Zur Ausgabe
Artikel 3 / 112

Morgen auch in deiner Post?

Erst der Anschlag, jetzt die Angst: Der Terror hat New York im Griff - die Stadt, die früher niemals schlafen wollte und es jetzt nicht mehr kann. Von Thomas Hüetlin und Alexander Osang
aus DER SPIEGEL 43/2001

»Dieser ganze Anthrax-Blödsinn ist doch nur dazu da, um mehr Zeitungen zu verkaufen. Erschrecke die Leser, und sie kommen. Altes Gesetz der Branche.« Sagt Jimmy Breslin, 71 Jahre alt, 43 davon hat er als Reporter gearbeitet.

Früher fuhren Busse in New York herum, auf denen Zeitungen mit seinem Namen warben. Der Schriftsteller Norman Mailer wollte mit Breslins Hilfe Anfang der siebziger Jahre Bürgermeister von New York werden, und wer wissen möchte, was Breslin für den modernen Journalismus bedeutet, muss Tom Wolfe fragen: »Er war unser aller Vorbild.«

Heute sitzt Breslin in einem Penthouse am Central Park. Er könnte auf eine großartige Karriere und ein aufregendes Leben zurückblicken, auf 13 Bücher, die unter seinem Namen veröffentlicht wurden, auf zahllose Reportagen, die die New Yorker Geschichte der vergangenen Jahrzehnte erzählen. Aber nichts davon will er wissen.

Noch immer schreibt er jede Woche drei Kolumnen, er arbeitet an seinem 14. Buch, und wenn man Breslin fragt, was er sonst noch gern tut, fällt ihm nur ein: »Eigentlich trinken, an der Bar stehen und Lügen erzählen. Darf ich seit Jahren nicht mehr. Die Kopfschmerzen davon haben mich fast umgebracht. Heute schwimme ich. Ich stehe um 4.30 Uhr auf, und dann wird geschwommen. Eine Stunde lang. Jeden Tag. Auch an meinem Geburtstag. Und der ist heute.«

Breslin schrieb die Storys, die Leser lieben: Über Mafiosi, über Killer, und als im Sommer 1976 ein Wahnsinniger durch New York lief und junge, weiße Mädchen erschoss, rief der Serienmörder, bevor er zuschlug, bei Breslin an. Es waren die guten, alten bösen Zeiten: Die Killer hatten noch 44er Magnums und waren keine Stubenhocker, die weißes Gift in einen Umschlag stecken, in der Schrift eines Vorschülers kleine Druckbuchstaben draufkritzeln und zu feige sind, den Absender dazuzuschreiben.

Breslin, graues Sweatshirt, abgeschnittene Ärmel, kann solche Typen nicht leiden. Und weil er sie nicht leiden kann, hat er beschlossen, keine Angst vor ihnen zu haben. »Ich bin nicht allein mit dieser Haltung«, sagt Breslin. »Jeder anständige New Yorker sagt: ''Geht zur Hölle, ihr lächerlichen Anthrax-Punks.''«

Noch lieber als jene, die keine Angst vor Anthrax haben, mag Breslin nur noch Leute, die gar nicht wissen wollen, was Anthrax überhaupt ist. Heute Morgen um 7 Uhr hat er zwei von ihnen getroffen. Breslin war in Queens, um den ersten großen Brand nach dem Anschlag zu beobachten. Er stand da mit seiner grünen Polizeimarke um den Hals, wollte wissen, ob die Feuerwehrleute immer noch oldstyle-mäßig in das brennende Gebäude rennen oder von draußen Wasser in die Flammen spritzen. Sie rannten hinein. Breslin war glücklich. Besonders glücklich war er, als er später zwei von ihnen nach Anthrax fragte. »Anthrax«, sagten sie, »was soll das denn sein? Eine Fußballmannschaft?« Dann riefen sie: »Yankees, Yankees, we will win the world series.« Breslin läuft in Socken auf seinen Balkon, die weißen Haare fliegen im Herbstwind, hinter ihm leuchtet der Central Park. »Anthrax mit der Post verschicken?«, fragt er. »Was für eine miese Idee.« Post mochte er noch nie leiden. Es komme nichts Gutes in Briefumschlägen. Nur Rechnungen, Werbung. »Ich kann mich nicht daran erinnern, jemals einen dicken, fetten Scheck mit der Post bekommen zu haben. Ich habe das Zeug einfach immer nur ungeöffnet weggeschmissen.«

Es gibt für Psychologen auf dieser Welt wenig Adressen, die sich zur Geldvermehrung besser eignen als die von Dr. Gail Saltz an der Park Avenue in der Upper East Side. Hier wohnen die meisten der rund 60 000 Millionäre Manhattans, hier gedeihen die Ängste, wenn man zu viel Geld hat, und auch die Ängste derer, die glauben, zu kurz gekommen zu sein, als der Jackpot des Lebens vergeben wurde, und hier sitzt Dr. Gail Saltz jeden Tag in ihrem blau bezogenen Louis-XIV.-Sessel, um sich solche Wohlstandssorgen anzuhören. 200 Dollar für 50 Minuten bei Dr. Saltz, einer Art Domina für New Yorks Stadtneurotiker, eine Mittdreißigerin im Minirock, die eine Frisur trägt, als fliege sie abends first class zum Wiener Opernball.

Vor dem 11. September hießen die Sorgen in der Upper East Side: Kann ich mir die 90 000 Dollar im Jahr für die Privatschule meiner drei Kinder noch leisten, jetzt, wo der Aktienmarkt runter geht? Habe ich Weihnachten noch einen Job, und woher nehme ich dann 12 000 Dollar Miete pro Monat? Warum reicht mein Jahresgehalt von einer Million Dollar nicht aus?

Seit dem 11. September hört Gail Saltz das, was sie »neue Ängste« nennt. Menschen, denen auf offener Straße der Schweiß ausbricht, wenn sie an einem Wolkenkratzer vorbei müssen. Menschen, die nicht mehr schlafen können, sich mit Alkohol wegknipsen wollen und trotzdem wach bleiben. Menschen, die in ihrem Büro im 52. Stock Turnschuhe und Fallschirm deponiert haben.

Dr. Gail Saltz ist keine Psychologin, die diese Ängste durch jahrelanges Forschen nach verdrängten, ödipalen Kindheitsgeschichten kurieren will. Sie sucht den schnellen, pragmatischen Weg zur Besserung. Und der hat wenig mit Sigmund Freud zu tun und viel mit Common Sense.

»Es ist«, sagt Saltz, »ein Feind, der uns nicht zur Ruhe kommen lässt, uns immer wieder aufschreckt mit neuen schlechten Nachrichten und suggeriert: Auch dich kann es treffen - morgen in deinem Briefkasten.« Dazu die Angst, dass dies erst der Auftakt ist. Als Hausmittel empfiehlt sie: das Gespräch mit nichtpanischen Freunden, viel Sport, ehrenamtliche Sozialarbeit und, vor allem, wenig Medienkonsum. Nicht mehr den Schreckensszenarien drittklassiger Experten lauschen, sondern Zeitung lesen, Nachrichten sehen, aber nur zehn Minuten täglich. »Mehr«, sagt Saltz, »macht ängstliche Menschen verrückt.«

Traumatisierte gibt es genug in diesen Tagen. Gerade als die seelischen Wunden der World-Trade-Center-Attacke ein wenig zu heilen begannen, gab es aus der Poststelle neue Prügel für die Psyche. Viele New Yorker merkten erst, als sie die Apotheken leer kauften und nach Gasmasken fahndeten, wie angeschlagen sie wirklich sind. Ihr Lebensgefühl: »Apocalypse Now« statt »Frühstück bei Tiffany''s«.

»Wenn wir uns vor dem Terror verkriechen«, sagt Dr. Saltz, »werden wir uns bald so klein und kümmerlich fühlen, dass wir uns selbst nicht mehr erkennen.«

Von diesem Montag an müssen alle Beschäftigen der »New York Times« ihre persönlichen Ausweiskarten sichtbar tragen. Das steht in einer schnell angefertigten Katastrophenrichtlinie der Zeitung. »Müssen« und »Tragen« sind fett gedruckt. Anstecknadeln und Kettchen werden verteilt, an denen man seine ID-Karten befestigen kann, wie auf einem Urologenkongress.

Die »New York Times« ist zu einer eigenen journalistischen Geschichte geworden. Sie kann behaupten, wieder mal die erste Zeitung der Stadt gewesen zu sein.

Vor einer guten Woche hat Judith Miller, eine »N.Y.T.«-Reporterin einen Brief aus Florida geöffnet, aus dem ein weißes Pulver rieselte. Es war ein Freitagmorgen, und während sie auf das Pulver sah, rief sie ein Informant an und fragte: »Weißt du, dass die Assistentin vom NBC-Nachrichtensprecher Tom Brokaw durch einen Brief aus Florida angesteckt wurde?«

In diesem Moment erkannte Judith Miller das Muster, sagt sie. Es ging gegen die Medien. Die Fälle in Florida gegen den Boulevardverlag, der NBC-Fall und nun sie, die zusammen mit zwei Kollegen gerade einen Bestseller über Biowaffen geschrieben hatte. Sie informierte die Sicherheitsabteilung der »N.Y.T.« und war erleichtert, als sie mit Handschuhen und Plastiksäcken anrückten.

»Es war ganz ruhig«, sagt Rick Gladstone aus der Business-Abteilung, der nicht weit von Judith Millers Schreibtisch saß. »Irgendwie waren alle ganz ruhig. Es wurde uns gesagt, dass niemand das Gebäude betreten oder verlassen darf. Die meisten haben noch zu Hause angerufen, um zu sagen, dass alles okay sei, und dann rückten auch schon die Jungs mit diesen Raumanzügen an. Erst hatte es ja diesen Zeitungskonzern in Florida erwischt, der den ''National Enquirer'' herausgibt. Und jetzt uns. Da sind wir in guter Gesellschaft. Vielleicht hat das deswegen auch keiner so richtig ernst genommen. Am Anfang dachte ich, der ''Enquirer'' hat sich das ausgedacht, um eine Geschichte zu haben.«

Draußen vor den Drehtüren versammelten sich die Reporter von der Konkurrenz. Sie fotografierten nach drinnen und erinnerten die Kollegen in der Lobby an ihren eigenen Redaktionsschluss. Die »New York Times« verlor an diesem Tag etwa drei Stunden, die Ausgabe sah ein wenig verwackelt aus. Die Titelgeschichte war der Anthrax-Fall bei NBC, ihr eigener Fall wurde erwähnt. Es schien niemand infiziert zu sein. Judith Miller wurde bis in die Abendstunden vom FBI befragt. Wen kennt sie in Florida? War sie dort kürzlich? Öffnet sie ihre Post immer selbst?

»Wir sind darauf trainiert worden, kühl und professionell zu beobachten«, sagt Judith Miller. »Aber in diesem Augenblick lieferte ich keine Story. Ich war die Story.«

Also beschrieb sie am nächsten Tag, wie ihr das weiße Pulver auf die Hosen rieselte und sie dabei an Recherchen in russischen Militäreinrichtungen dachte. Am gleichen Tag, als ihr Text erschien, bauten sich Berichterstatter vor dem ABC-Gebäude in der 66. Straße auf. Auch der Fernsehsender war zu einer Geschichte geworden, der sieben Monate alte Sohn eines Nachrichtenproduzenten war an Milzbrand erkrankt. Bei Bloomberg TV ging ein verdächtiges Päckchen ein. Am Ende des Tages untersuchten die Spezialisten der Gesundheitsbehörde 120 verdächtige Postsendungen. 31 davon wurden von der Polizei getestet.

Zu diesem Zeitpunkt saß Judith Miller bereits an einer nächsten Titelgeschichte. Sie beschrieb, wie hochgefährlich die Erreger waren, die im Brief an den demokratischen Mehrheitsführer im Senat, Tom Daschle, gefunden wurden. Zum ersten Mal in der Geschichte sei offenbar eine hoch entwickelte Form von Anthrax als Waffe eingesetzt worden. Schon kleine Mengen würden genügen, um viele Menschen zu töten. Am Tag, als dies in der »New York Times« stand, erfuhr Wissenschaftsredakteur Nicholas Wade, dass angeblich 4000 infizierte Postsendungen an Medien im ganzen Land verschickt würden.

Jeden Tag werden die Nachrichten ein bisschen schrecklicher. Die Zeitungen pusten sie über die Stadt. Sie dringen in jeden Winkel. Vielleicht kann man die Milzbrandbakterien noch nicht optimal verteilen, die Panik schon. Die Medien sind die perfekten Ziele. Sie sind nicht die Story, wie Judith Miller denkt, sie sind der Verteiler. Das ist das Muster.

Wade blinzelt und denkt darüber nach, ob er das mit den 4000 Briefen lieber nicht gesagt hätte. Er ist ein stiller Engländer, der seit Jahrzehnten für die »New York Times« schreibt. Er hat gerade ein Buch über Bakterien auf dem Markt. »Diese Meldung ist noch nicht verifiziert«, sagt er schnell. »Deswegen kann ich Ihnen nicht sagen, ob wir sie morgen drucken. Wir haben ja auch eine Verantwortung, nicht wahr?«

Wade versucht Ordnung in die Nachrichten zu bringen, er ist Wissenschaftler, aber irgendwie scheint jede Nachricht eine schlechte Nachricht zu sein. Auch die guten.

»Sehen Sie, sogar wenn die Anthrax-Erreger von so hoher Qualität sind, wie sie sagen, ist es immer noch schwer, sie zu verteilen. Wenn sie zum Beispiel durch die Stadt fliegen und gegen eine Häuserwand treffen, fallen sie runter und bleiben dort liegen. Es ist dann schwer, sie wieder hochzubekommen«, sagt Wade, aber allein die Vorstellung, dass Anthrax-Wolken durch die Stadt schweben, treibt einen in die Flucht. »Es hat auch keinen Sinn, Cipro im Voraus einzunehmen«, sagt er. »Es hat üble Nebenwirkungen, und um einen vorbeugenden Schutz zu entwickeln, muss man es mindestens 60 Tage einnehmen. Das steht in keinem Verhältnis zur wirklichen Gefahr. Ich zum Beispiel nehme auch nichts.«

Er sieht blass aus. Krank beinahe.

Wade ist Biologe, Giuliani Bürgermeister. Wenn jemand in seinen Pressekonferenzen niest, ruft er fröhlich: »Schon getestet?«

»Es gibt eine schmale Linie zwischen Vorsicht und Panik«, heißt es in der Katastrophenanleitung. Sie bittet alle Mitarbeiter, einen klaren Kopf zu behalten. Vor dem Gebäude dürfen keine Autos mehr anhalten, die Klimaanlagenräume müssen ständig verschlossen sein.

Der riesige Nachrichtenraum der »N.Y.T.« liegt ruhig da. Eine Wand ist voll mit Postfächern. Eine Zeitung lebt von dem, was von draußen kommt. Wade zeigt auf Judith Millers Schreibtisch, ein kleiner Platz zwischen all den anderen kleinen Plätzen. Alle glucken eng zusammen. Insofern ist die »New York Times« genau wie ihre Stadt. Das macht ihren Erfolg aus, und das macht sie jetzt verletzlich. »Wir sitzen alle in einem Boot«, heißt der letzte Satz der internen Katastrophenanleitung.

Am vorigen Dienstag und Mittwoch durchsuchten Experten der Gesundheitsbehörde noch einmal das gesamte Gebäude. Sie fanden keine Spuren von Anthrax.

Wenn man so will, ist eigentlich gar nichts passiert.

Joseph Masoraca sitzt in der 44. Etage

des Empire State Building. Er trägt seine Juventus-Turin-Jacke, denn Juventus hat gestern Abend gegen Rosenborg Trondheim gewonnen. Masoraca ist ein Italo-Amerikaner aus Long Island. Er sitzt zwischen offenen Kartons, einem kaputten Wasserautomaten, zwei alten Schreibmaschinen und einem Computer, der lange nicht benutzt wurde. Er raucht und guckt CNN, er sitzt seine Zeit ab. Er hat eine Kiste mit etwa tausend Visitenkarten, die er nicht mehr braucht. In zwei Wochen zieht seine Firma aus dem Turm aus. Hinter Masoraca breitet sich der südliche Teil Manhattans aus. Die Skyline sieht immer noch aus wie gefälscht. Der Blick geht ungehindert raus aufs Meer. Das Empire State Building ist wieder das höchste Haus der Stadt. Es ist ein Symbol. Ein Ziel. Man kann sich ziemlich ungeschützt hier oben vorkommen.

Joe Masoraca aber glaubt nicht, dass es noch schlimmer kommen kann.

Seine Hochhauskatastrophe fand bereits vor anderthalb Jahren statt. Am Abend des 24. Januar 2000 stieg er auf seiner Etage in den Fahrstuhl, in dem schon eine junge Frau stand. Nachdem sich die Türen schlossen, fiel die Kabine mit den beiden Passagieren in die Tiefe. Irgendein Seil war gerissen, der Fahrstuhl rauschte bis zum vierten Stockwerk, 120 Meter tief, wo er durch ein Bremssystem aufgefangen wurde. Es gibt keine Türen im Schacht, weil dieser Fahrstuhl nur zwischen 41. und 56. Etage hält. Sie wurden später von einem Rettungsteam befreit, das sich mit einem anderen Fahrstuhl zu ihnen abseilte. Sie schienen unverletzt. Die junge Frau kam nie zurück, Masoraca ging erst zu einem Arzt und dann zu einem Anwalt.

Es war eine große Nummer damals, stand in allen Zeitungen auf der ersten Seite. Masoraca bekam Interviewanfragen aus aller Welt, für ein Gespräch forderte er 5000 Dollar. Er verklagte die Gesellschaft, die das Empire State Building betreibt. Die Untersuchungen zu der Fahrstuhlkatastrophe dauern an. Inzwischen kann er mit der Geschichte niemanden mehr beeindrucken. Es ist zu viel passiert. Insgesamt.

»Es ist nicht so, dass sich das Geschäft verschlechtert hat«, sagt Masoraca. »Es gibt kein Geschäft mehr.«

An den Wänden hängen vergilbte Reiseplakate aus Rom, Florenz und Neapel. An der Glastür steht in breiten Buchstaben »Jolly International Tours & Transportation Inc.«, aber die Jalousie zum Flur ist heruntergelassen. Die Leute sollen nicht zugucken können, wie sich hier alles auflöst.

Am Tag, als das World Trade Center zusammenstürzte, musste Masoraca sein Büro verlassen, das Empire State Building wurde wie viele andere Hochhäuser evakuiert. Auch an den folgenden zwei Tagen blieb es geschlossen. Dann durften sie zurück. Es gab noch zwei Bombendrohungen und zwei Evakuierungen, aber das ist alles nicht so schlimm. Schlimm ist, dass die Touristen wegbleiben. Masoraca hat ein kleines Busunternehmen, das für europäische Reiseanbieter Fahrten durch New York, nach Philadelphia, Atlantic City und auch zu den Niagarafällen anbietet. Seine Kunden kamen aus Italien, Deutschland, Skandinavien und England. Er hatte sechs Luxusvans, sechs Fahrer und drei Büroangestellte. Jetzt sind es noch zwei Fahrer, die Sekretärin und er. Eigentlich braucht er auch die Sekretärin nicht mehr.

Am ersten November ziehen sie hier aus. Er will sich an einer Firma in New Jersey beteiligen, die Global Plus Tours heißt. Vielleicht bringt der neue Name was oder Weihnachten. Er will sich auch mehr um seine drei Kinder kümmern, sagt er. Er hat noch kistenweise Hochglanzprospekte, vorn ist einer der schicken Jolly-Busse abgebildet, im Hintergrund funkeln die Twin Tower. Masoraca trägt die Juventus-Jacke, Trainingshosen, weiße Socken und Badelatschen. So sitzt er hier seit drei Wochen, so wird er zwei weitere Wochen sitzen. Er ist seit zehn Jahren im Reisebusiness, er ist jetzt 38. Die schlimmste Geschichte seines Lebens ist nichts mehr wert.

Er hat keine Angst mehr.

Khyber-Pass klingt nach Verzweiflung

und Staub. Es ist der Flüchtlingsweg durchs Grenzgebirge zwischen Afghanistan und Pakistan, zwischen Jalalabad und Peschawar, von dem CNN ab und zu wacklige Bilder sendet. Am Fuß des Passes soll sich eines der Lager Bin Ladens befinden. Es gibt sicher bessere Namen für ein Restaurant im East Village als »Khyber Pass«.

Aber was soll man machen?

Als Ahmad Noor das Restaurant vor vier Jahren übernahm, hieß es schon »Khyber Pass«. Es hatte einen guten Ruf, und weil Ahmad Noor und seine Familie in den achtziger Jahren über den Khyber-Pass nach Pakistan flüchteten, gab es auch eine passende Geschichte zu dem Namen. Noor erreichte Amerika 1990, da war er 20, und das Land im Westen der Welt bedeutete nichts für ihn. Bis dahin hatte er indische Musik und indische Filme gemocht, der Feind kam aus dem Norden und sprach Russisch. Er war Mudschahidin, hat aber nie gekämpft, sagt er. Er gewöhnte sich langsam an Amerika.

Ahmad Noor ging aufs College in Queens, wo die meisten der etwa 10 000 New Yorker Afghanen leben. Vor fünf Jahren wurde er amerikanischer Staatsbürger, ein Freund habe ihn überredet, sagt er. Damals wechselte er in die Gastronomie. Es gibt acht afghanische Restaurants in Manhattan, im Village waren sie die Einzigen, es lief gut, sagt er.

Nach dem Anschlag aber kam überhaupt niemand mehr. In den ersten beiden Wochen war es total leer, jetzt sind abends ein Viertel der 65 Plätze belegt. Es reicht nicht. Er hat schon den Küchenchef und zwei Kellner nach Hause geschickt.

Die Touristen bleiben weg, klar, aber auch die Amerikaner. Es ist schwer, Zusammenhänge herzustellen. Er ist ja auch überrascht worden, er war auf dem besten Weg, ein Amerikaner zu werden. Er saß am 11. September in Queens vorm Fernseher und dachte wie alle, dass es ein Unfall war. Bald schon liefen die ersten Bilder aus Kabul. Seiner Heimatstadt.

»Es passte alles nicht zusammen, dieser gewaltige Anschlag und dieses arme Volk«, sagt Ahmad. »Ich habe mich natürlich komisch gefühlt. Ich bin Afghane, ich bin Muslim, und ich habe schon gemerkt, dass da im ersten Moment nicht so sehr viel differenziert wurde. Aber ich fühlte mich von Anfang an ziemlich sicher in meiner Haut, denn man sieht mir nicht an, dass ich aus Afghanistan komme. Ich könnte auch ein Italiener sein, ein Russe, ein Kaukasier.« Es ist eine traurige Erklärung. Und sie half auch nicht.

Ein afghanisches Restaurant in Midtown tapezierte sein Schaufenster mit amerikanischen Fahnen und hängte einen Brief in die Tür, in dem die Treue der Wirte zum amerikanische Volk erklärt wird.

Das ging Ahmad zu weit.

Er will nicht auf die Knie fallen wie ein Sünder, aber er kann auch nur bedingt nachvollziehen, was zu Hause passiert. Sie bombardieren sein Land, aber er kennt dort niemanden mehr. Er war 18, als er wegging. Er sagt, dass er nicht mehr politisch engagiert sei, aber er liebe sein Land. Es ist weit weg, er war nie wieder da. Er mag die Taliban nicht, die Terroristen nicht, die Pakistaner nicht. Er lebt in Queens, er arbeitet im East Village.

Die Perspektiven werden schief. Es vermischt sich alles. In New York wird man nicht von einem Redneck umgelegt. Hier wird man höchstens geschnitten.

»Wir haben uns nie unterkriegen lassen«, sagt er. »Niemals hat jemand Afghanistan einnehmen können. Man lässt uns nicht zur Ruhe kommen. Seit 25 Jahren leidet mein Volk.« In nur einer halben Stunde verstrickt er sich in der bockigen Geschichte seines stolzen, unbezwingbaren Volkes. Er hat wohl dieselben Feinde wie seine Gäste. Letztlich gibt es viele Gründe, warum ein gutes Restaurant nicht läuft. Meistens sind es Missverständnisse.

Draußen schlendern laute Menschen über die Straße. Ahmad hat wieder Kerzen auf allen Tischen angezündet, in den Fenstern hängen die guten Besprechungen aus der »New York Times« und der Stadtillustrierten »New York«. Die »Daily News« gab ihm im vergangenen Jahr noch vier von fünf Sternen. Er zahlt 9000 Dollar Miete im Monat. Noch einen Monat können sie überleben, sagt er.

Am nächsten Abend lässt er sich mit einer alten afghanischen Flinte für diesen Artikel fotografieren. Es ist nur ein einziger Gast da, ein betrunkener alter Amerikaner, der am Tisch eingeschlafen ist. Irgendwann wacht er auf und wankt aus dem Lokal, ohne zu bezahlen. Ahmad verfolgt ihn mit dem alten Gewehr in der Hand. Er stellt ihn auf dem St. Marks Place. Er bedroht seinen letzten Gast. Aber was soll man machen?

In diesen Tagen des Terrors ist es schwer zu sagen, wer wirklich wichtig ist in Manhattan. Es gibt zu viele. Giuliani natürlich, weil er half, dass keine Panik ausbrach, und weil er den New Yorkern neuen Mut gab. Die Feuerwehrleute, klar, und all jene, die halfen und ihr Leben riskierten oder sogar opferten. Die Mütter sowieso, die wie selbstverständlich ihre Kinderwagen durch diese verwüstete Stadt schieben. Und dann gibt es da noch David Letterman, den Late-Night-Moderator.

