Zur Ausgabe
Artikel 42 / 85

Mitterrand - Chirac: Kalter Krieg

Vier Monate lang hatten der sozialistische Staatschef Mitterrand und sein gaullistischer Premier Chirac erstaunlich gut kooperiert. Jetzt aber brach der Kalte Krieg aus: Mitterrand stoppte Chiracs Versuch, verstaatlichte Industriebetriebe per Verordnung zu reprivatisieren. Kommt es im Herbst zum Bruch? *
aus DER SPIEGEL 30/1986

Im Park des Elysee-Palastes drängten sich an die 5000 große und kleine Würdenträger. Staatspräsident Francois Mitterrand hatte am Nationalfeiertag, dem 14. Juli, zu Champagner und ländlichem Buffet geladen.

Kurz zuvor hatten der linke Staatschef und sein rechter Regierungschef Jacques Chirac Seite an Seite auf den Champs-Elysees die große Militärparade abgenommen, die aufwendigste seit 1945. Äußerlich boten die beiden ein Bild der Eintracht, die gelockerte Stimmung im Elysee-Park schien sie noch zu unterstreichen. Die Nation freute sich derweil auf das abendliche Feuerwerk.

Doch Francois Mitterrand brannte sein Feuerwerk vorzeitig ab. Kurz vor 13 Uhr verließ er seine Gäste und stieg hinauf in sein Büro, wo schon ein Team des Fernsehens auf ihn wartete.

Per Bildschirm und live übermittelte er Frankreich dann einen Eklat: Er werde, so verkündete er, Regierungsverordnungen seines Premiers zur Reprivatisierung von insgesamt 65 verstaatlichten Banken, Versicherungen und Industrieunternehmen nicht unterzeichnen. Und ohne seine Unterschrift kann eine Regierungsverordnung nicht in Kraft treten.

Es war eine beispiellose Herausforderung an Chirac. Noch nie hatte ein französischer Staatschef seine Signatur unter eine »ordonnance« verweigert.

Mit langen Schritten verließ der sofort informierte Chirac das Gartenfest im Elysee. Sprachlos und konsterniert darüber, daß der Präsident ihm den wichtigsten Teil seiner Wirtschaftspolitik blockiert hatte, zischte er: »Ich sage nichts gar nichts.« Zwei Tage lang hielt er das Schweigen durch.

Während dieser Zeit wankte Frankreichs »cohabitation«, jenes durch den Wahlsieg der Rechten am 16. März erzwungene Zusammenleben des bis 1988 gewählten linken Staatspräsidenten mit der rechten Regierungsmehrheit und ihrem Premier.

Vier Monate lang hatte es - zur Überraschung vieler - so ausgesehen, als könnten der Sozialist und der Gaullist ihre politische Zwangsehe durchstehen. Darin schien Mitterrand der immer höher in die Wolken abhebende Repräsentant aller Franzosen, Chirac der allein zuständige Manager der Pariser Politik zu werden. Und die Franzosen waren's zufrieden, daß die erwartete Konfrontation ausblieb.

Jetzt aber wurde diese Harmonie erstmals in Frage gestellt, und kurze Zeit sah es gar danach aus, als könne es zum Bruch kommen. Der wurde noch einmal abgewendet, aber die Kohabitation ist nicht mehr, was sie seit dem Frühjahr war. Zwischen Mitterrand und Chirac sei der »Kalte Krieg« ausgebrochen, schrieb der Pariser »Matin«.

Kohabitationsfeind Raymond Barre, rechter Ex-Premier und künftiger Präsidentschaftskandidat, sah sich bereits bestätigt: »Nach vier Monaten ist eingetreten, was wir vorausgesagt haben, der Präsident opponiert gegen die Regierungspolitik«, ließ er erklären.

Zwei Tage lang beriet Chirac mit seinen Ministern und Freunden, einmal telephonierte er lange mit Mitterrand. Dann entschied er: Trotz des Affronts ist die Zeit für einen Regierungsrücktritt nicht reif. Neuwahlen sind zu unsicher. Im Stil der Präsidenten der Fünften Republik wandte er sich übers Fernsehen direkt an die Franzosen.

Zum Auftakt der Abendnachrichten am vergangenen Mittwoch ging er Mitterrand direkt an - auch das hatte es in der Fünften Republik noch nicht gegeben: »Er (der Präsident) widersetzt sich dem Willen der Mehrheit der Franzosen, der bei den Parlamentswahlen klar zum Ausdruck gekommen ist.« Dennoch werde der Wählerwille - die Privatisierung - ausgeführt.

Diese Entstaatlichung ist den regierenden Rechten ein fast schon kulthaftes Anliegen: Ideologisch soll sie den endgültigen Bruch mit der Verstaatlichungspolitik der vorangegangenen sozialistischen Regierung signalisieren. Chirac: »Etatisierung und Bürokratie, das ist die Vergangenheit.« Wirtschaftspolitisch soll der Verkauf von 65 verstaatlichten Unternehmen im Wert von 200 bis 300 Milliarden Franc der Regierung Chirac die ersten, dringend benötigten Erfolge bringen. 40 Milliarden Franc aus dem Verkaufserlös sind zur Ankurbelung der Wirtschaft bereits für 1987 eingesetzt.

Um die über fünf Jahre hinweg geplante Privatisierung schnell anlaufen zu lassen, hatten sich Chirac und sein Superwirtschaftsminister Edouard Balladur, wie von der Verfassung vorgesehen, durch das Parlament ein Ermächtigungsgesetz genehmigen lassen, mit dem sie die Details durch einfache Verordnungen hätten regeln können.

