Mit Volldampf in die Sackgasse
Mit »sehr gut« bestand Clara Ortel im April 1980 am Studienseminar im hessischen Hanau ihr zweites Lehrerexamen. In Mathematik und Sport, ihren beiden Fächern, können Haupt- und Realschüler nicht besser unterrichtet werden, als die Kandidatin es in je einer Probestunde vorführte, fanden die Prüfer.
Sechs Jahre nach dem Beginn ihres Studiums war die Tochter eines Arbeiters Lehrerin geworden. Aber was sie damals noch nicht wußte und später viele Monate lang nicht wahrhaben wollte: Bei der Prüfung hatte sie zum letztenmal vor einer Klasse gestanden. Der Anfang und das Ende ihres Berufslebens als Schullehrerin fielen auf diesen einen Tag.
Als Clara Ortel sich zum nächsten Termin beim Regierungspräsidenten in Darmstadt um eine Lehrerstelle bewarb, kam sie nicht auf einen der vorderen Plätze der Rangliste, weil sie im ersten Examen nur die Note »gut« erreicht hatte. Sie erhielt Platz 13, und nur zwölf Bewerber wurden eingestellt.
Sie versuchte es in vier anderen Bundesländern, aber nirgends wurde sie aufgenommen. Auch an Privatschulen in Hessen schrieb sie vergebens.
Eigentlich verstieß es gegen ihr Selbstverständnis als Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), eine Stelle »zweiter oder dritter Klasse« anzunehmen. Aber »wenn man so ziemlich alle Felle davonschwimmen sieht, tut man Dinge, die man aus rationalen Gründen eigentlich ablehnen würde«. Als 170 Kilometer von ihrem Wohnort Hanau entfernt an einer privaten Berufsschule für Behinderte eine halbe Stelle für 1200 Mark im Monat angeboten wurde, bewarb sie sich und erhielt eine Zusage. Doch dann wurde die Stelle nicht genehmigt.
Clara Ortel entschloß sich zum Berufswechsel. Auf eine Umschulung zur Krankengymnastin hätte sie drei Jahre warten müssen und wäre so lange nicht sicher gewesen, ob sie einen Ausbildungsplatz auch wirklich bekommen würde.
Gegen Honorar arbeitete sie als Sportlehrerin für Vereine, aber es kam nicht genug zusammen, um damit eine Existenz aufzubauen. Und in der Jugendarbeit erwies sich das Problem, eine Dauerbeschäftigung zu finden, als »genauso groß, wenn nicht noch größer«. Auf diesem Felde stoßen Lehrer auf Sozialarbeiter, Erzieher und Sozialpädagogen, die sich um dieselben Arbeitsplätze bemühen.
Clara Ortel gab ein Inserat im »Hanauer Anzeiger« auf: »Lehrerin, Mathematik und Sport, sucht neue anspruchsvolle Arbeitsmöglichkeit.« Zwei Angebote kamen, von Haus zu Haus sollte sie entweder Kosmetika oder Versicherungen verkaufen. Das wollte sie dann doch nicht.
Sie kehrte an die Hochschule zurück und begann evangelische Religion als drittes Fach zu studieren. Auf dem Arbeitsamt fiel unterdes das Stichwort »Umschulung«. Aber in keinem der drei Berufe, die ihr genannt wurden, sah sie für sich eine Perspektive:
Als Bürokauffrau fürchtete sie »in einem zweiten Beruf arbeitslos zu werden«, als Restauratorin und Schreinerin meinte sie »wenn überhaupt, dann vielleicht in der maschinellen Sargschreinerei zu landen«, und auch als EDV-Programmiererin glaubte sie entgegen dem allgemeinen Trend, für sich eine ungewisse Zukunft zu sehen.
Sie schlug ein Arbeitsamt-Angebot aus, per Telephon das Buch »Welt der Tiere« zu verkaufen. In einem Ingenieurbüro fing sie als mathematisch-technische Assistentin an, wurde aber nicht auf Dauer engagiert.
Zwei Jahre lang hatte sie zumeist von Arbeitslosenhilfe gelebt, es waren etwa 800 Mark im Monat. Dann, 1982, meldete sie sich bei der »Lehrerselbsthilfe Rotstift«, einer Gemeinschaft von arbeitslosen Lehrern in Hanau. Sie suchen eigene Wege, fern der Schule ihren Beruf auszuüben. Ähnlich wie 16 andere Initiativgruppen allein in Hessen lehren sie erwachsene Analphabeten das Lesen und Schreiben, helfen sie Schulkindern bei den Hausaufgaben, bringen sie Ausländern Deutsch und Deutschen Englisch bei.
Clara Ortel ist beim »Rotstift« geblieben. Sie ist eine von 60 000 arbeitslosen Lehrern und Lehrerinnen, die es nach Schätzung der GEW derzeit in der Bundesrepublik gibt.
In dem Sinne, wie es arbeitslose Maurer und Buchhalter gibt, gibt es arbeitslose Lehrer nicht. Zu dieser Gruppe wird gerechnet, wer sich für den Lehrerberuf qualifiziert hat und vom Staat nicht eingestellt wird. Der Weg der 60 000 Lehrer hat unmittelbar von der Ausbildung in die Arbeitslosigkeit geführt.
Jahr für Jahr kommen neue in immer größerer Zahl hinzu. Dieser Tage gaben die 42 Referendare, die demnächst am Studienseminar Essen III ihr zweites Examen ablegen, mit einer Broschüre »Lehrer suchen Arbeit« eine »Gemeinschafts-Bewerbung« ab.
Sie handelten zwar auch in der Hoffnung, daß »die eine oder der andere« eine Stelle bekommt, aber vor allem um zu demonstrieren, daß »fast ein ganzer Jahrgang von Lehrern am Ende ihrer Ausbildung ohne berufliche Perspektive dasteht«.
Was tun die 60 000, die aus den Schulen ausgesperrt sind?
Viele halten sich mit wechselnden Beschäftigungen über Wasser. »Drei verschiedene _(In der »Lehrerselbsthilfe Rotstift« in ) _(Hanau. )
Jobs muß man haben«, weiß Christoph Heise, in der Frankfurter GEW-Zentrale für arbeitslose Lehrer zuständig, »um einigermaßen über die Runden zu kommen. Man fährt also zum Beispiel Taxi, gibt etwas Nachhilfeunterricht und läuft als Versicherungsvertreter durch die Welt.«
Andere sind in einen neuen Beruf übergewechselt, den sie mehr oder minder akzeptieren, und arbeiten als graue Mäuse in Büros oder Werkstätten, oder sie haben irgendwo eine Teestube, eine Buchhandlung oder einen Computerladen eröffnet. In Hamburg verleiht der verhinderte Lehrer Frank Mogwitz 500 Kostüme, vermietet seine Kollegin Kerstin Nitsche Autos. Als eine »Unternehmung stellungsloser Lehrer« bietet die Göttinger Firma »Auto-Import Schweisser« in Lehrerzeitungen »Import-Service für Kollegen« an.
Wieder andere sitzen auf Stellen, die von Arbeitsämtern aus dem Fonds für »Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen« (ABM) finanziert werden. Die sind jeweils auf ein Jahr befristet, können um ein weiteres Jahr verlängert werden und bringen um die 2500 Mark im Monat.
Viele tun das eine, ohne das andere zu lassen. Die Essener Lehrerin Erika Münster etwa erforscht auf einer halben ABM-Stelle bei der Volkshochschule »alternative Arbeitsmöglichkeiten« für arbeitslose Lehrer, und in einer Altentagesstätte liest und bespricht sie gegen Honorar in einem Literaturkurs Siegfried Lenz und Heinrich Böll.
Und schließlich haben sich viele notgedrungen als Hausfrau oder als Hausmann einstweilen ins Privatleben zurückgezogen.
Von der Lehrerarbeitslosigkeit sind Frauen weit stärker betroffen als Männer - nicht nur deshalb, weil sie in diesem Beruf ohnehin eine Mehrheit von 55 Prozent bilden. Ihnen fällt es auch schwerer, Jobs zu finden oder in einen neuen Beruf überzuwechseln. Zwei Drittel der arbeitslosen Lehrer sind Frauen.
Wohl in keinem anderen akademischen oder nichtakademischen Beruf ist die Diskrepanz zwischen Besitzern und Nichtbesitzern von Arbeit so groß wie bei den Lehrern.
Entweder werden sie eingestellt und als Studienräte nach A 13 (3640 bis 5160 Mark), als Haupt- und Realschullehrer nach A 12 (3250 bis 4670 Mark) bezahlt. _(Grundgehalt je nach Dienststufe plus ) _(Ortszuschlag, für Verheiratete mit zwei ) _(Kindern. )
Oder aber sie werden zurückgewiesen und haben dann vom Staat nur Arbeitslosenhilfe bis zu 275 Mark pro Woche (Verheirateter mit zwei Kindern) zu erwarten.
Mehr steht ihnen nicht zu, weil angehende Lehrer in ihrer praktischen Ausbildung als »Beamte auf Widerruf« nicht sozialversichert sind und keinen Anspruch auf das höhere Arbeitslosengeld erwerben.
Aber auch die Arbeitslosenhilfe erhält nicht jeder.
Einer Bielefelder Lehrerin wurden die 155,40 Mark pro Woche gestrichen, weil ihr Ehemann Einnahmen von wöchentlich 394,45 Mark hatte: »Sie sind daher nicht bedürftig und haben keinen Anspruch auf Arbeitslosenhilfe.« Obwohl die arbeitslosen Lehrer durchweg 25 bis 35 Jahre alt sind und ihr Elternhaus schon lange verlassen haben, wird auch das Einkommen ihrer Eltern aufgerechnet. Bei den Arbeitsämtern ist denn auch nur eine Minderheit der arbeitslosen Lehrer gemeldet, zur Zeit sind es 29 546.
In der Statistik der Kultusminister gibt es eine höhere Zahl von Lehrern, die abgewiesen werden (1984: 41 900), und auch um Schulstellen bewirbt sich mancher nicht mehr, weil er keine Chance mehr sieht.
Es breitet sich Armut aus. Der »Bonner Stadtanzeiger« fand ein arbeitsloses Lehrerehepaar mit zwei Kindern, das von 1161 Mark lebt. Der Mann hat sich auf eine Zukunft zu Hause eingerichtet, die Frau schreibt immer noch Bewerbungen, bislang 80 bis 90. Hätten sie nicht den Anspruch auf Arbeitslosenhilfe, ginge es ihnen etwas besser, der Satz der Sozialhilfe liegt um 30 Mark höher.
Wenn ein Wunder geschähe, größer noch als Jesu Wandeln auf dem Wasser, und jeder examinierte Lehrer in den Schuldienst aufgenommen würde, so würden sich vermutlich noch weit mehr Lehrer melden als die von der GEW geschätzten 60 000.
In Mönchengladbach zum Beispiel würden Armin Hermes, 34, und Michael Klosak, 33, ihre jetzigen festen Arbeitsplätze wahrscheinlich aufgeben. Hermes _(Bei einem Literaturkurs in der ) _(Caritas-Altentagesstätte in Heiligenhaus ) _(bei Essen. )
verdient als Sozialpädagoge in einem Heim für Suchtkranke nicht soviel wie ein Lehrer in der Schule, Klosak, Lehrer für Philosophie und Deutsch, würde lieber zu Schopenhauer und Kant zurückkehren, als weiterhin Lehrlinge Diktate und Aufsätze schreiben lassen.
In den letzten fünf Jahren hat sich die Situation für Lehrer erheblich verschärft. Deutlicher noch als in anderen Ländern wird dies in Nordrhein-Westfalen. Bis etwa 1980 wurden dort so gut wie alle Bewerber eingestellt, heute werden weitaus die meisten abgewiesen.
Und in den nächsten fünf Jahren wird sich die Lage sogar dramatisch zuspitzen. Heute ist jeder zehnte Lehrer arbeitslos, 1990 wird es etwa jeder fünfte sein. Bis dahin werden »selbst bei optimistischen Annahmen 150 000 ausgebildete Lehrer keine Beschäftigung im Schuldienst finden«, rechnete Klaus-Dieter Schmidt vom Kieler Institut für Weltwirtschaft aus. Einen so hohen Anteil von Arbeitslosen gibt es lediglich im krisengeschüttelten Baugewerbe, alle Kurzarbeiter mitgerechnet, und sogar dort nur in den Wintermonaten.
Weit und breit findet sich kein Lehrerfunktionär mehr, der die Einstellung aller oder auch nur der meisten arbeitslosen Lehrer in den Schuldienst verlangt. Auch viel bescheidenere Ziele sind illusionär geworden.
Wenigstens so viele Lehrer aufzunehmen, wie aus den verschiedensten Gründen ausscheiden, wird im Entwurf eines Papiers »Lehrerarbeitslosigkeit, Lehrereinstellung« angeregt, das die Bund-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung (BLK) diesen Monat verabschieden will.
Doch dieses Ziel, vor drei Jahren von den Amtschefs der Kultusministerien noch als »politischer Grundsatz« vereinbart, wird wohl in der Endfassung des BLK-Papiers nicht mehr stehen. Es ist nicht mehr zu erreichen. Nordrhein-Westfalens Kultusminister Hans Schwier (SPD) würde es schon für einen Erfolg halten, wenn wenigstens jede zweite Stelle wiederbesetzt würde.
Die Berufschancen der Lehrer haben sich aus drei Gründen radikal verschlechtert.
Der erste Grund: Die Schülerzahlen gehen wegen des Pillenknicks erheblich zurück, allein in den neun Jahren von 1984 bis 1992 um 19 Prozent, gleich 1,9 Millionen (um die Kopf-Zahl West-Berlins).
Der zweite Grund: Die deutschen Lehrer sind jünger denn je, weil von 1960 bis 1975 der damalige Mangel zügig ausgeglichen und die Zahl der Lehrer verdoppelt wurde. Heute sind drei von vier Lehrern jünger als 45 Jahre.
Ein Schulbeispiel dafür, wie sich der Lehrkörper verjüngt hat: An der Realschule im rheinischen Städtchen Kaarst wird erst in zehn Jahren, 1995, der nächste Lehrer pensioniert, die meisten Mitglieder dieses Kollegiums scheiden erst in den Jahren 2005 bis 2012 aus.
Der dritte Grund: In den öffentlichen Kassen ist Ebbe. Und weil in allen Bundesländern die Kultusetats weitaus die größten sind, versuchen die Finanzminister hier am kräftigsten zu sparen. Ihr Kürzel »kw« ("künftig wegfallend") bedeutet, daß die entsprechende Planstelle nach dem Ausscheiden des Lehrers nicht wiederbesetzt wird. Mit anderen Worten: Jeder »kw«-Vermerk macht die Hoffnung eines arbeitslosen Lehrers zunichte. Etliche tausend Lehrerstellen wurden schon gestrichen, etliche tausend weitere werden folgen.
In jedem Bundesland sind die Kultusminister oder Schulsenatoren bemüht, so viele Planstellen wie möglich vor dem Zugriff des Finanzministers oder -senators zu schützen.
Aber selbst wenn die Finanzminister den Rotstift aus der Hand legen würden, hätte nach Berechnungen der BLK lediglich jeder dritte arbeitslose Lehrer eine Chance. Der Philologenverband meint, daß »nur jeder vierte, eher nur jeder fünfte« Bewerber eine Stelle bekommt. Die Schulsenatorin Hanna-Renate Laurien rechnet in Berlin mit einem Verhältnis von sechs zu eins.
Das würde heißen: Die Chancen eines Lehrers, nach fünf bis sieben Studien- und Referendar-Jahren in seinen Beruf zu gelangen, wären noch geringer als die Chancen eines Abiturienten, einen Studienplatz im härtesten Numerus-clausus-Fach Medizin zu erhalten.
Ginge es nach den Kultusministern, ganz gleich ob sie Schwier oder Laurien heißen, so würde ein ganz anderer Kurs gefahren. »Arbeit in der Schule hätte ich genug«, versichert Schwier. Viele Schulaufgaben werden eher schlecht als recht gelöst, von der Arbeit mit arbeitslosen Jugendlichen in den Berufsschulen bis zur Betreuung von Ausländerkindern.
In allen Bundesländern fällt noch immer Unterricht aus, weil allzuoft kranke Lehrer nicht ersetzt werden können. Auf den Zeugnissen wird dann vermerkt, daß der Unterricht in diesem oder jenem Fach nicht erteilt werden konnte. »Würde in Autofabriken so gearbeitet«, meint GEW-Chef Dieter Wunder, »so würde in dem einen Auto der Tacho, in dem anderen das Rücklicht fehlen.«
Aber mehr denn je gilt das geflügelte Wort Hans Krollmanns, des einstigen Kultus- und heutigen Finanzministers in Hessen: »Bedarf ist, was man bezahlen kann.«
Obwohl nicht mehr 40 Prozent der Studenten Lehrer werden wollen (wie 1971, in dem Jahr mit der Höchstzahl), sondern nur noch vier Prozent, sind es immer noch zu viele. In den Hochschulen
und Studienseminaren bereiten sich laut Philologenverband 120 000 Studenten und Referendare auf das höhere Lehramt vor - ebenso viele, wie dieses Amt derzeit an den Gymnasien ausüben.
Noch nie hat es in der deutschen Schulgeschichte eine solche Überproduktion von Lehrern gegeben. Sie verändert diesen Beruf.
In den sechziger Jahren wetteiferten die Kultusminister, so viele Abiturienten wie nur möglich für das Lehrerstudium zu werben. Seit einigen Jahren versuchen sie umgekehrt, Abiturienten von diesen Studiengängen abzuschrecken.
Das Lehrerstudium bedeutete jahrzehntelang für Kinder aus der Unter- und Mittelschicht den Aufstieg in die akademische Welt. Nun aber sehen viele Eltern ihre Kinder als überschüssige Lehrer unter ihren eigenen sozialen Status absinken.
Lehrer sind die einzigen, die ein Leben lang, vom sechsten bis zum 62. oder 65. Lebensjahr, im selben leicht überschaubaren System bleiben. Haben sie mal Fächer und Schulart gewählt, so drehen sie auf den gradlinigen Bahnen des Bildungssystems ihre Schuljahresrunden und sind jeder weiteren Karriere-Entscheidung enthoben.
Die ausgesperrten Lehrer hingegen müssen viel Eigeninitiative entwickeln, um in einem Gewirr von Sackgassen, Hauptstraßen und Nebenwegen zurechtzukommen und ein halbwegs erträgliches Berufs- und Lebensziel anzusteuern.
Wer sich vor sechs, acht oder zehn Jahren für den Lehrerberuf entschied, wollte den Konkurrenzkampf in der freien Wirtschaft meiden. Heute sehen sich die arbeitslosen Lehrer viel härteren Zwängen und größeren Risiken ausgesetzt als jenen, die sie damals scheuten.
Früher genügte das mieseste Examen, um A 12 oder A 13 zu bekommen, heute sichert auch das beste Examen keine Stelle. Die Kultusminister fischen zwar noch immer viele, aber keineswegs mehr alle Absolventen mit Supernoten heraus.
Es ist auch fast egal geworden, welche Fächer während des Studiums gewählt wurden. Die Chancen sind mittlerweile auch für Mathematik und die Naturwissenschaften so tief gesunken, wie sie für Deutsch und Sozialkunde schon seit langem waren.
Auf die Chancen wirkt sich die Kombination der Fächer etwa so aus wie die Zahlen auf einem Lottoschein. Ein und dieselbe Kombination kann beim nächsten Bewerbungstermin die Chancen erhöhen, beim übernächsten zunichte machen.
Überhaupt hängen Lehrer-Sein und -Nichtsein von Zufällen ab, etwa vom Geburtsjahrgang oder davon, ob jemand das Examen um ein Semester hinausschob, weil er das Fach oder die Braut wechselte. Da hat mancher seine Lebenschance verpatzt.
Auch ein falscher Buchstabe kann zum Schicksal werden. G steht für Gymnasium, H für Hauptschule und R für Realschule, wenn die Bewerber sich für Schularten entscheiden müssen. Weil die Bielefelderin Astrid Lehmann, als Lehrerin der »Sekundarstufe I« für alle drei Schularten geeignet, H und R schrieb, scheiterte sie, mit einem G wäre sie heute Studienrätin.
Wie die anderen Arbeitslosen fallen auch die Lehrer kaum auf. Sie haben keine Lobby und treten nur als Randfiguren auf, wenn in der Evangelischen Akademie zu Loccum, in einer Fernsehrunde oder im Bundestagsausschuß für Bildung und Wissenschaft ihre Probleme erörtert werden.
Aber es ist nicht sicher, daß sie so zurückhaltend bleiben. In Essen gab es voriges Jahr die erste Demonstration »Lehrer liegen auf der Straße«. In Mönchengladbach kamen im März 500 arbeitslose Lehrer zu ihrem ersten Kongreß zusammen, der nur von ihresgleichen, ohne irgendeine Gewerkschaft oder einen Lehrerverband, organisiert wurde.
Es waren auch Referendare dabei, die noch gar nicht arbeitslos sind. Für schizophren erklärten sie ihre Situation in den Seminaren. Mit immensem Eifer bereiten sich die meisten auf einen Beruf vor, den sie nie ausüben werden: »Man fährt mit Vollgas in die Sackgasse.« Sie kämpfen um gute Noten, obwohl auch die kaum noch weiterhelfen, und versuchen, sich über das nahe Ende aller Hoffnung hinwegzutäuschen.
Zumindest in Nordrhein-Westfalen werden die arbeitslosen Lehrer fortan ihre Forderungen kämpferischer vertreten und die Politiker aggressiver herausfordern. Das ist das Ziel Thomas Menzels, 33, eines verhinderten Gymnasiallehrers für Geschichte und Sozialkunde, der in Mönchengladbach mit 25 anderen vor zweieinhalb Jahren eine »Initiative arbeitsloser Lehrer/innen« gründete und auf dem Kongreß im März als deren Sprecher auftrat.
Kultusminister Schwier bekam schon diesen neuen Trend zu spüren, als er Mitte April in Mönchengladbach ein Theatertreffen eröffnen wollte und Menzels »Initiative« ihm einen Sarg ("SPD-Bildungspolitik") vor die Füße stellte.
Die arbeitslosen Lehrer wollen zugleich um Verbündete und um Verständnis werben und sich gegen die bundesweit verbreitete Volksmeinung wehren, sie seien selbst schuld an ihrer Misere, die Kultusminister hätten sie doch rechtzeitig gewarnt.
Sie haben Belege dafür parat, daß sich die Kultuschefs durchaus nicht schon immer so eindeutig geäußert haben wie in den letzten Jahren. Der Schwier-Vorgänger Jürgen Girgensohn zum Beispiel ließ in einer Mitte 1974 veröffentlichten Broschüre zwar partielle Überschüsse in einigen Fächern für die achtziger Jahre ankündigen, zugleich aber auf andere Fächer »mit den besten Berufsaussichten« verweisen. Und in dieser amtlichen Broschüre steht der Leitsatz: »Es bleibt nach wie vor legitim, auch die Fächer zu studieren, bei denen sich ein Lehrerüberschuß ankündigt, da engagierte und fachlich kompetente Lehrer immer gebraucht werden.«
Im selben Jahr erklärte der damalige GEW-Chef Erich Frister alle Ankündigungen eines Lehrerüberschusses für »Weissagungen aus dem Kaffeesatz«, es
bestehe vielmehr »ein ungeheurer Bedarf an Lehrern«.
Damals begann der Mönchengladbacher Menzel sein Studium, andere heutige Arbeitslose standen vor dem Abitur. In der zweiten Hälfte der siebziger Jahre allerdings wurden die Warnungen immer massiver, und die Lehrerfunktionäre hörten auf, irreführende Gegenparolen auszugeben.
Aber der Streit, ob die Minister genau genug sprachen und die Abiturienten und Studenten genau genug hinhörten, bleibt zu sehr an der Oberfläche. Wer die Frage nach der Schuld an der Fehlentwicklung stellt, muß auch prüfen, was die Kultusminister als Dienstherren aller Lehrer sonst noch getan und was sie versäumt haben.
Der Lehrerstrom fließt auch deshalb an den Schulen vorbei ins Ungewisse, weil sich am einschlägigen Studium so gut wie nichts geändert hat. Da wurde über all die Jahre hin so gelehrt und gelernt, als führten weiterhin alle Wege, wie gewohnt, aus den Hörsälen in die Schulklassen. Da gab es niemanden, der ein Konzept entwickelte, um dem Studium neue zusätzliche Inhalte zu geben. Erst neuerdings ist man wenigstens bemüht, hier und da Schwerpunkte an den Universitäten zu setzen, etwa in Marburg für Erwachsenenbildung, in Trier für Deutsch als Fremdsprache, in Gießen und Kassel für Fremdsprachen in der Wirtschaft.
Die Kultusminister trifft darüber hinaus erhebliche Schuld daran, daß sie den Studentenstrom nicht durch eigene Entscheidungen gesteuert, sondern den Lauf der Dinge völlig den vielen Einzelentscheidungen der Abiturienten und Studenten überlassen haben.
Ein Numerus clausus wie für die Medizinfächer auch für die Lehrerfächer wäre wahrscheinlich am Bundesverfassungsgericht gescheitert, und gegen ein solches Zwangssystem spricht ohnehin viel.
Aber zwischen einer Zugangssperre und dem bis heute praktizierten Selbstlauf gab es - und gibt es vielleicht noch immer - etliche Möglichkeiten.
Es konnte oder kann darum gehen, die potentiellen Lehrer intensiv zu beraten und sie zu zwingen, ihre Entscheidung für den chancenarmen Beruf zu überdenken.
Die Möglichkeiten: ein Gespräch der Professoren mit den Bewerbern, ein Test der Begabung für die Lehrerstudiengänge und für alternative Fächer, ein Praktikum an Schulen oder in Heimen nach zwei Semestern, wohl auch eine Wartezeit, die berufs- und jugendnah auszufüllen wäre.
Das eine oder andere oder all dies nur als Möglichkeit anzubieten wäre zu wenig. Den Bewerbern müßte ein solches Selbstprüfungsprogramm schon zur Pflicht gemacht werden.
Aber anders als bei den Medizinfächern, wo diese Mittel (abgesehen vom Praktikum) für die Auswahl benutzt werden und der Staat die Konsequenzen zieht, müßte bei den Lehrerfächern die Entscheidung den Bewerbern selbst überlassen bleiben.
Mit mehr Tatkraft und Umsicht hätten die Kultusminister auch ein System schaffen können, um die geringen Berufschancen besser auf die Jahrgänge der Bewerber zu verteilen. Zu Recht rügt Baden-Württembergs Kultusminister Gerhard Mayer-Vorfelder, seit 1980 im Amt, die frühere Praxis seiner Kollegen, die zu den heutigen Einstellungsstopps führte: »Ich habe immer davor gewarnt, Anfang der siebziger Jahre bis 1979 auch den letzten ''Fußkranken'' in den Schuldienst zu bringen. Das hat man gemacht, und heute habe ich engagierte junge Leute draußen stehen, die zum Teil weitaus besser sind als die, die drinnen sind.«
Noch immer wollen viele arbeitslose Lehrer nicht glauben, daß die Kultusminister sie ihrem Schicksal überlassen. Der Münchner Psychologe Philipp Mayring, der an einer Studie über arbeitslose Lehrer arbeitet, umreißt die Stimmung so: »Der Staat kann doch nicht zigtausend teuer ausgebildete Lehrer einfach auf der Straße stehenlassen! Man wird schon etwas für uns tun!«
Viel trügerische Hoffnung hält sich unter den Lehrern, oft wird die Jahreszahl 1990 genannt, wenn sie untereinander über ihre Zukunft sprechen: In jenem Jahr werde erstmalig die Zahl der Schüler wieder steigen, dann würden wieder mehr Lehrer gebraucht.
In ihrem Irrglauben werden die Arbeitslosen von einem renommierten Fachmann wie Hellmut Becker, dem langjährigen Leiter des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin, bestärkt.