Nach dem Attentat war er für eine Woche verschwunden, und er kam nur zurück, weil Giuliani ihn darum bat. Sein erster Auftritt war unglaublich. Er sprach frei, er bat um Verzeihung, er trauerte, er machte keine Witze, er zeigte Anteilnahme, er war mutig. Seinem ersten Gast, dem CBS-Anchorman Dan Rather, hielt Letterman die Hand, als der zu weinen begann.

Die New Yorker waren begeistert. Letterman ist ein Held. Weil er Witz hat und Selbstironie, weil er schnell ist und schlau, weil er Herz zeigt, wenn es darauf ankommt, und weil er eine Art Woody Allen ist, aber mit Baseballschläger.

Es war eine große Freude, als Letterman in den Tagen danach wieder diesen Baseballschläger herausholte. Er trug weiße Socken und seinen blauen Zweireiher, am Revers die amerikanische Flagge, und er fand Worte für den Zorn der New Yorker auf Bin Laden. »Weißt du, Paul«, sagte er zu Paul Schaffer, seinem Bandleader, »mir geht der Typ auf die Nerven. Ich habe genug von ihm. Ich habe keine Angst mehr. Dieser Stecknadelkopf lebt in einer Höhle. Am Arm trägt er eine Timex. Wert: vier Dollar.« Das mit der Höhle wurde sein Running-Gag an diesem Abend. Es war ein primitiver Witz, ein Witz wie ein Baseballschläger. Aber er hatte Wucht, das Publikum trampelte vor Vergnügen.

Die Woche darauf kam der Milzbrand über die Stadt, und Letterman fing an, mit seinem Baseballschläger zu jonglieren. »Ah, es wird Herbst in New York, die Eichhörnchen im Central Park horten Cipro.«

»Ich fühle mich heute ein wenig merkwürdig. Wahrscheinlich habe ich statt Cipro heute mein Viagra genommen.«

»Anthrax ist jetzt auch im Kongress gefunden worden. Waren das noch Zeiten, als der Kongress sich nur vor neuen Praktikantinnen fürchten musste.«

Ende vergangener Woche entdeckte man Anthrax auch bei CBS, wenige Tage nach den Funden bei den Konkurrenzsendern NBC und ABC. »Wie immer sind wir von CBS weit abgeschlagen. Nummer drei.«

Letterman erinnert die Leute Abend für Abend daran, wer sie einmal waren, bevor sie die Angst gefangen nahm. Dazu gehört, dass er sich selbst seiner Angst nicht schämt. Amerikaner haben immer gelacht. Auch über Hitler. Und am Ende haben sie ihn besiegt.

Die vergangene Woche beschloss Senator John McCain, Präsidentschaftskandidat bei den Wahlen im Vorjahr, ein Kriegsheld. Sie redeten über Baseball, den Krieg, und dann fragte McCain Letterman, ob er wisse, in welcher Verkleidung Bin Laden Halloween feiern würde. »Keine Ahnung«, sagte Letterman. »Als Toter«, sagte McCain.

Im Sommer hatte Sally Fawcett das Gefühl, endlich angekommen zu sein. Aufgewachsen war sie in einem Vorort von Philadelphia, danach ein paar Jahre Los Angeles, schließlich New York, wo sie an der Börse arbeitete und ihren Mann Keith kennen lernte, ein Trader bei Merrill Lynch. Als es Sally an der Börse zu bunt wurde, fragte sie ihn, was er eigentlich von Kindern halte. »Ich liebe Kinder«, sagte Keith. Jetzt haben die Fawcetts drei davon: Elizabeth, 8, Rebecca, 5 und Sam, 6.