Vom Parlament verabschiedete Gesetze muß der Präsident unterzeichnen - Mitterrand setzte daher am 2. Juli seine Unterschrift unter das Ermachtigungsgesetz. Das wurde vielfach so ausgelegt, als habe er vor dem Tatendrang Chiracs resigniert.

Doch der ebenso kämpferische wie listenreiche Mitterrand pflegt seine Fäden fein zu spinnen. Die Unterzeichnung der Verordnungen lehnte er ab, die Verfassung läßt auch das zu.

Es erwies sich mithin als voreilig anzunehmen, Mitterrand könnte wichtige Ergebnisse seiner eigenen sozialistischen Politik kampflos abschreiben. Er wollte im Gegenteil für alle sichtbar demonstrieren, daß in Frankreich kein Premier am Präsidenten, kein Chirac an einem Mitterrand vorbeiregieren kann.

Für die Öffentlichkeit begründete der Stratege Mitterrand seine Obstruktion jedoch im besten gaullistischen Sinn pathetisch mit der »nationalen Unabhängigkeit« - am Nationalfeiertag machte sich das prachtvoll. Da für ihn »das nationale Interesse vor jeder anderen Überlegung« stehe, könne er nicht untätig zusehen, wenn Schlüsselindustrien gefährdet würden.

Weil nämlich »auf dem freien europäischen Markt bald jeder kaufen kann, was er will«, könnten bedeutende Industrien, einmal reprivatisiert, in ausländische Hände geraten. Daher, so Mitterrand, sei die wirtschaftliche Unabhängigkeit der Nation bedroht.

Mitterrands Argument war nicht mal so unplausibel. Die Regierung Chirac hat zwar in ihre Reprivatisierungsverordnung eine Klausel eingebaut, nach der ausländische Interessenten nicht mehr als 15 Prozent an französischen Unternehmen erwerben können. Aber dieser Passus ist nicht wasserdicht, weil er den EG-Bestimmungen über den freien Kapitalfluß widerspricht. Prompt protestierte die Brüsseler Kommission gegen die Pariser Beschränkungen.

Ohne sie direkt anzusprechen, appellierte Sozialist Mitterrand gleichzeitig an die Erzgaullisten. Denn es war ihr General de Gaulle, der in Frankreich im großen Stil verstaatlicht hat. Schon 1945 und 1946 ließ er Großbanken wie den Credit Lyonnais oder die Societe generale, Versicherungsgiganten wie UAP, AGF und GAN oder den Autokonzern Renault nationalisieren.

Francois Mitterrand und seine Sozialisten verstaatlichten nach ihrem Sieg von 1981 in Serie Banken und Industrieriesen wie Saint-Gobain, Pechiney, Rhone-Poulenc oder Thomson.

Mitterrands neue Rolle, sich als Wahrer der wirtschaftlichen Unabhängigkeit darzustellen, fügt sich nahtlos an seinen Auftritt als Hüter militärischer Unabhängigkeit, die er Anfang Juli in Gesprächen mit Ronald Reagan und Michail Gorbatschow demonstrativ herausgestellt hatte.

Nun sieht jeder: Sozialist Mitterrand ist der derzeit überzeugendste Gaullist Frankreichs. Berufsgaullist Chirac hat erst einmal das Nachsehen.

Dank Mitterrand kann Chirac sein Privatisierungswerk nur im Kriechtempo durchziehen. Denn statt zügiger Verordnungen muß er jetzt den Gesetzgebungsweg durch Nationalversammlung und Senat gehen. Erst wenn die beiden Kammern das Gesetz verabschiedet haben muß der Präsident unterzeichnen.

Das kann Monate dauern. Denn Hunderte von Abänderungsanträgen sind zu erwarten, die Zeitverlust bringen. Der Aufschub aber kann dem Premier, der dringend wirtschaftliche Erfolge braucht, nur schaden.

Aber allzu große Schäden will Mitterrand seinem Premier nicht zufügen - noch nicht. Denn auch er will - noch - kein Ende der Kohabitation. So unterzeichnete er letzte Woche versöhnlich eine Chirac-Verordnung zur Bekampfung der Jugendarbeitslosigkeit.

In den Pariser Politsalons wird zwar spekuliert, der Präsident könne wo möglich doch bald aufs Ganze gehen, etwa im Herbst vorzeitig zurücktreten und bei den dann nötigen Präsidentschaftswahlen selbst erneut kandidieren. Dafür spricht, daß Mitterrand nach allen Meinungsumfragen populärer ist denn je. Sein Ansehenstief vom vorigen Jahr hat er glänzend überwunden.

Aber die Sozialistische Partei hat sich von ihrer Wahlniederlage im März noch nicht erholt. Bevor sie nicht wieder attraktiver ist, dürfte Mitterrand das Wagnis einer Wahl kaum eingehen. Die Kohabitation kann - wenn auch getrübt - vorerst weiterleben.

Im Prinzip anerkennen Rechte wie Linke die Gültigkeit eines »Kohabitation-Axioms«. Das lautet:

Wer in den Augen der harmoniebedürftigen Öffentlichkeit erkennbar schuld ist am Scheitern der Zusammenarbeit, verliert die nächsten Wahlen. So wartet jeder auf den entscheidenden Fehler des anderen. »Le Monde: »Die Kohabitation gleicht der Koexistenz zwischen Ost und West.

Manchem ist die Balance ohnehin zuwider. So boykottierten Chiracs ultragaullistischer Innenminister Charles Pasqua und dessen Polizei-Staatssekretär Robert Pandraud die Gartenparty des Staatspräsidenten am Nationalfeiertag.

Grund: Mitterrand persönlich hatte auch zwei Exil-Araber eingeladen, die in Lyon in einen Hungerstreik gegen die ausländerfeindlichen neuen Sicherheitsgesetze des Ministers getreten waren.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 42 / 85
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren