KIESINGER Möblierter Herr
Des deutschen Volkes schönster Kanzler muß aus dem Koffer leben.
Kurt Georg Kiesinger, 62, Regierungschef der zweitgrößten Handels- und und der drittgrößten Industriemacht der Erde, ist zu bescheidenem Dasein gezwungen. Er wohnt in zwei Zimmern, provisorisch möbliert. Will er eine warme Mahlzeit nehmen, muß er ein Restaurant aufsuchen. Will er sich ein warmes Bad gönnen, muß er die Gastfreundschaft des Bundeslandes Baden -Württemberg in Anspruch nehmen.
Zwar steht dem Kanzler des Bundes ein Dienstbungalow zu, doch ist dem Kanzler Kiesinger der Einzug einstweilen versperrt: Ludwig Erhard macht noch keine Anstalten, das auf seinen Wunsch 1964 im Park des Palais Schaumburg errichtete Glashaus zu räumen.
Nach der Wahl zum Kabinettsvorsteher am 1. Dezember hatte Kiesinger seinem Vorgänger versichert, er wolle das Ehepaar Erhard nicht aus dem Bungalow vertreiben; der Hausherr möge sich in aller Ruhe nach einer neuen Behausung umsehen.
Luise und Ludwig Erhard folgten dem Rat: Sie nahmen sich Zeit. Anfang dieser Woche werden sie die Kanzler-Villa hinter sich zusperren und erst einmal für vier Wochen an den Tegernsee fahren.
Das Kanzlerhaus im Schaumburg-Park soll während dieser Zeit nach dem Willen von Frau Luise hermetisch verriegelt bleiben.
Marie-Luise Kiesinger wird ihr neues Heim also frühestens Ende Januar zum erstenmal in Augenschein nehmen und notwendige Umbauten veranlassen können.
Die Kanzler-Gattin kennt das Haus nur von Photos, doch macht sie schon heute - an ihren Tübinger Biedermeier-Salon gewöhnt - keinen Hehl aus ihrer Abneigung gegen den kühlen Glaskasten: »Ich weiß nicht, warum Erhards sich in ihrem Alter so supermodern eingerichtet haben.«
Auch den Kanzler selbst schreckt der moderne Bau: »Vielleicht bin ich für dieses Haus zu altmodisch. Ich brauche eine gewisse Behaglichkeit.«
Solch warme Bequemlichkeit fehlt nicht nur den Repräsentationsräumen des Schaumburg-Bungalows, sie geht erst recht dem spartanischen Wohntrakt mit den winzigen Schlafzellen ab.
Frühestens im Februar oder März werden der neue Kanzler und seine Gattin in ein auf ihren Geschmack umgestimmtes Haus im Schaumburg-Park einziehen können. Bis dahin muß Kanzler Kiesinger als möblierter Herr leben.
In zwei ehemaligen Empfangsräumen im ersten Stock des Palais Schaumburg fand er eine provisorische Bleibe. Der etwa 45 Quadratmeter große Salon neben seinem Arbeitszimmer wurde, mit Klubgarnitur und Eßecke möbliert, zum Wohn- und Speisezimmer.
Durch einen kleinen Zwischenraum, mit Toiletten- und Waschnische, erreicht der Kanzler sein Schlafzimmer, gleichfalls ein früherer Salon, der nun einfaches Schlafmobiliar aufweist: Doppelbett, Nachttische und Kommode. Ein Kleiderschrank versperrt die Tür zum kleinen Kabinettssaal.
Frühstück und Erfrischungen kann der Kanzler im Hause bestellen: Frau Köpke, langjährige Bedienstete, richtet ihm beides.
Warmes Essen oder Schnittchen für Gäste aber müssen herbeitransportiert werden: Auf Silbertabletts unter Warmhalte-Galoschen aus der Küche des etwa 500 Meter rheinabwärts an der Koblenzer Straße gelegenen Presseclubs.
Nicht einmal baden kann der Kanzler im eigenen Hause. Zwar enthält das Palais Schaumburg zwei Badezimmer: eins im Staatssekretärflügel, das andere unter dem Dach in einer Damentoilette.
Doch beide sind unbenutzbar, denn die Warmwasserzufuhr funktioniert nicht. Prominentestes Opfer dieser mittelalterlichen Sanitärausstattung wurde Amerikas Präsident John F. Kennedy.
Den hygienebewußten Amerikaner hatte es im Juni 1963 während einer Besprechung im Bonner Bundeskanzleramt plötzlich nach einem stärkenden Bad gelüstet.
Nur mühevoll konnte damals sein Wunsch erfüllt werden - mit Hilfe sämtlicher Tauchsieder und Kaffeemaschinen in den Schaumburg-Vorzimmern (SPIEGEL 24/1966).
Solcher Rückständigkeit entzieht sich Kurt Georg Kiesinger durch die Flucht ins Leih-Bad. Täglich läßt er sich im Kanzler-Mercedes 300 mit Polizeibegleitung zum Baden in die Bonner Argelanderstraße 181 fahren, ins Gästehaus der Landesvertretung Baden -Württembergs beim Bund.
Die einzig benutzbare Dienstbadewanne Kiesingers steht derweil auf einem Abstellgleis der Bundesbahn: im Kanzler-Sonderzug, dessen Salonwagen als zivilisatorisches Glanzstück eine Sitzbadewanne mit funktionierender Brause aufweist.
Was der Kanzler bei seinen Wochenendfahrten ins heimische Tübingen und zurück an Hygiene gewinnt, muß er freilich mit kulinarischen Konzessionen bezahlen: Die Sonderzug-Pantry verfügt nur über zwei Kochplatten, auf denen lediglich einfache Speisen bereitet werden können.
Kanzleramts-Sekretärinnen kaufen die Marschverpflegung in einem benachbarten Edeka-Laden ein. So erstand Hannelore Domagalski, Sekretärin im Pressereferat des Kanzleramtes, für die Tübingenreise am vorletzten Wochenende - der Kanzler arbeitete über Sonntag im Salonwagen auf dem Tübinger Bahnhof an seiner Regierungserklärung - ein Pfund Kaffee, ein Pfund Butter sowie Würstchen, Eier und Brot.
Die Sekretärin streckte die Verpflegungskosten für den Kanzler und seine Sonderzug-Mannschaft aus eigener Tasche vor. Im Umlageverfahren - pro Kopf 2,11 Mark - muß sie nun ihr Geld wieder eintreiben. Bis Freitag letzter Woche standen des Kanzlers 2,11 Mark noch aus.
WochenendPendler Kiesinger*: Tägliche Flucht ins LeihBad
* Vor seinem Sonderzug auf dem Bahnhof Tübingen.