Drei Kinder in New York aufzuziehen ist ziemlich anstrengend, und dass Rebecca unter Asthma leidet und Sam autistisch ist, macht die Sache für Sally Fawcett nicht unbedingt leichter. Der Junge spricht kein Wort, und wenn er seinen Willen nicht bekommt, kriegt er einen Wutanfall. »Die anderen beiden«, sagt sie, »werden sich entwickeln, erwachsen werden, irgendwann ausziehen. Sam nie. Er braucht unsere Liebe und Hilfe. Er wird immer bei uns bleiben müssen.«

Sally Fawcett sieht aus wie eine Schwester von Meg Ryan, sie ist eine Frau, die sich nicht beklagt, sondern lieber ein paar Scherze macht. Sie jammerte auch nicht, als ihre Kinder mit Freunden über die Möbel in der kleinen Dreizimmerwohnung rannten, als seien sie Hindernisse auf einem Abenteuerspielplatz. »Würden wir irgendwo in der Vorstadt wohnen, hätten die Kinder vielleicht Fahrräder und einen Garten. Hier aber haben sie das Leben in seiner ganzen Vielfalt. Sie lernen, keine Angst zu haben in schwierigen Situationen, sie lernen, miteinander auszukommen, sie lernen Toleranz.«

Diesen Sommer haben die Fawcetts sich ein viel größeres und sehr teures Apartment gekauft. Ihre Unterschriften unter dem Kaufvertrag waren so eine Art Glaubensbekenntnis für New York. Auch wenn Keith jetzt täglich 14 Stunden arbeitet und auch das halbe Wochenende.

Die Ereignisse seit dem 11. September lassen sie an ihrem Glauben zweifeln. Sie sind nicht allein. Wenn Sally vom 16. Stock nach unten in den Wäscheraum fährt, stehen dort oft Leute mit 25 Jahren New York auf dem Buckel, 100-prozentige Großstadtkrieger, die flüstern: »Wir müssen weg. Dies ist kein Ort mehr, um Kinder aufzuziehen.« »Wo wollt ihr hin«, scherzt Sally dann, »nach Florida?« Dort, wo die ersten Milzbrandbriefe auftauchten?

An jenem 11. September ist bei Sally mehr kaputtgegangen, als sie mit ein wenig Humor wieder zusammenleimen könnte.

Sally hatte gerade Rebecca und Elizabeth in die Schule gebracht, als das erste Flugzeug einschlug. Wie gelähmt stand sie in der Aula, umspült von immer neuen apokalyptischen Gerüchten. »Sie haben noch 20 Flugzeuge mehr entführt«, rief einer. »Es ist Krieg«, rief ein anderer.

Den Rest des Tages verbrachte Sally mit

einer Freundin und sieben Kindern in deren kleiner Wohnung. Abends ging sie nach Hause. Der Rauch der Ruinen wehte in ihr Apartment. Rebecca bekam einen Asthmaanfall. Sally packte die Schuhe der Kinder vor die Tür, legte sich mit einer Taschenlampe vor den Fernseher. Bereit für den

nächsten Angriff. Am nächsten Morgen nahm sie ihre Kinder, fuhr zu ihrer Mutter in jenen Vorort von Philadelphia. Als beim Abendessen ein Jet über das Haus flog, bekam sie fast einen Nervenzusammenbruch.

In New York findet sie alles seltsam, und dieser Strom schlechter Nachrichten und apokalyptischer Szenarien aus Anthrax, Pocken und Nuklearkatastrophen trägt nicht unbedingt dazu bei, dass sich ihr Seelenzustand wieder normalisiert. Neulich deutete ihr Mann beim Abendessen zum Fenster und sagte: »Siehst du dieses Flugzeug? Es fliegt so tief.« »Honey«, antwortete sie, »dies könnte unser letztes gemeinsames Dinner sein.« Keith lächelte nicht einmal.

Später fand ihn Sally im Schlafzimmer, im Sessel eingeschlafen, ein Fernglas auf dem Schoß. Der starke, stoische Keith. Der Mann, der eine Lungenentzündung vor zwei Jahren so lang ignoriert hatte, bis er seine Frau mitten in der Nacht weckte und sagte: »Honey, ich gehe mal rüber ins Krankenhaus, ich kriege keine Luft mehr.« Sich die Socken anzog, zusammenbrach und von einem Notarzt zurück ins Leben geholt werden musste. Beide hängen an New York, immer noch, aber in einer Stadt zu leben, die Terroristen zu ihrem Hauptangriffsziel erklärt haben, nagt an ihren Seelen. »Wir werden uns an diese Unsicherheit gewöhnen müssen. New York war immer ein Laboratorium moderner Zeiten. Dazu gehört jetzt eben auch die Bedrohung durch Typen, die in Tarnanzügen vor Felsenhöhlen herumhocken.« Sie geht zum Fenster und starrt einem Flugzeug nach, das gerade den Hudson River überquert.

* Am 15. Oktober.

Zur Ausgabe
Artikel 3 / 112
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren