Spiegel des 20. Jahrhunderts Mit Zauber aus der Krise?
Das jugendliche Volksbühnenpublikum amüsierte sich wie Bolle während des Berliner Theatertreffens 1997. Denn Intendant Frank Castorf hatte, wieder mal, ein Stück zerlegt: Carl Zuckmayers »Des Teufels General«. Corinna Harfouch gab den Kampfflieger Harras, mit Stöckelschuhen, Reitgerte und schwarzen Bodystockings, und während sie sich aus ihrem Armeemantel schlängelte, übten ein paar von Castorfs Mimen-Räumern an der Rampe, wie man im Hitler-Klamauk gleichzeitig kichert und bellt.
Das also ist übriggeblieben, 50 Jahre nach der Uraufführung: ein zerfetzter Text, eine wohlstandsvergessene, inhaltsleere Clownerie - die Travestie auf das Theater der Stunde Null und seiner Themen.
Trotz allen Übermuts jedoch wohnte dem Abend in der Volksbühne eine merkwürdige Paradoxie inne: Die Theaterleute
* Probe zu »Iphigenie auf Tauris«.
dort stellten eher die eigenen Trümmer aus als die eines Stückes, das in den Trümmern geboren wurde. Sie zeigten, zumindest an diesem Abend, daß sie alle Mittel eines spendablen Subventionstheaters zur Verfügung haben - und wenig zu sagen. Das deutsche Nachkriegstheater ist einen weiten Weg gegangen.
Vor 50 Jahren schien es umgekehrt, als Zuckmayers Stück unter Boleslaw Barlog aufgeführt wurde. Die Mittel waren knapp, doch zu sagen hatte man viel. O. E. Hasse spielte den deutschen Offizier, der sich mutig in Luftkämpfe stürzt, aber gegen seine mörderischen Auftraggeber nur mit folgenlosem Gewissensrumoren aufbegehrt - ein Mitläufer, der sich aus dem Zwiespalt von soldatischem Gehorsam und moralischem Einspruch nur in den Selbstmord zu retten weiß.
Viele unten im Parkett wußten, was Hasse zerriß, weil viele seinen Zwiespalt gerade durchlebt hatten - und das Theater war der Ort, in dem er diskutiert werden konnte. Hier, wo bei Stromausfällen unter Kerzenlicht weitergespielt wurde, war Theater moralische Anstalt, Beichtstuhl - und ging jeden unmittelbar an.
Man war süchtig nach Theater. Man bezahlte die Tickets mit Briketts, Nägeln und Lebensmitteln - eben allem, was denen oben ermöglichte, für die unten zu spielen.
In Berlin war Gründerzeit. »An fast 200 Stellen wird Theater gespielt« , jubelte der legendäre Berliner Kritiker Friedrich Luft über den Dias, den Drahtfunk im amerikanischen Sektor, »welche Stadt der Welt hat das noch?«
Diese ausgediente Hauptstadt in Trümmern hatte es, und ähnlich sah es in vielen anderen deutschen Städten aus: Der Bühnenverein zählte 419 Theater, eines mehr als im »Großdeutschen Reich« von 1943. Provisorien zumeist, Gemeindesäle, Schulen, auch zerbombte Theaterruinen, die schnell und notdürftig für den Spielbetrieb flottgemacht worden waren - sie beschäftigten 1947/48 rund 37 000 Theaterleute und damit 500 mehr als zur Spielzeit 1938/39.
Jede Produktion war genehmigungspflichtig. Zwischen den Auflagen der Sieger aus West und Ost hatte das Theater Erziehungsaufträge zu absolvieren für ein Volk, das verzweifelt war und als verstockt galt. So hielt man sich weitgehend an die erprobten Humanitätsliturgien, an Lessings »Nathan«, an »Fidelio«.
Die deutschen Theaterstars? Sie wurden gebraucht, sie wurden sogar umworben, von den verschiedensten Seiten. Manche, wie Gustav Knuth, schafften den Sprung in die neue Zeit ohne Schwierigkeiten, manche andere wurden verhaftet wie Victor de Kowa, auf offener Bühne. Die Zuschauer hielten den Vorgang zunächst für einen Regie-Gag und applaudierten.
Aus dieser Gemengelage von Schuld und Sühne, Depression und Aufbruchswillen, Kunsthunger und Zerstreuungssucht wurde das Nachkriegstheater geboren. Eine Hauptrolle darin spielte ein Mann mit Nickelbrille am Gummiband, krank und ausgemergelt unterm Armeemantel, in Borcherts Stück »Draußen vor der Tür«, das wie ein Blitzschlag das Drama der Heimkehrer erhellte. Es mündete in die große Frage: Warum? Wozu?, in den verzweifelten Ausruf: »Gibt denn keiner, keiner Antwort???« Selbst Gott drückt sich davor - er ist ein alter Mann, der am Ende sprachlos im Bühnendunkel verschwindet.
Zuckmayer, Borchert und sicher noch Thornton Wilder, der mit seinem Stück »Wir sind noch einmal davongekommen« bereits 1942 den Slogan für die »Zeit danach« formuliert hatte - diese drei Autoren prägten den Neuanfang. Ansonsten waren die Schubladen leer. Der Faschismus hatte ja nicht nur Literatur verbrannt, er hatte auch alle ernsthafte Dramatik jenseits soldatischer Durchbruchsmoral verhindert.
Die Emigranten sollten dem deutschen Theater auf die Beine helfen. Sie bewegten sich zögerlich in die alte Heimat. Sie legten Etappen ein und sondierten vorsichtig. Von Zürich aus kehrten Bert Brecht und Regisseur Wolfgang Langhoff nach Berlin zurück.
Mit seiner »Mutter Courage«, während der Emigrationszeit uraufgeführt, hatte Brecht sein episches Theater zur Perfektion gebracht. Eine didaktische Revue zum großen Krieg, der hier der 30jährige war - Helene Weigel zog als Marketenderin ihren Planwagen auf ewig kreisender Drehbühne und beklagte das Los der Kleinen im Machtkampf der Herrschenden.
Brecht war fleißig gewesen während der Emigrantenjahre, er hatte knapp zwei Dutzend neue Stücke im Gepäck und fest umrissene Vorstellungen davon, wie das Theater der Zukunft auszusehen habe: Es ging ihm nicht um Einfühlung, sondern um intellektuelle Durchdringung - die Verhältnisse sollten verstanden werden, damit man sie verändern konnte.
Doch Brecht ließ sich nicht im Ostteil Berlins nieder, weil er Kommunist, sondern weil er Theatermacher war. Die sowjetischen Besatzer hatten ihm das Theater am Schiffbauerdamm als Labor zur Verfügung gestellt, jene Spielstätte, an der er 1928 mit der »Dreigroschenoper« seinen größten künstlerischen und kommerziellen Erfolg erzielt hatte. Den österreichischen Paß, um den er sich lange beworben hatte, behielt er.
In den folgenden Jahren pilgerte man zu den Aufführungen seines »Berliner Ensembles«, und Peter Zadek, ein anderer Emigrant, der das westdeutsche Theater in den kommenden Jahrzehnten prägen sollte wie kaum sonst einer, sah hier die erste große Theateraufführung seines Lebens - »es war wie eine Erweckung«.
Während Brechts Theater die gesellschaftlichen Kräfte analysierte, in denen Menschen ausgeformt werden, wandte man sich im Westen ihren inneren, existentiellen Landschaften zu. Die wesentlichen Texte dafür lieferten Sartre und Camus. In Sartres »Fliegen« hat jeder in jedem Moment seines Lebens die Wahl.
In den folgenden Jahren jedoch sollten sich zwei Autoren durchsetzen, die beide Grundannahmen, sowohl die Brechts wie die Sartres, für grundlos optimistisch hielten. Für Eugène Ionesco und Samuel Beckett war die Welt ein unveränderbarer absurder Alptraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Der Sinn des Lebens? Er besteht aus schierem Weitermachen.
Und es ist prima, wenn einem dabei das Lachen nicht vergeht: Als Beckett später sein »Warten auf Godot« im Berliner Schiller Theater selbst inszenierte, mit Horst Bollmann und Stefan Wigger, bestand er darauf, daß es sich um ein lustiges Stück handele - die »Leute sollen soviel lachen wie möglich«.
Mitte der sechziger Jahre meldete sich vehement eine neue Generation von Autoren und Theatermachern zu Wort, beseelt von dem Impuls, die Bühnen zu öffnen für das, was sich draußen, in der Gesellschaft, abspielte.
In dem Maße, in dem Deutschland satt geworden war im Wirtschaftswunder, waren es auch die Theatergänger. Das Parkett hungerte keinen Antworten mehr entgegen und erst recht keiner Irritation - es wollte feierabendliche Erbauung bei Klassikern. Und die wurde geliefert, in meist schal gewordenen Andachtsveranstaltungen, produziert von Intendanten und Mimen, die ihr Handwerk noch vor dem Krieg gelernt hatten. Gründgens, Hoppe, Hilpert, Stroux, Kortner - für die Jungen galten nun selbst die Größten vorerst nur noch als ausgediente Kräfte.
Lauter Väter, die von den Söhnen beiseite geräumt wurden, und die taten es mit der einfachsten und gleichzeitig brutalsten aller Keulen: Alle Alten waren verdächtig, waren Mitmacher, Mitläufer, waren politisch und ästhetisch korrumpiert. Doch auch im Parkett saß der Feind, dort erst recht - jene »Bildungsbürger« oder
* Mit Victor de Kowa und Curd Jürgens.
»Abonnenten«, die das schlechte Bestehende verkörperten.
Sie mußten sturmreif geschossen werden. Peter Handke gab mit seiner »Publikumsbeschimpfung« (1966) das Programm vor. Erst Jahrzehnte später erkannten die jungen Thronerben und mit ihnen Handke, daß sie Pyrrhus-Siege errungen hatten - sie hatten die alten Bündnispartner vergrault, ohne die neuen auf Dauer binden zu können. Mit dem Verschwinden des Bildungsbürgertums war die geistige und mit dem Verschwinden des Abonnenten die wirtschaftliche Grundlage ihrer Theater zunehmend in Frage gestellt.
Dennoch war es ein notwendiger, ein produktiver Sturm, der da über die Bühnen fegte. Zum politischen Aufbruch der sechziger Jahre, der die Bühnen in Tribunale verwandelte - mit Peter Weiss'' »Vietnam-Diskurs«, Hochhuths »Stellvertreter«, Kipphardts »In der Sache J. Robert Oppenheimer« - gesellte sich eine folgenschwere ästhetische Befreiung.
In Bremen hatte Kurt Hübner all die neuen Kräfte um sich geschart: den Regisseur Peter Zadek, der aus England zurückgekehrt war, und Wilfried Minks, den Bühnenbildner. Dazu Schauspieler wie Jutta Lampe, Bruno Ganz, Edith Clever, Vadim Glowna. Und plötzlich waren auch Klassiker wieder hochaktuell: Für Zadeks Inszenierung von Schillers »Räubern« (1966) zog Minks einen Comic-Strip von Pop-Künstler Roy Lichtenstein über den Bühnenhintergrund - und natürlich reagierte das Parkett mit dem erwünschten Tumult.
Es ist wohl eine der größten Ironien des deutschen Nachkriegstheaters, daß im Zentrum seiner großen Revolte der unpolitischste Mensch stand, den man sich nur
* Bei Dreharbeiten zu »Die wilden Fünfziger« mit Christine Kaufmann.
vorstellen kann: Peter Zadek war vernarrt in Theaterwirkung, aber nicht in Programme. Ob er Brendan Behans Bürgerkriegsdrama »Die Geisel« (1961) als lärmende Revue aufmöbelte oder später seinen Liebling Ulrich Wildgruber den »Othello« (1976) schuften ließ, mit zerfließender schwarzer Theaterschminke - stets bedeutete sein Schocktheater in erster Linie überbordende Lust am Spiel.
