Armut Moment des Plötzlichen
Mit 37 Jahren besaß Rolf John alle Attribute des Erfolgs, darunter einen Mercedes 450 und eine Villa mit Pool, in dem sich seine Frau und die beiden Kinder aalten.
Fürs Alter hatte der selbständige Repräsentant norddeutscher Großbanken einen Bauernhof mit acht Hektar Land bei Osnabrück renoviert, so schmuck, daß er sogar schon mal in Schöner Wohnen vorgestellt wurde: »Da wollte ich Pferde züchten.«
Seit zehn Jahren allerdings lebt John, heute 55, in einem heruntergekommenen Motel namens »Olympia« in North Miami Beach, Zimmer 120, Fenster zum Hof, 17 Dollar am Tag. Heute ist er ein Sozialfall.
Das Vermögen ist weg. Nach seiner Scheidung 1980 mußte John die Häuser verkaufen, die Lebensversicherungen auflösen. Die Hälfte bekam die Ex-Frau, plus Unterhalt. Und 400 000 Mark zahlte er, Extra-Pech, für eine geplatzte Bürgschaft.
»Da hab' ich meinen Koffer genommen«, erzählt John. Er wollte sich mit den verbliebenen 200 000 Mark in der Karibik eine neue Existenz aufbauen: eine Hühnerfarm in Haiti. Doch die politischen Verhältnisse kippten: »Als es so weit war, daß Küken angeschafft werden sollten, wurde ich enteignet.«
John ging nach Miami, das Pech zog mit: Ein Autohandel floppte ebenso wie das Geschäft mit Immobilien oder Computern. John jobbte in einer Cafeteria und kleinen Hotels - bis die Krankheit kam: eine Entzündung der Bauchspeicheldrüse, Kreislaufkollapse, dazu Diabetes. John: »Das hat mir das Genick gebrochen. So was ist in Amerika tödlich.«
Er ging zur amerikanischen Wohlfahrt. Die verwies ihn ans deutsche Konsulat. Dort aber bekam er keinen Pfennig: Letztes Jahr ist ein einschlägiges Gesetz geändert worden. Seither geht die Chance, daß verarmte Exil-Deutsche Unterstützung bekommen, »auf Null zurück«, wie ein Konsulatsbeamter sagt.
Im Solidarpakt, dem großen Sparpaket des letzten Jahres, wurde die Hilfe für Landsleute im Ausland gekappt. Nur die Nutznießer einer Übergangslösung und die deutschstämmigen Bewohner des Reichsgebiets von 1937 kriegen jetzt regelmäßig Stütze; damit soll vor allem verhindert werden, daß sich bis zu 350 000 Aussiedler aus Polen in die Bundesrepublik aufmachen und einreisen.
Das paßt nicht so ganz in eine Zeit, in der sich dank EU-Freizügigkeit mehr und mehr Deutsche im Ausland ein Häuschen kaufen. Und es spart auch nicht viel. Gerade 20 Millionen Mark kostet die Sozialhilfe für die rund 5000 bedürftigen Deutschen im Ausland, so die Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeträger. Die Sozialhilfe im Inland dagegen summierte sich 1992 auf mehr als 42 Milliarden Mark.
Die Gesetzesänderung sollte auch den Neid vieler Inländer dämpfen, die sich über die mutmaßlich faul auf Tahiti und anderswo liegenden Kostgänger beschwerten. Politiker wie der CDU-Bundestagsabgeordnete Michael von Schmude fühlten sich daher aufgerufen, gegen »Sozialmißbrauch schärfstens vorzugehen«, der »insbesondere in Ländern mit klimatisch ansprechenden Verhältnissen« blühe.
Dabei haben viele der im Ausland lebenden Sozialhilfeempfänger die Hilfen nicht aus Jux beantragt. Etwa die 35 Jahre alte Tochter deutscher Eltern, die in Chile geboren wurde und seit einem Unfall querschnittsgelähmt ist. Oder die 13 Jahre alte Tochter eines Deutschen, die dank Sozialhilfe in Bombay zur Schule gehen kann. Oder die 102 Jahre alte Dame, die, geistig nicht mehr ganz auf der Höhe, ihre letzten Tage in einem Pflegeheim bei Zürich verbringt.
»Das sind keine Dolce-vita-Typen«, sagt Gerhard Vigener, Chef der für Auslandsempfänger zuständigen Bundesarbeitsgemeinschaft der Sozialhilfeträger. Bei den meisten ist auch die Heimführung, das neue Bonner Allheilmittel gegen Mißbrauch, nicht möglich oder nicht angebracht.
Die meisten Sozialhilfeempfänger sind Senioren. Etwa Ana Moser, 87, die seit 50 Jahren in Peru wohnt. Oder Werner Adler, 83, der Dachau überlebt hat und seit 1941 in Uruguay wohnt.
In Montevideo hat Adler zeitweise in einer Firma gearbeitet, die Werbegeschenke herstellt. Reich war er nie. Jetzt bezieht er Sozialhilfe, 2000 Pesos (643 Mark) im Monat, im Winter 200 Pesos extra für Heizung. »Das Geld«, sagt Adler leise, »reicht mir an und für sich nicht, weil ich einen enormen Verbrauch an Medizin habe.«
Dank einer Übergangsregelung bekommt er seine paar Pesos weiter. Nach dieser Vorschrift erhalten Bedürftige, die 1992 bereits mindestens 60 Jahre alt waren und schon staatliche Hilfen bekamen, ihre Bezüge weiter. Nach neuem Recht würde Adler gar nichts mehr kriegen und müßte heimkehren ins Reich.
Doch das ist gar nicht so einfach, wie Irmgard von Bodien, 81, erfuhr. Sie lebt im Altersheim »Residencia La Maresma« in Calella bei Barcelona, mit Palmen und Pinien im Garten, einem Fitneß-Studio und freundlichen Betreuerinnen.
Die verarmte Lady, die historische Romane liest und fünf Sprachen spricht, würde das Heim gern verlassen: »Ich kann mich mit niemandem unterhalten.«
In München hat Frau von Bodien zwar noch Freunde. Doch dort einen Altenheimplatz zu finden - den das Sozialamt zahlen würde, auch wenn er doppelt soviel kostet wie der in Spanien - sei aussichtslos: »Wegen der Altersgrenze, hat man mir gesagt. Die nehmen niemanden mehr in meinem Alter.«
Pech hat allerdings auch, wer noch nicht reif ist fürs Altersheim. Denn an billigen Wohnungen mangelt es in Deutschland. Walter Volkmer, 53, hat in Frankfurt vorgefühlt und beim Sozialamt erfahren, daß für ihn nur das Obdachlosenasyl in Frage käme.
Noch lebt Volkmer in Barcelona, in einer 96-Quadratmeter-Eigentumswohnung, Gobelins an den Wänden, Porzellan-Nippes in der Vitrine. Doch aus den weißen Barockstühlen quillt die Holzwolle heraus, unterm Spitzendeckchen ist der Lack vom Tisch geblättert.
Volkmer, der 1956 als Schweißer für eine deutsche Firma nach Spanien ging, ist seit acht Jahren arbeitslos und neuerdings fast blind: grauer Star. »Wir haben schon alles verkauft, was zu Geld zu machen war«, sagt Volkmer.
Nun ist selbst die Hypothek aufgebraucht, die er auf die Wohnung aufgenommen hat. Spanische Rente steht ihm erst zu, wenn er 65 ist, und auf Sozialhilfe hat er keinen Anspruch. Seine spanische Frau MarIa findet, bei 25 Prozent Arbeitslosigkeit, nicht mal eine Stelle als Putzfrau.
Sozialhilfe erhalten neuerdings Deutsche im Ausland nur noch in »besonderen Notfällen«. Und der liegt etwa bei Kranken merkwürdigerweise nur vor, wenn baldige Genesung bevorsteht. Chronisch Kranke kriegen eh nichts, entschied das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht Lüneburg im Fall des Ex-Bankers John: Ein »Dauerleiden« sei allerhöchstens ein »normaler«, kein »besonderer« Notfall. Denn dieser erfordere »ein zeitliches Moment des Plötzlichen«, überraschendes Auftreten und alsbaldige Gesundung.
Ein Gehirnschlag mit halbseitiger Lähmung, Diabetes, selbst eine Amputation von Gliedmaßen - all das reicht nicht aus: »Beide Beine ab - das ist kein Notfall«, sagt der Fachbeamte beim Generalkonsulat in Barcelona.
Für den halbblinden Volkmer gebe es daher wohl nichts, haben sie ihm auf dem Konsulat erzählt. Dagegen kann er nicht mal klagen; denn er wartet noch immer auf einen förmlichen Bescheid.
»Den wird er irgendwann bekommen«, sagt Holger Scherf, 36, Referent im Generalkonsulat Barcelona. Bisher wurde nur ein »interner Schriftwechsel« mit der zahlungsunwilligen Sozialbehörde Westfalen-Lippe geführt.
Daß Volkmer, auf 57 Kilo abgemagert, eigentlich nicht so lange ohne Geld leben kann, weiß auch das Konsulat: »Dem steht das Wasser bis zum Hals.« Y
»Ein Dauerleiden ist ein normaler, kein besonderer Notfall«