Sie sollten sich, so Becker in der »Zeit«, »dahingehend orientieren, daß sie in den neunziger Jahren wieder Lehrer werden können, und wir sollten mit Beratungsstellen dafür sorgen, daß sie in der Zwischenzeit möglichst produktive Tätigkeiten einnehmen können«.
Die Wahrheit ist, daß die Schülerzahlen in den neunziger Jahren nur langsam wieder steigen werden und deshalb lediglich ein paar hundert Lehrer zusätzlich gebraucht werden.
Das werden fast nur Absolventen mit frischem Examen sein. Wie gering die Chancen älterer Bewerber sind, zeigt ein Erlaß des Kultusministers Schwier. Er wies die zuständigen Instanzen an, für einige Stellen an den Berufsschulen Bewerber mit 1984er und 1985er Examen allen älteren vorzuziehen.
Was brachte die heute arbeitslosen Lehrer dazu, einst allen Erfahrungen und Warnungen zum Trotz das riskante Studium zu beginnen und durchzuhalten, was läßt sie heute wider alle Vernunft auf eine Wende im Jahr 1990 hoffen, was läßt auch jetzt noch 16 000 Abiturienten pro Jahr das Lehrerstudium beginnen?
In einigen Arbeiten versuchten Bildungsforscher die Mentalität zu ergründen, die zu dieser Einstellung führt. Insbesondere das hannoversche HIS-Institut steuerte einige Erkenntnisse bei.
Wie ihre Kommilitonen in anderen Fächern setzen auch die Lehrerstudenten ihre Präferenzen anders, als viele Eltern und Berufsberater es für richtig halten.
Die meisten wollen laut HIS »lieber ein Fach studieren, das einen wirklich _(Mit Sohn Nils, fünf Monate. )
interessiert, egal wie die späteren Berufschancen sein werden«. Nur eine Minderheit will »lieber ein Fach studieren, in dem die späteren Berufschancen gut und sicher sind, auch wenn es weniger interessiert«.
Je näher das Examen rückt, desto größer wird diese Minderheit, die auch die Berufschancen bedenkt. Aber die meisten beharren auf der Wahl des Faches ohne Rücksicht auf spätere Folgen.
Auch die Grundtypen von Lehrern, die es hierzulande gibt, erklären, warum so viele an einem Berufsziel festhalten, das sie nicht erreichen können.
Da ist der Typ des Lehrers aus Leidenschaft, der beim Kontakt mit Jugendlichen auflebt, vielfältig engagiert und orientiert ist (immer ein bißchen oberflächlich), Freude daran hat, Wissen weiterzugeben, aber auch eine überschaubare Welt braucht, in der er eine eindeutige Funktion hat.
Da ist weiter der Typ des Lehrers aus Verlegenheit, der das Studium nach der Devise »Mir fällt nichts Besseres ein« wählt, sich gern anpaßt (dem Trend der Zeit wie auch dem seiner jeweiligen Gruppe), nicht zu den Kämpfern gehört, sich nicht übernimmt und auch nicht hervortut. Die Schule zieht ihn auch deshalb an, weil er sie schon »kennt«, ihm da also nicht viel passieren kann.
Und da ist der Typ des Lehrers aus Begeisterung für ein Fach, der manchmal glaubt, eigentlich besser an eine Hochschule als an eine Schule zu passen, dem es aber mehr liegt, zu lehren als zu forschen, der seiner Umgebung gern zeigt, daß er mehr weiß als die anderen, der sich in seinem Studierstübchen oder mit vier, fünf Schülern am wohlsten fühlt und dem die Aula eigentlich schon zu groß ist.
Gemeinsam ist allen drei Lehrertypen, daß sie Risiken scheuen und Sicherheit suchen. Da glaubt man sich dann auf dem richtigen Wege, wenn man die Schule nur verläßt, um über die Hochschule wieder in die Schule zurückzukehren. Doch nun ist diese Kreisbahn defekt, und den meisten arbeitslosen Lehrern kann nicht mehr zum Schulglück verholfen werden.
Darunter leiden nicht nur sie, sondern auch die Schule. Sie droht zu vergreisen, wenn eine ganze Lehrergeneration ausfällt.
»Junge Lehrer«, so mahnt ein Papier des niedersächsischen Kultusministeriums, »haben leichter als ältere Zugang zur Lebensgrundstimmung und Vorstellungswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen.« Je jünger die Schüler seien, desto stärker würden sie die Überalterung empfinden: »Die Grundschule wird zur Oma/Opa-Schule.«
Mit einigen Maßnahmen, auf die sich die Kultusminister geeinigt haben, werden nur Plätze für wenige hundert junge Lehrer geschaffen.
Insbesondere wurden teils für Beamte allgemein, teils speziell für Lehrer die Möglichkeiten erweitert, die Arbeitszeit zu verkürzen. Zehn Jahre lang können Lehrer ihre Stundenzahl (und ihr Einkommen) kürzen, neun Jahre lang unbezahlten Urlaub nehmen.
25 bis 30 Prozent des deutschen Schulpersonals, Frauen weit zahlreicher als Männer, haben sich bereits für Teilzeit-Lösungen entschieden.
Die Kultusminister geben der Einstellung von jungen Lehrern höheres Gewicht als den Nachteilen für die Schule. Teilzeit-Lehrer(innen) kommen am liebsten nicht mehr jeden Tag in die Schule, »ein vollwertiger Einsatz als Klassenleiter ist oft in Frage gestellt« - so der Kultusminister Georg Gölter (Rheinland-Pfalz).
Viele Schlagzeilen und wenige Stellen bringen die Bemühungen insbesondere des niedersächsischen Kultusministers Georg-Berndt Oschatz, Lehrer in die USA zu exportieren. Wer dort ein paar Jahre arbeiten will, muß seine Reise selbst bezahlen und kann von dem kärglichen US-Lehrergehalt kaum eine Wohnung mieten.
Zwei Vorschläge zielen darauf ab, nicht nur einige hundert, sondern einige tausend oder sogar zehntausend Lehrerstellen zu schaffen.
Am bekanntesten wurde der Vorschlag des Düsseldorfer Ministers Schwier, der eigentlich nur einen Gedanken seines Vorgängers Girgensohn wiederbelebte: Allen Lehrern solle per Gesetz die Arbeitszeit um eine Stunde und das Gehalt um vier Prozent gekürzt werden. 18 000 bis 22 000 Lehrerstellen könnten damit finanziert werden.
Schwier fand dafür die Zustimmung einer Bevölkerungsmehrheit von 80 Prozent, aber er stieß bei seinen CDU-Kollegen und vor allem bei den Lehrerverbänden auf Widerstand, die dieses »Sonderopfer« ablehnten. Wilhelm Ebert, Vorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung, nannte es »ein unmögliches Begehren, eine bestimmte Gruppe solle ihren beruflichen Nachwuchs selbst finanzieren«.
Schwier selbst tat wenig, um seinen Plan durchzusetzen, so daß Zweifel
wuchsen, ob er ihn überhaupt ernst meint. Er arbeitete nicht mal die Details aus, deshalb wurden die verfassungs- und beamtenrechtlichen Probleme, die der Vorschlag aufwirft, bislang kaum erörtert.
Regierungschef Johannes Rau fuhr doppelgleisig, er lobte den Vorschlag im Fernsehen und erklärte ihn vor SPD-Funktionären für nicht realisierbar.
CDU-Minister Oschatz und GEW-Chef Wunder, sonst selten einer Meinung, begeistern sich neuerdings für einen anderen Vorschlag. Deutschen Lehrern solle ein Sabbatjahr ermöglicht werden, wie es sich insbesondere in Israel bewährt habe. Der GEW-Hauptvorstand hat die Kultusminister um Gespräche über diesen Vorschlag gebeten.
Der Kerngedanke: Alle Lehrer, die sich beteiligen wollen, zahlen einen Teil ihres Einkommens, laut Wunder 100 bis 200 Mark im Monat, in einen Fonds und dürfen das siebte Jahr fern der Schule verbringen und an der eigenen Fortbildung arbeiten. Der Staat soll ebenfalls in den Fonds zahlen, und er soll den Begriff Fortbildung so großzügig auslegen, daß die Lehrer Spaß am Sabbatjahr haben.
Würden sich auch nur zehn Prozent der deutschen Lehrer an einem solchen Sabbatjahr beteiligen, könnten 7000 Lehrer eingestellt werden.
Querschüsse wurden schon abgefeuert. Wie Schwier von Rau, so wurde auch Oschatz von seinem Regierungschef Albrecht gebremst: Der Vorschlag dürfe nur kostenneutral, also ohne Staatszuschuß, verwirklicht werden. Dann würde das Sabbatjahr den Lehrern wohl zu teuer.
Um einen dieser Vorschläge zu realisieren, bedürfte es schon einer konzertierten Aktion von Bund und Ländern, von Finanz- und Kultusministern, der Bundesanstalt für Arbeit, der Gewerkschaften und der Lehrerverbände.
Doch an der Entschlossenheit, einen solchen Beschluß zu fassen, fehlt es allenthalben. Die meisten Lehrerfunktionäre meinen sich mit dem wortgleichen Standardsatz, Arbeitslosigkeit sei ein gesamtgesellschaftliches Problem und könne nur gesamtgesellschaftlich bewältigt werden, von der Verpflichtung zur Kollegialität mit den Kollegen vor der Schultür befreien zu können.
Wie es wahrscheinlich kommen wird, steht im Entwurf des BLK-Lehrerpapiers: »Es ist damit zu rechnen, daß in den nächsten sechs Jahren je nach Einstellungssituation 60 000 bis 130 000 Lehramtsabsolventen ... einen Arbeitsplatz in der Wirtschaft anstreben müssen.«
Was den Lehrern damit zugemutet wird, beschreibt der Nürnberger Arbeitsmarktexperte Friedemann Stooß: »Zunächst einmal seine berufliche Identität zu opfern und sie einzutauschen gegen das vage Versprechen, dann einen Arbeitsplatz finden zu können, bei dem
er Teile seiner Fachkompetenz wieder einbringen könne.«
Was man von den Lehrern dort erwartet, verkündet Rüdiger Falk vom Kölner Institut der deutschen Wirtschaft knallhart: »Die Bereitschaft, auf den Lehrerberuf endgültig zu verzichten und von den damit verbundenen Status-, Freizeit- und Einkommenserwartungen - zumindest in der Anfangsphase der Beschäftigung - Abstand zu nehmen.«
Wohin die Lehrer auch umsteigen, überall stoßen sie auf andere Bewerber um die ohnehin durchweg knappen Plätze, und sehr oft sind die anderen für die Arbeit besser qualifiziert als sie: der Chemiker besser als der Chemie-Lehrer, der Dolmetscher besser als der Englisch-Lehrer, der Diplom-Kaufmann besser als der Wirtschaftskunde-Lehrer.
Wer sich auf fachfremdes Neuland begibt, sieht sich harter Konkurrenz erst recht ausgesetzt. Das Touristik-Unternehmen NUR zum Beispiel suchte 100 Reiseleiter und Animateure unter 2500 Bewerbern aus.
Auf welche Vorurteile sich die Lehrer in nicht wenigen Firmen gefaßt machen müssen, brachte der Wiesbadener Lektor Michael Schönberger zu Papier: Den Lehrern »eilt der Ruf mangelnder Flexibilität und Kreativität voraus. Man sieht in ihnen introvertierte Sozialutopisten, die beamtenrechtliche Versorgung anstreben und sich in einer an Leistung, Konsum und Gewinn orientierten Gesellschaft nicht unnötig strapazieren wollen«.
Das Mißtrauen wird genährt durch Schlagzeilen, wie sie ein Bericht des Instituts der deutschen Wirtschaft auslöste. Mit einem Modellversuch, bei dem 78 Stellen mit 19 500 Mark Jahreseinkommen ohne Garantie einer Dauerbeschäftigung zu besetzen waren, erging es dem Institut mit tausend Lehrern wie mit den zehn kleinen Negerlein.
Von 1012, die sich beworben hatten, schickten nur 647 Unterlagen ein; von denen nahm das Institut nur 417 in die Vorauswahl; von denen kamen nur 156 zu den Vorstellungsgesprächen; von denen wiederum wurden nur 35 eingestellt.
43 Stellen blieben insbesondere deshalb frei, weil Lehrer auf Angebote für ein spezielles Arbeitsgebiet überwiegend negativ reagieren: sich für Versicherungen, Buchklubs oder andere Firmen von Tür zu Tür zu klingeln. Nach den Erfahrungen des Instituts ist für »Verkauf, Werbung, Marketing, PR, Vertrieb« mit Lehrern kaum zu rechnen.
Umgekehrt bleibt ihnen bislang gerade das Gebiet fast verschlossen, das sie am stärksten lockt, die betriebliche Aus- und Weiterbildung.
Vielfältig sind die Versuche, Lehrer für die Wirtschaft zu qualifizieren. Großfirmen wie Siemens und Nixdorf entwickelten spezielle Kurse, auch Arbeitsämter versuchen, die Kenntnisse von Lehrern aufzustocken.
Nicht in Unternehmen der Wirtschaft, sondern in eigenen »Initiativgruppen« haben einige hundert Lehrer Möglichkeiten gefunden, außerhalb der Schule in ihrem Beruf zu arbeiten.
Dazu gehört in Frankfurt eine Gruppe, die ihrem eingetragenen Verein die Losung »Keine arbeitslosen Lehrer in Frankfurt« als Namen gab und ihn für den Geschäftsverkehr zu »Kalif« verkürzte. Andere Gruppen nennen sich »Bipoli«, »Ideal« oder »Kaos«, »Didaktischer Laden« oder »päd-aktiv«. »För Lütte Lüd« heißt eine Hamburger Gruppe, die mit dem Spruch wirbt: »Gemütliche Atmosphäre, kleine Gruppen, qualifizierte Lehrer, viel Spaß«.
Das Programm fast aller dieser Gruppen reicht von Sprachkursen über die Hilfe beim Nachholen von Schulabschlüssen bis zu Freizeitkursen der verschiedensten Art. Sie lehren Steuererklärungen abzugeben, Fahrräder zu reparieren, Gitarre zu spielen oder mit Tellern zu jonglieren.
Viele stellen sich ausdrücklich die Aufgabe, »pädagogische Aktivitäten dort zu entfalten, wo unser öffentliches Bildungswesen Lücken oder Mängel aufweist«. So verkündet es der Hanauer Verein »Rotstift«.
Auch die Essenerin Erika Münster, die derzeit Alten vorliest, hat schon einige Erfahrung auf diesem Feld gesammelt. Das Problem für sie, wie für alle anderen, ist es, diese Arbeit zu finanzieren. Fast alle versuchen, irgendwelche öffentlichen Quellen zu erschließen. Erika Münster: »Die Sache macht Spaß, oft mehr, als man bei der Arbeit in der Schule hätte, aber das ewige Bemühen um Geld nervt manchmal fürchterlich.«
Es gibt schon viel Literatur über diesen neuen Bildungszweig, und einige Autoren sprechen ihm eine große Zukunft zu. Denn weil die Arbeitswelt immer neue Aufgaben bringt und die Freizeit für viele immer länger und leerer wird, gibt es für nahezu jeden ein Leben lang Gründe, irgend etwas zu lernen.
Der Eßlinger Professor Winfried Sommer sieht »langfristig überhaupt nur in dieser Richtung eine seriöse Lösung des Problems der Lehrerarbeitslosigkeit«. Und der Berliner Dozent Joseph Huber fragt sogar schon:
»Warum soll es nicht niedergelassene Lehrer geben, ähnlich niedergelassenen Ärzten?«
Im nächsten Heft
Nach der Lehrer- die Juristenschwemme - Junganwälte in Existenznöten - Nur jeder zweite Jura-Student wird Jurist
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1984: VIER VON FÜNF LEHRERN ABGEWIESEN Seit 1980 haben sich die Berufschancen der Lehrer erheblich verschlechtert eingestellte Bewerber abgewiesene Bewerber Quelle: Kultusministerkonferenz WENIGER SCHÜLER ... Seit 1975 geht die Zahl der Schüler an den deutschen Schulen zurück, erst 1990 wird sie sich wieder - zunächst geringfügig - erhöhen. Die Zahlen in Millionen, ab 1985 Prognose der KMK. Schüler in: Grundschulen und Hauptschulen Realschulen Gymnasien ... UND MEHR LEHRER Die Zahl der Lehrer hat sich ebenfalls stark verändert, allerdings nicht entsprechend den Schülerzahlen. Das zeigt der Vergleich der Schüler- und Lehrerzahlen für die allgemeinbildenden Schulen insgesamt (Grund-, Haupt-, Realschulen, Gymnasien, Gesamt- und Sonderschulen). Schüler Lehrer geschätzt
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In der »Lehrerselbsthilfe Rotstift« in Hanau.Grundgehalt je nach Dienststufe plus Ortszuschlag, für Verheiratetemit zwei Kindern.Bei einem Literaturkurs in der Caritas-Altentagesstätte inHeiligenhaus bei Essen.Mit Sohn Nils, fünf Monate.