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Mord ohne Mörder

Warum der Mann, der den Studenten Benno Ohnesorg erschoß, nie verurteilt wurde
aus DER SPIEGEL 23/1997

Im Weinmeisterhornweg wirken die Jägerzäune spitzer, die Rasen strenger gestutzt als anderswo in Berlin-Spandau. Vielleicht ist das so, wenn man in unmittelbarer Nähe zur Mauer gelebt hat. Hier im äußersten Zipfel der freien Welt hat man zusammengehalten, und noch immer wird ein Fremder nach dem Wohin und Woher gefragt.

Karl-Heinz Kurras ist längst pensioniert, aber immer noch geht er jeden Mittag in Freizeitkleidung zum Dienst. Er ist ein braungebrannter, drahtiger Mann, knapp 70 Jahre alt, und er hält sich gut. Aber es fehlt etwas an seiner Erscheinung. Erst in Uniform wirkt er komplett.

Er trug Zivil, einen graublauen Anzug, als er am 2. Juni 1967 den Schuß abgab, an dem der Berliner Student Benno Ohnesorg starb. Danach hat er zunächst seine »Waffe in Ordnung gebracht«, sagt er später vor Gericht, und seine »Kleidung ein wenig geordnet«.

»Ohnesorg rannte davon«, erinnert sich der pensionierte Polizist Horst Geier, »verfolgt von zwei Schutzpolizisten, links und rechts, die ihn festnehmen wollten. Sie hatten ihn schon fast.«

Die Augenzeugin Erika S. beobachtete ebenfalls den Fluchtversuch und »zwei uniformierte Beamte, mit Schlagstöcken in den Händen«, die »versuchten, ihn daran zu hindern«. Doch »von hinten tauchte plötzlich ein uniformierter Beamter auf aus dem Dunkel und schlug dem Mann im roten Hemd mit dem Schlagstock von hinten auf den Kopf. Der Getroffene sank langsam in sich zusammen, und nun kamen die beiden Polizisten hinzu, und zu dritt schlugen sie auf ihn ein«. Irgendwann »zwischen all diesen Geschehnissen« hat sie »einen Knall gehört«, aber nicht als Schuß interpretiert.

Auch Geier vernahm den Knall. Er stand »etwa einen halben Meter links hinter Kurras«, so erinnert er sich, sah den Schützen aufrecht dastehen, mit der Waffe in der Hand, und schrie: »Bist du wahnsinnig, hier zu schießen?« »Die ist mir losgegangen«, hörte er Kurras stammeln. Er selbst habe »Angst gehabt«, sagt Geier heute, »daß der einen Polizeibeamten trifft. Wenn er sich ein bißchen gedreht hätte, hätte er mich erwischt«.

In jenem Hinterhof, sagt Kurras im November 1967 vor der 14. Großen Strafkammer des Berliner Landgerichts, sei er »von zehn oder elf Personen brutal niedergeschlagen worden«, er wurde von »zwei jungen Männern mit Messern« bedroht. Also zog er »im Liegen meine Dienstpistole hervor« und gab »mit der linken Hand den ersten Warnschuß in die Luft ab«. Allerdings sei der Kampf um seine Pistole dann noch heftiger entbrannt. Er habe noch einen Warnschuß abgeben wollen, doch »durch das Zerren und Ziehen löste sich der verhängnisvolle zweite Schuß«. Er beruft sich auf Notwehr.

Seltsam: kein einziger Zeuge hat die Männer mit den Messern gesehen. Niemand hat den Warnschuß registriert, niemand kann bestätigen, daß sich Kurras in Bedrängnis befand, als er den hörbaren Schuß abgab - nicht einmal Geier, der in nächster Nähe stand. Kurras will in diesem Moment massiv bedroht und verletzt worden sein, der Polizeiarzt findet auch Prellungen im Schulter- und Nackenbereich ("wie von Handkantenschlägen oder Stockschlägen") - aber als er die Waffe benutzte, versichert eine Vielzahl von Zeugen, hatte die Polizei die Lage im Hinterhof längst im Griff.

Kurras, merkte der psychiatrische Gutachter an, habe sich in höchster Erregung, in einem »vorübergehenden psychogenen Ausnahmezustand« befunden - vielleicht habe er Messer gesehen, wo es keine gab, und sich dementsprechend bedroht gefühlt. Als »Putativ-Notwehr« bezeichnet der Verteidiger den tödlichen Schuß.

Daß Kurras »in seiner Kritik- und Urteilsfähigkeit erheblich eingeschränkt« war, glaubt auch der Vorsitzende Richter. Letztlich sei »nicht mit Sicherheit zu klären, was der Angeklagte falsch gemacht habe und daß er dies anders hätte machen können«, entscheidet das Gericht und spricht Kurras frei. »Wenn eine Pistole der Polizei losgeht«, war daraufhin in der WELT zu lesen, »dann schießt der Staat und nicht der Polizeibeamte.«

Schoß er in Panik? In Wut? Was hat er gesehen in jenem Moment, als er abgedrückt hat?

Der Beschuldigte sei ein ausgeglichener Mensch, befand der Gutachter, leicht labil, aber nicht sonderlich aggressiv. Kurras stammt aus Ostpreußen, der Vater war Dorfgendarm. 1944 meldete er sich freiwillig in den Krieg, kehrte verwundet zurück, erlebte das Kriegsende als Soldat in Berlin. Danach, ein einziges Mal wohl, protestierte er gegen die vorgegebene Ordnung: 1946 verteilt er politische Schriften in Ost-Berlin. Drei Jahre saß er wegen »antisowjetischer Propaganda« im stalinistischen Internierungslager Sachsenhausen. Die Lust am Widerstand hatte er verloren.

Er brauchte sie auch nicht mehr: Die Ordnung, die er nach 1949 in West-Berlin vorfand, war ganz und gar seine. Er ging zur Schutz-, später zur Kriminalpolizei, wo er als guter Schütze galt.

Vielleicht war er am 2. Juni 1967 wirklich »benommen«, wie der Zeuge Geier noch heute glaubt. Und womöglich fürchtete er sich tatsächlich: nicht vor konkreten Personen, sondern vor dem Chaos, dem Protest an sich.

Es sei »nicht widerlegbar, daß er sich in einer lebensbedrohlichen Lage« glaubte, entscheidet im Dezember 1970 auch die 10. Große Strafkammer, als Revisionsinstanz: Wieder folgt Freispruch, der im März 1971 rechtskräftig wird. Nach vier Jahren Suspendierung darf er zwar wieder im Polizeidienst arbeiten, aber nur im Innendienst an der Fahndungskartei. Seine Dienstwaffe gibt er in Absprache mit dem Polizeipräsidenten »freiwillig« unter Verschluß.

Er hält das nicht lange aus. Im Sommer 1971 verliert Kurras ein zweites Mal die Kontrolle über sich selbst: Er wird betrunken im Park aufgegriffen, und in seiner Aktentasche finden sich ein Stichmesser und die Dienstwaffe, die er nicht tragen darf. Er habe sich bedroht gefühlt, gibt er zu Protokoll. Nachdem Polizisten die junge Terroristin Petra Schelm erschossen hatten, fürchte er wieder um sein Leben.

Die Polizei verstößt ihn nicht. Er wird zum Kriminaloberkommissar befördert, geht Ende 1987 in Rente, lebt ein möglichst unauffälliges Leben mit seiner Frau im vierten Stock eines Spandauer Mietshauses. Hier im Weinmeisterhornweg ist er sicher. Die Wohnungstür ist tresorartig geschützt mit besonders sicheren Sicherheitsschlössern. Über den 2. Juni 1967, jenen Tag, als ein deutscher Beamter kurz die Haltung verlor, möchte Karl-Heinz Kurras nicht reden.

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