SPIEGEL Gespräch »Mit unsrer Macht ist nichts getan ...«
SPIEGEL: Herr Brückner, als Sie vor elf Jahren in Bremen Gesundheitssenator wurden, wie hoch war da der Höchstbeitrag in der Bremer AOK? Können Sie sich daran erinnern?
BRÜCKNER: Da ich selber Mitglied war, müßte ich es eigentlich genau wissen. Ich denke, er lag bei 8,7 oder 8,9 Prozent.
SPIEGEL: Und in Mark?
BRÜCKNER: Ich schätze 80 Mark.
SPIEGEL: Wer damals bei der Höchstgrenze war, das heißt der Arbeiter, der 2100 Mark im Monat verdiente, zahlte 121,80 Mark an die Krankenkasse. Und wie sieht es jetzt damit aus? Kennen Sie die neuen Sätze für 1987?
BRÜCKNER: Ja, die AOK in Bremen hat vom 1. Januar an von 12,9 auf 13,8 Prozent erhöhen müssen.
SPIEGEL: Und der jetzige Höchstbeitrag für einen Arbeiter, der in der AOK ist?
BRÜCKNER: Das müßten um die 300 Mark sein.
SPIEGEL: 294,98 Mark pro Monat, und mit dem Arbeitgeberanteil sind es alles in allem 589,96 Mark im Monat. Sind Sie denn noch in der AOK?
BRÜCKNER: Ich war, bevor ich im Senat war, in der AOK. Ich bin freiwillig in der AOK geblieben.
SPIEGEL: Wie ist das für Ihre Familie, für Ihre Frau?
BRÜCKNER: Meine Frau als Berufstätige ist selbst versichert, bei der AOK, und bezahlt dort ihren Beitrag. Sie wollten aber etwas anderes erreichen mit Ihren Fragen?
SPIEGEL: Wir wollten an diesem Beispiel nur die Kostensteigerung zeigen, die ihre Grenze im deutschen Gesundheitswesen wohl immer noch nicht erreicht hat. Mittlerweile sind in einzelnen deutschen Orten, zum Beispiel in Worms und Recklinghausen, die Beitragssätze über die 15-Prozent-Marge geklettert. Das heißt, jede siebte Mark, die ein Arbeiter oder Angestellter verdient, zahlt er für den Krankenkassenbeitrag, und ein Ende der Steigerung ist nicht abzusehen. Es kommen immer mehr Ärzte auf den Markt, es kommen immer neue Techniken auf den Markt. Wie soll das bewältigt werden?
BRÜCKNER: Das Gesundheitswesen bedarf der politischen Gestaltung. Auf diesem Gebiet hat die Politik bisher weitgehend versagt, weil das Gesundheitswesen den »Anbietern« - von der Arzneimittelindustrie bis zu den niedergelassenen Ärzten - überlassen wird und es der Selbstverwaltung der Krankenkassen überlassen bleibt, das Gesundheitswesen über die eben skizzierten hohen Beiträge zu finanzieren. Die Politik war weitgehend Zuschauer.
SPIEGEL: Auch die SPD hat auf diesem Gebiet versagt. In den zwölf Jahren, in denen sie an der Macht war, ist von all dem, was Sie und Ihre »Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen« jetzt fordern, nichts angepackt und nichts verwirklicht worden.
BRÜCKNER: Die sozialliberale Koalition hat an dem, was wir im Gesundheitswesen heute kritisieren, keine wesentlichen Änderungen geschaffen.
SPIEGEL: Sie hat die Situation verschlimmert.
BRÜCKNER: Nein, sie hat die Kostendämpfung erfunden.
SPIEGEL: Nichts als ein Wort.
BRÜCKNER: Die SPD hat während der sozialliberalen Zeit mit der Bildung der Konzertierten Aktion - mit dem Versuch, durch globale Einflußnahme von oben bei Beibehaltung des Systems - _(In seinem Amtszimmer mit Redakteuren ) _(Rolf S. Müller und Hans Halter. )
das Ziel verfolgt, etwas zu ändern. Diese Kostendämpfung ist von Herrn Blüm fortgesetzt worden. Doch weder bei Herrn Ehrenberg noch bei Herrn Blüm ist es zu irgendeinem nennenswerten positiven Ergebnis gekommen.
SPIEGEL: Das ist sehr sanft ausgedrückt. Wenn Sie sich diese Graphik mal ansehen wollen, hier sind die Zuwachsraten aufgezeichnet. Am schrecklichsten waren sie 1970 bis 1978, als Ihre Parteifreunde Arendt und Ehrenberg in Bonn regierten.
BRÜCKNER: Sie müssen sehen, daß damals ein großer Nachholbedarf existierte und das Gesundheitswesen neu aufgebaut und strukturiert wurde. Später kam die Zeit der Kostendämpfung. Ich wollte gerade sagen, daß sie nichts gebracht hat. Die Kostendämpfung als eine politische Zielsetzung hat überhaupt keine Instrumente _ gehabt, nur Appelle, Reden und Predigten. Insofern stimmt es, daß auch die sozialliberale Koalition nichts getan hat. Warum nicht? Aus zwei Gründen. Erstens: Wir hatten die FDP als Koalitionspartner, eine Partei der Ärzte. Der zweite Grund ist, daß auch innerhalb der SPD eine volle Problemerfassung mit entsprechenden Lösungsvorschlägen noch nicht genügend ausgereift war.
SPIEGEL: Dabei ist das Problem mindestens 25 Jahre alt. Es hat sich entwickelt, seitdem es ein Behandlungsmonopol für die niedergelassenen Ärzte, den »Sicherstellungsauftrag«, und die »Einzelleistungsvergütung« gibt. Aber andererseits ist die SPD doch die Partei der Gewerkschaften, de facto die Partei der Krankenkassen. Warum hat sie über die Kassen und ihre Selbstverwaltungsorgane nichts erreicht? Liegt es nicht daran, daß auch die Kassen keine Motivation haben zu sparen?
Höhere Beiträge bedeuten eben auch mehr Ledersessel für Gewerkschafter, bedeuten höhere Gehälter und höheres Sozialprestige für Funktionäre und letztlich eine gewisse Verbrüderung mit den anderen, die am Gesundheitswesen so prächtig verdienen. Es ist wie mit den streitenden Genossen in der »Dreigroschenoper": » ... doch zum Schluß vereint am Tische essen sie des Armen Brot.«
BRÜCKNER: Ich glaube, die Möglichkeiten der Selbstverwaltung werden überschätzt. Die Organe der RVO-Kassen sind paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern besetzt, das heißt, jeder kann jederzeit den anderen behindern und sagen: Ich mache das nicht mit. Zum anderen weiß ich, daß die SPD in der Weimarer Republik große Konzepte hatte, die in der Nazizeit und dann auch in der Ära Adenauer in eine völlig andere Richtung gelenkt worden sind. Für unsere Partei ist unklar geworden, ob sie sich auf die jetzt bestehende Regelung einlassen oder ob sie ihren alten Vorstellungen folgen sollte. Aus diesem Dilemma sind wir noch immer nicht vollständig heraus.
SPIEGEL: Was heißt: noch nicht vollständig heraus? Sie sind mittendrin.
BRÜCKNER: Ja, das meinte ich. Heute geht kein Weg in Richtung Verstaatlichung, wie er in der Weimarer Zeit diskutiert wurde. Aber ebenso falsch wäre es, einen Weg der weiteren Privatisierung, wie er von der CDU und der FDP proklamiert wird, zu gehen. Das ist völlig unmöglich. Wir brauchen dazwischen einen dritten Weg der Systemveränderung und der Strukturveränderung, der noch in der SPD selbst erst mal mehrheitsbildend diskutiert werden muß und diskutiert wird.
SPIEGEL: Das tun Sie doch auch schon ein Vierteljahrhundert.
BRÜCKNER: Manche Sachen dauern eben länger.
SPIEGEL: Wieviel Zeit haben Sie denn noch?
BRÜCKNER: Das Problembewußtsein ist erst entstanden durch den Kostendruck, schlimmerweise. Die Gefahr besteht, daß man unter dem Kostendruck irgendwann auch etwas Falsches entscheidet. Deshalb ist die Zeit sehr kurz, sehr knapp. Zehn Prozent des Bruttosozialproduktes ...
SPIEGEL: ... für das teuerste Gesundheitswesen in der Welt. Haben wir deswegen auch die beste Medizin?
BRÜCKNER: Wir haben eine gute Medizin, aber eine viel zu teure Medizin; denn die hohen Kosten, die Sie mit Recht kritisieren, entstehen weitgehend durch unnötige Leistungen, durch Mengenausweitungen ...
SPIEGEL: ... oder durch nicht erbrachte Leistungen, die nur abgerechnet werden.
BRÜCKNER: Ich denke, nicht erbrachte Leistungen sind ein Teil, aber nicht der entscheidende Teil.
SPIEGEL: Wir sind überzeugt, ein erklecklicher Teil, aber es gibt keine Möglichkeit, das zu überprüfen.
BRÜCKNER: Auch das ist ein Problem. Es gibt im deutschen Gesundheitswesen keine Transparenz und keine Qualitätskontrolle. Es ist sozusagen den Leistungserbringern überlassen, was sie erbringen und wie sie es erbringen - vor allem wieviel sie davon erbringen.
SPIEGEL: Das heißt, es ist ein Selbstbedienungsladen für die Pharma-Industrie, für die Ärzte, für die Krankenhäuser und letztlich auch für die Krankenkassen, die die Beiträge erhöhen, wenn sie mehr Geld brauchen.
BRÜCKNER: In diese Richtung hat sich das Ganze entwickelt.
SPIEGEL: Und der Patient? Wo bleibt der Patient, der mitbestimmen könnte, wo bleibt der in Ihrem Konzept?
BRÜCKNER: Es gibt leider in der Wirklichkeit weitgehend nur den Konsumenten, der mit dem Gefühl, »soviel Gesundheit wie möglich« zu kriegen, den Ärzten, den Anbietern nachläuft. In unserem System, in unseren Vorschlägen fordern wir den mündigen Patienten, der selbst über Krankheit und Gesundheit
entscheidend mitbestimmt und natürlich auch mitkontrolliert.
SPIEGEL: Nur ein Drittel der Patienten gehen, wenn sie sich krank fühlen, sofort zum Arzt. Die anderen verlassen sich auf die Spontanheilung, den Ratschlag ihrer Angehörigen, oder sie kaufen sich aus eigener Tasche ein Heilmittel. Von einem Mißbrauch von seiten der Patienten oder gar von einem typischen Konsumentenverhalten - das hieße: Man versucht, wieder herauszukriegen, was man an Kassenbeitrag einbezahlt hat - kann bei den wenigsten die Rede sein.
BRÜCKNER: Mit Konsument meine ich, daß der Patient das Viele, was ihm angeboten wird, auch annimmt, weil er für seine Gesundheit das Beste möchte. Aber Sie müssen berücksichtigen, daß die Zunahme an Alters- und an chronischen Krankheiten dazu führt, daß mehr Leistungen erbracht werden. Diese Tendenz wird anhalten.
SPIEGEL: Was heißt »anhalten«? In den letzten Jahren hat sich die Zahl der Patienten, wie der stellvertretende Vorsitzende des AOK-Bundesverbandes in Bonn erst kürzlich feststellte, überhaupt nicht mehr erhöht. Die Fallzahl ist gleichgeblieben. Was gestiegen ist, ist die Zahl der Leistungen, die pro Patient abgerechnet wurden, oder die Zahl der Leistungen, die erbracht wurden. Wir haben in Deutschland jetzt beispielsweise 2500 Computertomographen und damit die höchste Computertomographendichte der ganzen Welt. Die werden allesamt »ausgelastet«, so heißt das. Geröntgt wird auf Teufel komm raus.
BRÜCKNER: Das System, das wir bei der Angebotsseite und bei der Abrechnung der ärztlichen Leistungen haben, reizt dazu, so zu verfahren. Natürlich bestimmt auch der Steuerberater, welche Geräte angeschafft werden und wie sie sich amortisieren lassen.
Deshalb muß man da ansetzen. Die erste wichtige Änderung wäre, das System der Einzelleistungsabrechnung durch Gesetz zu ändern in ein System der Teilpauschalleistungs-Abrechnung, damit wir von den mehreren tausend Gebührensätzen ...
SPIEGEL: ... können Sie das erläutern? Heißt das, der Arzt soll pro Krankenschein, der ihm in die Praxis gebracht wird, pro Vierteljahr eine Pauschale kriegen und nicht mehr wie bisher für jede Beratung, jede Spritze, jede Ultraschallbehandlung, für jede Überwärmung einzeln abrechnen?
BRÜCKNER: Es gibt zwei Möglichkeiten. Es gibt die Möglichkeit der sogenannten Kopfpauschale, nach der er pro Patient, der zu ihm kommt, im Quartal eine bestimmte Summe bekommt, egal, was er dafür im einzelnen getan hat.
SPIEGEL: Das wollen Sie aber nicht?
BRÜCKNER: Ich will mal sagen: Das halte ich für einen modellhaft zu erprobenden, möglichen Weg.
SPIEGEL: In England funktioniert er seit 40 Jahren.
BRÜCKNER: Unser System hat sich anders entwickelt in den letzten Jahrzehnten. Daneben wäre auch die Möglichkeit, daß sozusagen Behandlungsgrößen oder behandelte Krankheiten abgerechnet würden - soundso viele Herzerkrankungen, soundso viele grippale Infekte. Und das würde schon dazu führen, daß man nur einige Gruppen von Kostenabrechnungen hätte. Das würde verhindern, daß ständig in die Menge ausgewichen würde.
SPIEGEL: Dann würde der Arzt plötzlich bei sehr viel mehr Patienten Herzerkrankungen diagnostizieren. Die vergangenen Jahre beweisen doch, daß das Abrechnungsspektrum sich wandelt je nach Abrechnungsschema. Das heißt: Wird eine Leistung höher bewertet, dann taucht sie in den nächsten Quartalen plötzlich verstärkt auf. Das ist die Erfahrung aller Krankenkassen. Das heißt auch, daß ein Großteil der Mediziner nicht nach dem tatsächlichen Krankheitsspektrum diagnostiziert und behandelt, sondern nach der Gebührenordnung.
BRÜCKNER: Ja, aber mit der Pro-Kopf-Pauschale wäre dem weitgehend entwichen.
SPIEGEL: Aber die Pro-Kopf-Pauschale fordern Sie doch gar nicht.
BRÜCKNER: Ausprobieren möchte ich sie wohl. Wenn sie besser ist als die Teilpauschale, dann halte ich sie für einen durchaus möglichen Weg. Der andere Teil der notwendigen Reformen ist der, daß wir den Facharzt nicht mehr mit der üblichen Zulassung wie den Allgemeinarzt gleichbehandeln, sondern die Grundversorgung der Kassenpatienten dem Allgemeinarzt überlassen. Der Facharzt sollte nicht mehr als niedergelassener Arzt tätig sein, sondern in einer Einrichtung des Krankenhauses. Mehrere Fachärzte könnten sich auch privat zusammenschließen und ihre Leistung als Einrichtung anbieten. Wir haben jetzt über 50 Prozent Fachärzte. Wir würden sofort, wenn deren Einzelabrechnungen nicht mehr da wären, Milliarden einsparen an Kosten.
SPIEGEL: Was soll mit den Ärzten geschehen? Werden die arbeitslos?
BRÜCKNER: Die Ärzte, die jetzt schon tätig sind, würden sich in solchen Einrichtungen zusammentun. Ihr Gesamteinkommen würde vermutlich etwas geringer sein als bisher. Es würden an den Krankenhäusern gegebenenfalls - dort ist es ja leichter, weil die Geräte alle da sind - in einer eigenständigen Einrichtung mehr Ärzte diese ambulante Tätigkeit verrichten als bisher und sich gar nicht erst niederlassen.
SPIEGEL: Aber die Krankenhäuser würden teurer.
BRÜCKNER: Nein. Dies dürfte nicht eine Aufgabe des Krankenhauses sein, sondern eine eigenständige Einrichtung am Krankenhaus. Sie erbringt ambulante Leistungen für die und die Kosten, hat eine eigene Abrechnung und darf nicht verquickt werden mit dem Teil des Krankenhauses, der heute ausschließlich stationär liegende Patienten behandelt.
SPIEGEL: Also Rückkehr zu den medizintechnischen Zentren, die von der SPD schon vor 15 Jahren mal diskutiert wurden?
BRÜCKNER: Das würde ich nicht als das gleiche ansehen. Die medizintechnischen Zentren waren ja als Diagnosestationen konzipiert, wo jeder seinen Gesundheits- oder Krankheitsstatus erhält und sozusagen vierteljährlich durchgecheckt wird. Das meine ich nicht.
Die fachärztliche Beratung, die der Allgemeinarzt braucht - nach meinem Konzept ist der Allgemeinarzt, der Hausarzt, der Grundpfeiler des Konzepts -, und die fachärztliche Hilfe, die der Patient braucht, werden von einem Facharzt-Zentrum geliefert.
SPIEGEL: Aber der Hausarzt, der Allgemeinpraktiker, ist ja auch jetzt schon die Steuerstelle für den Großteil des Aufwandes, den wir treiben. Er ist der Mann, der die Rezepte schreibt. Er ist der Mann, der die meisten Überweisungen vornimmt.
BRÜCKNER: Aber er ist leider nicht richtig ausgebildet. Er ist ja praktisch auch nur noch ein Facharzt auf einem Gebiet, aber nicht mehr der Allgemeinarzt, der durch Ausbildung etwa in der Lage wäre, ganzheitliche Betrachtungen anzustellen, der in der Lage wäre, soziale und psychologische Dinge einzubeziehen, der in der Lage wäre, kooperativ mit ambulanten Schwestern, mit sozialpsychiatrischen Diensten, mit den Gesundheitsämtern zusammenzuarbeiten, um die Grundversorgung vorzunehmen.
SPIEGEL: So pauschal kann man das nicht sagen. Die jüngeren Ärzte, die sich niederlassen, sind zum Teil sehr gut motiviert und treiben keine schlechte Medizin. Sie sind eben ein Freund des Krankenhauses. Dort arbeitet ja auch Ihre politische Basis, die »Sozialdemokraten im Gesundheitswesen«.
BRÜCKNER: Ich bin in erster Linie ein Freund des Hausarztes, weil dort die Grundversorgung am kostengünstigsten vorgenommen wird. Und das Krankenhaus ist heute deshalb in einer schwierigen Situation, weil viel zu viele Patienten eingewiesen werden, die einer Krankenhausbehandlung gar nicht oder noch nicht bedürfen.
SPIEGEL: Einerseits. Andererseits, sagt Herr Blüm, entwickelt jedes leere Bett einen Sog.
BRÜCKNER: Herr Blüm hat vom Krankenhaus nicht sehr viel Ahnung.
SPIEGEL: Die Krankenhausfinanzierung heute basiert doch darauf, daß Krankenhäuser möglichst ausgelastet sind. Warum sind in Deutschland die Liegezeiten durchschnittlich immer noch höher als in anderen Ländern? Das hat doch letztlich seinen Grund darin, daß die Krankenhausverwaltungen bestrebt sind, die Patienten so lange im Krankenhaus zu behalten, bis ein neuer Patient für das jeweilige Bett da ist.
BRÜCKNER: Ich will das nicht völlig ausschließen, insbesondere dann nicht, wenn ein Krankenhaus privat organisiert ist und versuchen muß, am Jahresende hinzukommen oder Überschuß zu haben. Die Krankenhäuser haben die Verweildauer erheblich reduziert in den letzten Jahren, aber sie haben leider in bestimmten Bereichen dadurch, aufs Bett bezogen, Personalabzüge bekommen.
SPIEGEL: Wir liegen schon richtig mit der Behauptung, daß Sie ein Freund des Krankenhauses sind.
BRÜCKNER: Ich bin ein Kenner des Krankenhauses.
SPIEGEL: Gut, ein Freund und Kenner. Im großen und ganzen ist die Zahl der Betten in Deutschland in den letzten 25 Jahren stabil geblieben. Die Zahl der im Krankenhaus Beschäftigten, das ist Ihre Klientel, hat sich verdoppelt. Das bundesdeutsche Gesundheitswesen, wenn wir das Ganze betrachten, beschäftigt inzwischen zwei Millionen Leute. Das sind mehr, als in der gesamten Land- und Forstwirtschaft arbeiten. Wer im medizinisch-industriellen Komplex Unterschlupf gefunden hat, dem geht es in der Regel gut, vielen sehr gut. Sie haben kein Arbeitsplatzrisiko, sie sitzen im Warmen und Trockenen.
BRÜCKNER: Von den zwei Millionen, die Sie meinen, sind 400000 Schwestern und Pfleger. Diese 400000 arbeiten ständig Schicht - Frühschicht, Spätschicht, Nachtschicht. Wissen Sie, was die verdienen? Wissen Sie, wie wenige Jahre die im Beruf bleiben, weil diese Arbeit so dramatisch schwierig ist? Wenn Sie sagen, die haben ein gutes Leben, die verdienen gut, dann sind Sie fern der Praxis.
SPIEGEL: Viele Krankenschwestern geben ihren Beruf nicht deshalb auf, weil die Arbeit »so dramatisch schwierig« oder schlecht bezahlt ist, sondern weil sie heiraten. Aber wir meinen auch vor allem die Ärzte, Zahnärzte und Pharmahändler.
BRÜCKNER: Mit Ärzten sind unsere Krankenhäuser ganz gut besetzt. Das stimmt.
SPIEGEL: Wie erklären Sie sich, daß trotz immer mehr Personals die Patienten sich immer schlechter behandelt fühlen? Es gibt Umfragen darüber, daß die Patienten im Krankenhaus heute viel mehr Angst haben als vor zwei Jahrzehnten.
Sie fühlen sich nicht gepflegt, sondern geflickt, sie wollen raus aus der Klinik weil es dort so unpersönlich zugeht, weil es Riesengebäude sind, in denen man sich fürchten muß, weil viele Krankenhäuser sich zu Orwellschen Institutionen entwickelt haben.
BRÜCKNER: Es gibt erstens ein Übermaß an Technik, in die manche verliebt sind ...
SPIEGEL: ... aber nicht die Patienten.
BRÜCKNER: Nein, die Ärzte, die das machen, was aber teilweise notwendig ist. Sie können viele Sachen ohne Technik heute nicht machen. Die Humanität im Krankenhaus ist aber nicht durch die Größe des Hauses bestimmt.
SPIEGEL: Nicht ausschließlich.
BRÜCKNER: Die Humanität hängt zu einem großen Teil damit zusammen, daß zuviel Technik und zuwenig Pflegepersonal vorhanden ist.
SPIEGEL: Und daß das Personal dauernd wechselt.
BRÜCKNER: Das muß sich ändern, indem mehr Menschen dort tätig sind. Für diese mehr Menschen hätten wir auch mehr Geld, wenn wir das System der Gebührenordnung und natürlich das System der Arzneimittelverordnung ändern. Wir könnten allein bei der Arzneimittelindustrie fünf, sechs Milliarden Mark im Jahr sparen für solche Bereiche, wo ein Nachholbedarf besteht.
SPIEGEL: Aber auch da hat die sozialliberale Koalition versagt. Deutschland ist der einzige Staat, in dem auf dem Pharmamarkt die ungezügelte freie Marktwirtschaft herrscht, obwohl es im klassischen Sinne kein freier Markt ist. In allen anderen, selbst in kapitalistischsten Ländern wie den USA und der Schweiz wird die Pharma-Industrie an sehr viel kürzerer Leine gehalten.
BRÜCKNER: Wir sind hier auch in der SPD nicht mutig genug gewesen, diesen Bereich neu zu ordnen, und haben mit dem neuen Arzneimittelgesetz Mitte der siebziger Jahre leider unter großem Einfluß der Wirtschaft gestanden, die damals gute Ansätze in diesem Gesetz zunichte gemacht und in den Bundesratsausschüssen und im Bundestag vieles wieder zurückgeschraubt hat. Wir brauchen heute den Mut zu einem neuen Gesetz, in dem staatlich festgelegt wird, daß nur sichere und für die Therapie notwendige Medikamente auf den Markt kommen.
SPIEGEL: Eine Beschränkung der Zahl der Medikamente, ähnlich wie in Schweden oder Norwegen, auf 1500 oder 3000?
BRÜCKNER: Wir haben etwa 40000 Medikamente. Ich denke, daß man mit 1000 oder 1500 auskommt. Wir haben in Bremen eine zentrale Belieferung aller Krankenhäuser durch eine Apotheke im Zentralkrankenhaus. Die kommt mit weniger als 1000 Präparaten aus. An diesem Beispiel kann man gut sehen, daß wir mit weniger auskommen könnten. Das muß durch Bundesgesetz geregelt werden.
SPIEGEL: Aber die Chancen dafür sind doch praktisch gleich Null. Vielleicht sollten Sie als ehemaliger Diakon der evangelischen Kirche mal die zweite Strophe von »Ein feste Burg ist unser Gott« singen.
BRÜCKNER: Moment. (Denkt nach.) »Mit unsrer Macht ist nichts getan...« Ich kann''s noch. Abgesehen davon: Für die Mehrheitsverhältnisse in Bonn bin ich im Augenblick direkt nicht verantwortlich. Die müssen sich ändern, um dieses Gesetz auch nur im Ansatz durchzukriegen, das stimmt.
SPIEGEL: Aber als Sie die Mehrheit hatten, hat sich auch nichts geändert. Das Problem war doch genau das gleiche. Es war in der Relation genauso schlimm wie heute.
BRÜCKNER: Ich stimme Ihnen zu, daß die sozialliberale Koalition dieses Problem nicht gelöst hat. Das ist so.
SPIEGEL: Es wäre also theoretisch nur lösbar, wenn die SPD die absolute Mehrheit kriegt, genaugenommen: der linke Flügel der SPD die absolute Mehrheit kriegt?
BRÜCKNER: Vorher wäre schon einiges möglich. Zum Beispiel muß es eine Preisliste geben, damit man weiß, was ist bei Hoechst billiger als bei Bayer. Der Arzt braucht unbedingt objektive Arzneimittelinformationen.
SPIEGEL: Zweiter Punkt: Sie setzen auf mehr Prävention, auf Vorbeugung.
BRÜCKNER: Ja.
SPIEGEL: Prävention ist sicher wünschenswert. Aber gibt es Studien, gibt es Erfahrungswerte, die beweisen daß Prävention auf lange Sicht auch wirklich kostenmindernd wirkt? Es gibt erhebliche Zweifel an dieser These.
BRÜCKNER: Zunächst muß man festhalten: Unser Gesundheitswesen ist im Prinzip an Behandlung orientiert. Dadurch ist es ja so teuer. Wenn es im Prinzip an Gesundheit orientiert wäre, dann wäre der Grundansatz Prävention, nämlich Erhalt der Gesundheit, Verhinderung von Krankheit. Dieser Grundansatz ist nicht da. Was wir in der Politik machen müssen ist, daß wir gesundheitsgerechtes Verhalten fördern, aber wir können es ja nicht verordnen. Wir müssen die Organisation des Gesundheitswesens, die Struktur, das System ändern. Das ist Aufgabe der Politik, das neu zu ordnen, damit die Auswüchse, wie wir diskutiert haben, endlich aufhören.
SPIEGEL: Wann, glauben Sie, wird diese Politik Wirklichkeit werden? Im Jahr 2000?
BRÜCKNER: In dieser Tendenz, wie es sich jetzt entwickelt, halten wir es keine zehn Jahre mehr aus, weil 18 Prozent 20 Prozent Krankenversicherungsbeiträge volkswirtschaftlich nicht zu verkraften sind.
SPIEGEL: Es kommen ja auch noch fast 20 Prozent für die Rentenversicherung dazu.
BRÜCKNER: Die Gesamtbelastung ist schon jetzt ungeheuerlich und geht bei vielen über 50 Prozent. Das ist nicht aushaltbar. Vor allem wird die Kenntnis zunehmen, es ist unnötig, was an vielen Stellen ausgegeben wird. Für Unnötiges werde ich doch nicht mein teuer verdientes Geld hergeben.
SPIEGEL: Sie nicht. Aber den anderen wird man in die Tasche fassen, von
nun an auch noch über »Selbstbeteiligung«.
Die Versicherten zahlen neben den hohen Kassenbeiträgen ja heute schon zu: eine Milliarde Mark jährlich an Rezeptgebühren, daneben insgesamt über vier Milliarden Mark für Zahnersatz, Heilmittel und Krankenhaus. Sie zahlen fünf Milliarden Mark jährlich an die Apotheken für die Medikamente, die sie sich selber besorgen. Außerdem haben fünf Millionen Arbeitnehmer zusätzlich private Krankenversicherungen abgeschlossen, mit denen sie die Krankenhäuser subventionieren. Dieses alles soll nun noch weiter erhöht werden?
BRÜCKNER: Man muß vermuten, daß es zu den ersten Aufgaben dieser neuen Rechtsregierung gehören wird, daß sie das System der Leistung im Gesundheitswesen aufteilt in Luxusleistungen, Standardleistungen, vielleicht dazwischen noch Zusatzleistungen.
Und dann werden sie sagen: Die Luxusleistung kann man generell privat bezahlen, bei den Zusatzleistungen wird man es im einzelnen sehen müssen, es werden nur noch die Standardleistungen durch die Krankenkasse ersetzt.
Das ist nur eine andere Beschreibung von neuer, zusätzlicher, sogenannter Eigenbeteiligung. Es kann noch mehr »Leistung« angeboten werden. Es wird nur anders finanziert. Es werden noch mehr Leute sich zusätzlich versichern müssen, um dieses alles zu bezahlen. Das wird dazu führen, daß wir den Bruttosozialproduktanteil noch mehr erhöhen in einem Bereich, von dem wir jetzt schon wissen, es sind viele, viele Leistungen unnötig, überflüssig ...
SPIEGEL: ... oder überbezahlt.
BRÜCKNER: ... oder auch im Einzelfall überbezahlt. Das ist eine so katastrophenmäßige Entwicklung, die auf uns zukommt, daß es verwunderlich ist, daß so wenig Leute das sehen oder laut aufschreien.
SPIEGEL: Die Krankenkassenbeiträge werden automatisch abgezogen, die Leute sehen das Geld nicht. Und ihre Interessenvertreter, die Krankenkassen, sind lieber bei Ärzten angesehen als bei ihren Patienten.
BRÜCKNER: Die Krankenkassen haben sich leider weitgehend dazu entwickelt, daß sie die Einnahmen verteilen, nicht aber, daß sie auf die Gesundheitspolitik Einfluß nehmen. Sie gehen nicht auf Konfliktkurs, die Arbeitgeberseite schon gar nicht. Es ist aber etwas nur lösbar, wenn man bereit ist, auch mit großen Interessengruppen einen Konfliktkurs zu wagen.
SPIEGEL: Mit dem Gesundheitsprogramm Ihrer Partei ist es aber auch nicht weit her. In Nürnberg, auf dem letzten Parteitag, ist nur en passant darüber geredet worden. Alle halbwegs kühnen Ideen - zum Beispiel Einheitsversicherung für alle oder wenigstens die Überführung der Beamten in die gesetzlichen Krankenkassen - wurden wiederum ohne Aussprache beerdigt. Sie äußern sich nicht zur Ärzteschwemme, obwohl jeder neue Arzt - und jedes Jahr gibt es 12000 neue Ärzte -, wenn er sich niederläßt, die Versicherten zusätzlich 1,5 Millionen Mark pro Jahr kostet. Warum traut sich die SPD, wenn sie ohnehin nicht an der Regierung ist, nicht an ein schönes, deutliches Gesundheitsprogramm?
BRÜCKNER: Die Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen wird in Kürze, noch im Frühjahr, das, wie Sie es sich wünschen, konfliktreiche Programm vorlegen. Aber es muß dann erst Programm der Partei werden. Diese Diskussion ist in der SPD noch nicht abgeschlossen. Wir haben vieles verdrängt in der SPD.
SPIEGEL: Und zugelassen daß sich die meisten namhaften Soziaidemokraten längst zu Privatpatienten gemausert haben, die mit dem dunkelblauen Dienstwagen beim Herrn Chefarzt oder dem Ordinarius vorfahren. Dieser Heilkundige hat dann gewöhnlich mehr Einfluß auf die Gesundheitspolitik als Ihre ganze brave Arbeitsgemeinschaft.
BRÜCKNER: Ich finde, auch das ist ein Skandal. Jeder Sozialdemokrat gehört in eine gesetzliche Krankenkasse und muß keine privaten Leistungen in Anspruch nehmen, sondern die, die die Kasse, übrigens gut, an die Ärzte bezahlt. Das reicht voll aus. Ich bin noch in keiner Privatbehandlung gewesen.
SPIEGEL: Das macht Sie frei und tatendurstig?
BRÜCKNER: Die Weltgesundheitsorganisation hat ein richtiges und vernünftiges Programm vorgelegt. Es gibt Länder - England, Irland, Skandinavien -, in denen man sehen kann, daß es läuft. Es geht jetzt nur darum, in welche Richtung werden in Deutschland die nächsten Schritte gemacht - entweder in Richtung mehr privatisieren, das heißt, mehr Geld ausgeben, aber aus anderen Quellen, oder mehr staatlichen Einfluß auf diesen ökonomisch und gesellschaftspolitisch wichtigen Bereich.
Mein Ansatz ist: mehr politischer, gesetzlicher Einfluß auf diesen Bereich. Das wäre ein Weg, der innerhalb von zehn, 15 Jahren zum Erfolg verhelfen kann. Dann sind wir etwa beim Jahr 2000.
SPIEGEL: Aber wenn Sie erst im Jahr 2000 damit anfangen? Wenn Sie erst im Jahr 2000 wieder die Chance haben, an die Regierung zu kommen?
BRÜCKNER: Das ist zu spät für uns. So lange können wir doch nicht warten. So lange kann das Volk auch nicht warten.
SPIEGEL: Herr Brückner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
*KASTEN
Herbert Brückner *
ist einer der führenden Gesundheitspolitiker in der SPD. Sein Amt als Senator für Gesundheit und Sport in Bremen, das er seit 1975 innehatte, mußte er nach seiner Wahl zum Vorsitzenden der Bremer SPD Ende letzten Monats zwar abgeben. Aber als Vorsitzender der »Arbeitsgemeinschaft der Sozialdemokraten im Gesundheitswesen« hofft er die Vorstellungen der Opposition in den nächsten vier Jahren »entscheidend prägen zu können«. Der 48jährige Arbeitersohn aus der niedersächsischen Grafschaft Hoya machte zunächst eine Lehre als Industriekaufmann, ehe er im Stephansstift zu Hannover und an der kirchlichen Hochschule in Bethel eine Ausbildung zum Diakon absolvierte. Seine Freizeit verbringt Brückner, der seine politische Heimat in einer von Eppler und Lafontaine geprägten SPD sieht, mit Vorliebe auf seinem Bauernhof in der Grafschaft Hoya, wo er auch sein eigenes Brot backt.
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TEURE GESUNDHEIT Aufwand für Gesundheit in der Bundesrepublik in Milliarden Mark gesetzliche Versicherungen in Prozent des Bruttosozialprodukts 6,7 7,9 10,4 10,6 10 30,9 53,1 107,5 157,8 200,0 1965 1970 1975 1980 1986 geschätzt Quelle: Sozialbericht ZUR KASSE GEBETEN Krankenkassenbeiträge in der Bundesrepublik Anstieg der Höchstbeträge je Monat zu den gesetzlichen Krankenkassen; 1960 = 100 113 522 1213 Zum Vergleich: Preisindex für die Lebenshaltung aller privaten Haushalte; 1960 = 100 115 172 252 1965 1975 1986
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In seinem Amtszimmer mit Redakteuren Rolf S. Müller und Hans Halter.