina.
Jahrelang hatten sich rund 400 andere Interessenten - darunter Amerikaner, Italiener, Franzosen und Dänen - bemüht, ein ähnliches Projekt zusammen mit den Sowjets zu verwirklichen. Daß die Russen schließlich die Bundesdeutschen zu ihren
Geschäftspartnern erkoren, empfinden die Münchner Filmleute als ein kleines Wunder Filmkaufmann Neubert gesteht: »Wir wissen selbst nicht, wie wir zu dem Vertrag kamen.«
Vor etwa einem halben Jahr hatte Neuberts Kompagnon Gerd Nickstadt, der als Dramaturg beim Münchner Gloria-Filmverleih beschäftigt ist, den Direktor Olichejko von der amtlichen sowjetischen Filmexportstelle in Ostberlin ("Sovexport") kennengelernt, als er dort für die Gloria über einen Filmaustausch verhandelte. Bei einem Glas Wein kam man sich näher und auf die Idee: Deutsche Bundesbürger und
Sowjetmenschen könnten doch einmal gemeinsam einen Dokumentarfilm über die Sowjet-Union drehen.
Nickstadt fuhr nach München zurück, ohne so recht an die Verwirklichung der Idee zu glauben. Aber eines Tages kam ein Brief, der ihn zu neuen Besprechungen nach Berlin einlud. Sovexport-Direktor Olichejko eröffnete dem Filmmann, daß sich das sowjetische Ministerium für Kultur mit dem Plan einverstanden erklärt habe.
Alles Weitere wurde in Moskau ausgemacht. Nickstadt und Neubert, die für das Projekt eilends eine Kommanditgesellschaft unter dem Namen Documentar Color Film gründeten, unterzeichneten im vergangenen Monat mit dem Leiter des Zentralstudios für Dokumentarfilme des Ministeriums für Kultur der UdSSR, Golownija, einen 15 Seiten langen Vertrag.
Da zwischen der Bundesrepublik und der Sowjet-Union noch kein Handelsvertrag abgeschlossen worden ist, schien es anfangs beinahe unmöglich, die Devisenschwierigkeiten zu überwinden. Schließlich entdeckte man einen Ausweg, der im Paragraphen 17 des Vertrags so umschrieben wird: »Die Verteilung der Kosten, die bei der Herstellung des Filmes entstehen, darf für keinen Partner irgendwelche Ausgaben in der Währung des Partnerlandes nach sich ziehen.« Mit anderen Worten: Das sowjetische Kultusministerium kommt für die Unkosten der Deutschen auf, solange sie in der Sowjet-Union arbeiten. Die Deutschen bestreiten die Unkosten der Sowjets, wenn sie zur Überarbeitung des Films nach München kommen.
Was die deutschen Filmleute aufnehmen dürfen, die das Sowjetland mit drei Kamera-Teams von Norden nach Süden durchkämmen wollen, regelt der Paragraph 3 des Vertrags: »Thema des Films ist die objektive Berichterstattung über die UdSSR, über die Arbeit der Sowjetmenschen, ihr Alltagsleben, ihre Kunst, Erholung und andere Seiten des sozialen und kulturellen Lebens.«
Flug nach Sibirien
Neubert und Nickstadt, der Rußland aus fünfjähriger Kriegsgefangenschaft kennt, haben sich ihre Dreharbeiten - für die sie zweieinhalb Monate ansetzten - so gedacht: In drei Kleinbussen werden die Kameragruppen von Moskau nach Leningrad fahren. Von dort aus geht es die Rollbahn hinunter bis zum Kaukasus, wo ein Team ein Flugzeug besteigen soll, um nach Sibirien zu fliegen. Sagt Neubert:
»Wir wollen vor allem eine Stadt ohne die gewisse Tradition aufnehmen, eine Stadt also, die von den Sowjets aus dem sibirischen Boden gestampft wurde.«
Das erste Team wird der in der Branche geschätzte Kameramann Igor Oberberg leiten. Als zweiten Kameramann verpflichteten die Münchner den Italiener Pogany, der als einer der besten Farbfilm -Kameramänner Europas gilt. Hinter der dritten Kamera wird der Russe Golownija stehen, ein Sohn des Leiters des Zentralstudios für Dokumentarfilme in Moskau.
Die Begleitmusik soll ein bekannter russischer Komponist schreiben, entweder Schostakowitsch oder Chatschaturian. Den Text wird der ehemalige Chefredakteur der »Neuen Deutschen Wochenschau«, Heinz Kuntze-Just, verfassen, der schon einmal einen Kommentar für einen abendfüllenden Dokumentarfilm geschrieben hat: für den Film über das amerikanische Paradies Kalifornien ("Der goldene Garten").
Nach Beendigung der Aufnahmearbeiten sollen sich die Kamera-Teams dann wieder in Moskau treffen, um das belichtete Material im Zentralstudio für Dokumentarfilme gemeinsam zu entwickeln, zu kopieren und zusammenzuschneiden. Denn der Paragraph 23 des Vertrages regelt: »Nach gemeinsamer Abstimmung der Fassung des Filmes darf keiner der Partner Änderungen vornehmen. Eventuelle Änderungen müssen gemeinsam abgesprochen werden.«
Diesen Passus hatten die Sowjets den Deutschen zugestanden, nachdem die deutschen Filmleute sie von ihrer Aufrichtigkeit überzeugt hatten. »Wir sagten ihnen ganz glatt ins Gesicht«, berichtet Nickstadt,
»daß wir Kapitalisten sind und keinen Gedanken daran verschwenden wollen, den Kommunismus in unserem Film zu verherrlichen. Wir wollen keinen politischen Film drehen, wir wollen Rußland mit unseren Augen sehen.«
»Mit unseren Augen gesehen« soll auch der Titel des Filmes lauten, der etwa 400 000 Mark kosten wird. Die Deutschen werden ihn in den westlichen, die Sowjets in den östlichen Ländern vertreiben.
Bisher hat nur eine Zeitung das Vorhaben giftig kommentiert. Das Westberliner »Montagsecho« schrieb: »Dieser Versuch der Sowjets, ihr Trojanisches Pferd mit einem Filmband aufzuzäumen, soll uns also in der Sicht durch das Objektiv einer neutralistischen Kamera das 'Paradies der Arbeiter', das in Wirklichkeit der 'Goldene Garten' der Parteibonzen und Funktionäre ist, schmackhaft machen. Die Gefahr ist erkannt, aber wird man daraus seine Schlüsse ziehen?«
Daß es über die Dreharbeiten, den Bildschnitt und den Text trotz aller großzugigen Vereinbarungen mit den Sowjets zu Auseinandersetzungen kommen wird, ist auch den Münchnern klar. Auf dem Moskauer Bankett, mit dem die Vertragsunterzeichnung gefeiert wurde, erhob sich der sowjetische Filmfunktionär Golownija.
Er sagte: »Wir hoffen auf Zusammenarbeit...« Und fügte hinzu: »... und auf Kämpfe.«
Am 5. Juli werden die Dreharbeiten beginnen. Im Oktober soll Premiere sein.
Dramaturg Nickstadt
»Objektive Berichterstattung über die UdSSR«