Die neue Dramatik sah Talente wie Franz Xaver Kroetz und Rainer Werner Fassbinder, die, in der Nachfolge Marieluise Fleißers, die Enge der Provinz ausloteten. Wolfgang Bauer zelebrierte in »Magic Afternoon« (1968), wie gelangweilte Provinztwens kiffen, lieben und töten.
Rolf Hochhuth, dem auf plakative Weise bissigsten von allen, gelang es schließlich mit seinen Recherchen zum Stück »Juristen«, 1978 einen veritablen Ministerpräsidenten das Fürchten zu lehren: den »furchtbaren Juristen« Hans Karl Filbinger (Seite 120).
Die siebziger Jahre waren wohl das goldene Jahrzehnt des deutschen Nachkriegstheaters, und in ihnen wurde geboren, was es später zum Teil ruinieren sollte: das »Regietheater«. Von einigen Ausnahmen abgesehen, waren Autoren weniger wichtig als diejenigen, die aus ihnen Funken schlugen: Luc Bondy, Claus Peymann, Jürgen Flimm, Dieter Dorn, Niels-Peter Rudolph.
Peymann begreift sich als linkes Theatergewissen: In Stuttgart hatte er mit einem Spendenaufruf für die Zahnbehandlung der in Stammheim einsitzenden RAF-Terroristin Gudrun Ensslin für politischen Krach gesorgt. Seine Theatertriumphe dagegen waren überwiegend unpolitisch, märchenverliebt: Mit seinem Bühnenbildner Achim Freyer ließ er Therese Affolter in Kleists »Käthchen von Heilbronn« durch Feuersbrünste traumwandeln, geleitet von unbeirrbarer Liebe zu Martin Lüttges Friedrich Wetter, Graf vom Strahl.
Mit dem Berliner Theatertreffen, das alljährlich die zehn besten deutschsprachigen Inszenierungen einlädt, fanden diese Geniestreiche ein regelmäßiges Schaufenster. Hier wurden die Oscars der Sinnbranche verliehen. Theater war umstritten und umworben, es experimentierte, ließ staunen und mutierte zur Angelegenheit des öffentlichen Interesses - was auf dem Theater verhandelt wurde, ging jeden an.
Doch schon Ende der siebziger Jahre spürte man, daß sich das Theater totzusiegen begann. Alles war möglich, alles war probiert. Monitore überwachten Hamlets Selbstgespräche, Fürstentochter Aida war Putzfrau, und antike Tragödinnen fuhren auf Rolltreppen in den Olymp. Die Theaterschocks hatten sich abgenutzt, und einer der radikalsten Provokateure, Ernst Wendt, mahnte radikal zur Umkehr: Er ließ seinen »Tasso« in München (1981) vor herabgelassenem Vorhang deklamieren - nichts sollte mehr ablenken vom Text.
Zeitgenössische Autoren kamen dem Theater nach und nach abhanden. Sie wurden schlecht entlohnt und riskierten, im Falle der Aufführung, bis zur Entstellung verändert zu werden - sie wanderten ab zu Film und Fernsehen. Es hatten sich nur drei Autoren wirklich durchgesetzt, nicht zuletzt, weil sie im Tandem mit Regiegroßmeistern arbeiteten.
Da war Tankred Dorst, der Peter Zadek belieferte. Da war Botho Strauß, dessen überhell belichtete Momentaufnahmen eines müden linksliberalen Establishments von Peter Stein als beißende Komödien in Szene gesetzt wurden - es war besonders sein schickes Berliner Schaubühnen-Publikum, das sich wiedererkannte in Stücken wie »Groß und klein« oder »Trilogie des Wiedersehens«.
Vor allem aber Thomas Bernhard verband sich so eingehend mit Claus Peymann, daß er Stücke nach Protagonisten aus seinem Ensemble benannte: »Ritter, Dene, Voss« etwa, oder »Minetti«. Mit Bernhard Minetti hatten die beiden ausgerechnet einen der verpönten Vorkriegs-Alten wiederentdeckt - die raumgreifende, expressionistische Geste, den hohen, deklamatorischen Ton des preußischen Staatstheaters, schurkisch diabolisch oder idealistisch glühend. Kurz: alles, was man verspottet hatte im saloppen Understatement der Bühnenstürmerzeit.
Während es in den achtziger Jahren immer wieder Theater-Glücksfälle gab - Steins Inszenierung von Tschechows »Drei Schwestern« war so realistisch »russisch«, daß selbst Moskauer Kritiker ins Schwärmen gerieten -, wurde zunehmend ein anderes Stück zum Repertoire-Dauerbrenner: das der »Theaterkrise«.
Es war zunehmend schwierig geworden, Publikum zu binden. Zudem hatten die Macher ein Glaubwürdigkeitsproblem: Sie liefen Sturm gegen die Verhältnisse und lebten prächtig von ihnen. Im Gagenpoker pflegten sie immer unverblümter abzuräumen, während ihre Häuser oft nur spärlich gefüllt waren. Die ersten Theater wurden zusammengelegt, Sparten gestrichen, meistens die Ballett-Abteilungen, da sie nicht mehr finanzierbar waren. Am Ende traf es eines der größten, das Berliner Schiller Theater. Zu Beginn dieser »Theatertode« wurde noch in den Straßen dagegen demonstriert - am Ende nahm das Publikum die Schließungen gleichmütig oder gar zustimmend zur Kenntnis; es war vielfach ohnehin vergrault.
Darüber hinaus hatten es die ergrauenden Matadore der Protestgeneration nicht vermocht, eine neue Generation von Regisseuren hervorzubringen - der einzige, der es schaffte, ist wohl Arie Zinger, der als Zadeks Assistent begann.
So kamen in den Achtzigern die wesentlichen Impulse von außen. Auf seinen Gastspielen führte der Engländer Peter Brook vor, wie innig und unabgenutzt Theater sein kann, wenn man Neugier und Leidenschaft bewahrt, und der Amerikaner Bob Wilson wurde zur festen Größe im deutschen Stadttheater.
In Wuppertal hatte sich unterdessen eine Künstlerin etabliert, die, vom deutschen Ausdruckstanz der zwanziger Jahre inspiriert, Choreographien schuf, die weltweit einzigartig blieben: Pina Bauschs Tanztheater erforschte Bereiche, die jenseits der Sprache, auch jenseits des Balletts lagen. Zwischen Nelkenfeldern, Wasserpfützen und Nilpferden malen ausgebildete Tänzer
* Mit Ulrich Wildgruber, Eva Mattes am Hamburger Schauspielhaus.
Alltagsdramen auf die Bühne mit nichts als ihren Körpern.
Während die Theater im Westen bisweilen unter ihrer Irrelevanz in den Freiheiten einer ausufernden Laissez-faire-Gesellschaft litten, krankte das Theater im Osten an einem Mangel an Freiheit. Es transportierte Geheimbotschaften ins Parkett - wichtiger als Lessing war, daß er Anspielungen auf ZK und Mauer erlaubte.
Der Dramatiker Heiner Müller, dessen »Umsiedlerin« bereits mit der Uraufführung verboten worden war, schrieb sich den Weg frei, indem er seine Stoffe maskierte. Im »Auftrag« nutzte er den Hintergrund der Französischen Revolution, um die Korrumpierbarkeit des Klassenauftrags zu illustrieren. »Medeamaterial« nahm den Umweg über die Antike, die »Hamletmaschine« den über Shakespeare.
Allenfalls in der fernen Provinz, an Theatern wie dem vorpommerschen Anklam, erlaubten die ostdeutschen Kulturfunktionäre Nischen subversiven Klamauks - dort, vor fünf Zuschauern auf dem Land, mochten junge Rebellen wie Frank Castorf oder Herbert König Rabatz machen.
In der Folge der Biermann-Ausweisung gab es einen Aderlaß ostdeutscher Bühnen, der die Westtheater belebte: Katharina Thalbach und Thomas Brasch, Adolf Dresen, Ruth Berghaus, Herbert König, Jürgen Gosch, Matthias Langhoff - sie nutzten ihre Privilegien, um für produktive Unruhe zu sorgen.
Mit dem Mauerfall von 1989 erlebten die Osttheater, daß mit der alten Macht auch der interessante Feind abhanden gekommen war - die Theater standen plötzlich so leer wie die Kirchen, die vorher Sammlungsort von Dissidenten geworden waren. Kurz vor dem Mauerfall etwa hatte Christoph Hein mit den »Rittern der Tafelrunde« vor ausverkauftem Haus die Greise des Politbüros persifliert - als sie verschwanden, war auch das Stück von den Spielplänen verschwunden.
Seither kämpfen Theater im Osten und im Westen den alten Kampf - die Menschen im Parkett zum Weinen, zum Lachen, zum Staunen, zum Nachdenken zu bringen. Unter all den Zerstreuungs- und Entertainment-Angeboten scheint dieser Kampf bisweilen ein rührender Anachronismus. Dennoch meldet sich in den letzten Jahren eine neue Generation von jungen Theatermachern, die alte Mittel mit neuem Interesse ausprobiert.
Sie kommen aus Ost und West. Frank Castorf hat es trotz - manchmal auch wegen - mancher Entgleisungen in der Ost-Berliner Volksbühne geschafft, sein junges Publikum dauerhaft zu interessieren. Doch Castorf, der ernsthaft aufzutrumpfen versteht, gehört fast schon zu den Alten. In Bochum hatte sich der Quedlinburger Leander Haußmann, mit wechselndem Glück, als Intendant etabliert. Andreas Kriegenburg aus Magdeburg frischt nun die Wiener Burg auf.
Umgekehrt hat Thomas Ostermeier aus Soltau in der »Baracke« des Deutschen Theaters in Berlin mit derben britischen Exportschlagern so für Furore gesorgt, daß man ihm die legendäre Schaubühne in die Hand gab. Stefan Bachmann, damals gerade 29, bezauberte das Publikum des Berliner Theatertreffens 1996 mit einer poetisch leichten Dramatisierung von Goethes »Wahlverwandtschaften« und leitet nun das Theater Basel.
Es tut sich was im deutschen Theater. Auf vertrackte Art hat es die Theatergeneration von heute wohl schwerer, weil sie es leichter hat als die Generation der Stunde Null. Und da sie mit soldatischen Gewissensreißern wie Zuckmayers »Des Teufels General« wenig anzufangen weiß, zeigt sie eben das - ihre Ratlosigkeit - in diesen Tagen besonders. Man mag sich wünschen, daß sie auch in Zukunft von derartigen Problemlagen nur aus kicherndem Abstand Kenntnis nehmen muß.
Das deutsche Theater der vergangenen 50 Jahre? Es ist nicht nur noch einmal davongekommen, sondern es hat, wie kaum ein anderes Medium, diese Gesellschaft begleitet, irritiert und gelegentlich bezaubert.
Peter Zadek, der junge alte Champion, der das Hamburger Publikum erst kürzlich mit Sarah Kanes Schocker »Gesäubert« aufregte, probt derzeit den »Hamlet«, den Urtext des modernen Dramas. Um mit Hamlet zu zeigen, was nur das Theater kann, nämlich: »Es gibt mehr Ding'' im Himmel und auf Erden, als unsere Schulweisheit sich träumen läßt.«
Matthias Matussek, 45, ist SPIEGEL-Redakteur.
* Probe zu »Iphigenie auf Tauris«.* Mit Victor de Kowa und Curd Jürgens.* Bei Dreharbeiten zu »Die wilden Fünfziger« mit ChristineKaufmann.* Mit Ulrich Wildgruber, Eva Mattes am HamburgerSchauspielhaus.