Morgens um sieben
(Nr. 18/1971, Hermann Schreiber über New York City)
In einer Unterhaltung in New York mit einem Bürger dieser Stadt sagte mir dieser, daß es in New York nur Verrückte gebe. Meinen berechtigten Einwurf, wieso er es denn hier aushalten könne, beantwortete er mir: »Nur hier können Verrückte unter Verrückten glücklich leben.«
Trier HERIBERT ORTH
Ich lebe seit zwanzig Jahren in diesem gottgesegneten Land, in dieser -- zugegeben -- mit tausend Problemen kämpfenden Millionenstadt. Ich sehe mit viel Begeisterung, wie ein großes Apartmenthaus nach dem anderen in Manhattan und den anderen Boroughs aus dem Boden schießt. Ich sehe selbstverständlich auch voll Besorgnis, wieviel Geld von der Stadtdirektion verschwendet wird, wie sehr die Rauschgiftsucht -- dieses wahrhaft internationale Problem -- und das Verbrechertum in New York, vor allem auch durch die unbeschreibliche Vielfalt der Bevölkerungs-Elemente bedingt, den Bürgern New Yorks zu schaffen macht. Ich sehe, wie Schwarz und Weiß friedlich zusammen die Schule, die Universität besuchen. Weil ich es nicht auf negative »Sensationen« abgesehen habe, sehe ich so viel Gutes wie wohl in keinem zweiten Land der Welt. Daß New York, die »sterbende Stadt«, nebenbei die Stadt des unerreichten (von anderen Städten unerreichten) Kulturzentrums Lincoln Center, der besten Theateraufführungen, der Meinungs- und Gedankenfreiheit ist, wo jeder -- von Polizei beschützt -- demonstrieren und den Mund aufmachen kann, scheint Ihnen entgangen zu sein. Ich wünsche Ihnen, lieber SPIEGEL, viele »sterbende Städte« wie New York, denn dann stünde es sehr gut um Deutschland.
New York GERTY AGOSTON
Ihr Artikel ist genau das, was man in Deutschland gern über Amerika sagen möchte. Ihr Reporter hat die kranken Stellen der Riesenstadt gut gefunden -- doch diese Stadt wird von Menschen zusammengehalten, gebaut, verbaut, umgebaut und wieder gebaut, die Mut und Herz haben. Wenn die ganze Welt nicht fortlaufend die amerikanische Großzügigkeit ausnutzen würde, könnten wir mit einem Fünftel unserer Steuern auskommen und unseren Städten Subventionen geben.
Ihr Reporter kennt sich doch nicht zu gut aus in New York: Machen Sie selbst mal den Versuch und rufen Sie den Bürgermeister Lindsay an, erklären Sie ihm, daß Sie ein Problem haben mit der Müllabfuhr. Es kann Ihnen durchaus passieren, daß er morgen früh um sieben mit einem Straßenbesen vor Ihrer Tür steht. Sie kennen den amerikanischen Pioniergeist nicht!
River Vale (New Jersey) JAMES K. KUNZ
Wir sind besuchsweise für einige Zeit in den USA und augenblicklich in New York. Wir lesen auch hier den SPiE-GEL. Ihre beste Reportage, die wir jemals gelesen haben. Selbst unsere amerikanischen Freunde, denen wir alles übersetzt haben, sind begeistert davon. Eine bessere Beschreibung der sogenannten »Fun-City« gibt es wirklich nicht.
New York SIGRID BERTINO
Es scheint, als wüßten Sie immer nur die negative Seite über die USA zu berichten. Ihr letzter Artikel über das Leben in New York ist auch dieses Mal übertrieben. Diese Eindrücke können nur einem Neuling passieren. Ich jedenfalls finde die schäbigen Armen und sogar die ignoranten Reichen viel menschlicher als die rechthaberischen Deutschen. Nach fünfjährigem Aufenthalt in New York kann ich das mit gutem Gewissen voll und ganz behaupten.
New York INGRID FRÖCHLICH
Das sogenannte Establishment der Bundesrepublik setzt seit zwei Jahrzehnten alles daran, auch die Bevölkerung der BRD mit diesem makabren American way of life zu beglücken. Die »Erfolge« sind nicht ausgeblieben: rapide ansteigende Kriminalität und Rauschgiftsucht.
Sögel (Nrdrh.-Westf.) HANS WIND
Allein schon bemerkenswert: die zweimalige Explosion in der Sardinenbüchse während der Rush-hour. Für deutsche Verhältnisse noch undenkbar. Wie lange noch?
New York WILLY STAHL
Ich kann der Schilderung Hermann Schreibers über die »Fun-City« leider nur zustimmen.
New York BERND KARL
Es wäre die Pflicht dieses Essays gewesen, auf dieses hinzuweisen: daß nicht nur New York im Sterben liegt, daß es vielmehr die Großstadt selbst ist, die hier ihren Niedergang erlebt. An einem Beispiel wurde etwas gezeigt, das längst allgemein zu registrieren ist: Die Großstadt ist ein Unding, weil menschenfeindlich und für den Menschen nicht gedacht, denn sie ist anonym. Und nur dies macht möglich, was geschieht: die Gedankenlosigkeit gegenüber der Umwelt, den gemeinschaftlichen Selbstmord einer ganzen Spezies, die im Begriff ist, ihren Planeten zu verwüsten. Wieder hat der Mensch etwas geschaffen, das er längst aus der Kontrolle verloren hat und das ihn nun zu vernichten droht. Man sollte endlich beginnen, die Konsequenzen aus seinem Wissen zu ziehen.
Lennestadt (Nrdrh.-Westf.)
WOLFGANG BECKER
Einen in vielen Punkten angenehmeren Eindruck erhält man als Tourist von der Sieben-Millionen-Stadt Moskau. Weder in der Metro, noch auf den Metro-Bahnhöfen, nicht einmal auf dem von zahlreichen Besuchern überquerten Roten Platz findet man eine fortgeworfene Zeitung, leere Zigarettenschachteln oder achtlos verlorene Bus-Fahrscheine. Selbst zur Zeit des Berufsverkehrs keine verstopften Straßen, keine größeren Stauungen an den Knotenpunkten der Innenstadt. In den Hotels ist ein Heer von Putzfrauen Tag und Nacht damit beschäftigt, zu fegen, zu wischen und zu desinfizieren. Müll und Abfall aus dem Fenster oder vor die Tür auf die Straße zu kippen, ist für Moskau undenkbar. Um 23 Uhr schließen Cafés und Restaurants. Betrunkene zu sehen ist eine Seltenheit. Obdachlose haben wir nirgends entdeckt. Gegen Mitternacht trifft man in der Innenstadt mehr Miliz-Streifen als Passanten. Möchte man ein Eis lutschend durch das Kaufhaus Gum bummeln, wird man höflich gebeten, während des Eisverzehrs stehenzubleiben. Es könnte sonst unbemerkt aus der Waffel tropfen und den Boden verunreinigen. Die Fahrpreise sind mit vier Kopeken für alle Bus-Strecken und fünf Kopeken für alle Metro-Strecken niedrig. In einem Punkt haben wir allerdings große Übereinstimmung mit der westlichen Welt entdeckt. Die Moskwa befördert die gleiche trübe und schmutzig-gelbe Brühe durch die Stadt wie Elbe und Rhein, Donau und Themse, Seine und Tiber.
Barendorf (Nieders.) GÜNTER ROWOHLT
Irgendwas an diesem stinkenden Abfallhaufen, der auch noch jeden Moment in die Luft fliegen kann, ist »out of this world«. Ich bleibe.
New York HELMUT SCHMIDT
Alles, was Sie über New York gesagt haben (das galt schon vor zehn Jahren), stimmt, aber auch in einer Todesanzeige wird einem Lob erteilt. Abgesehen von einem kurzen Satz, war kein Wort der umfangreichsten Auswahl von Theatern, Museen, Ausstellungen, Filmen, Restaurants, Sportveranstaltungen und so weiter zu lesen, deren Ausmaß sich kaum vorzustellen ist und die keine andere Stadt in der Welt anbieten kann. Dieser unvergleichbare Anreiz zieht noch heute Menschen hin. Kein Wunder, daß mit solchen Berichten die Deutschen ein falsches Bild von den USA haben.
Berlin STEVE ECONOMIDES
Bei weitem das Beste, was ich je im SPIEGEL oder anderen deutschen Zeitungen über dieses Land und die faszinierendste Stadt überhaupt gelesen habe.
Slippery Rock (Pennsylvania/USA)
Dr. WALTER SCHURIAN Associate Professor of Psychology
Die meisterhafte Analyse New Yorks des Hermann Schreiber könnte deutsche Leser glauben machen, daß die Krise der Stadt größer ist als die anderer Städte in den USA. Das wäre ein Irrtum. New York leidet an Gigantismus, Rassen-Antagonismus. aufgeblähten Wohlfahrtskosten, Überforderung der Angestellten in Uniform, Korruption, Verwaltungs-Anarchie, Kriminalität, Flucht der Mittelklasse und so weiter. Hat aber auch Vorteile, einzig in den USA: phantastisch reges Kulturleben. einen relativen Liberalismus der Regierenden und der Oberschicht. Sie ist vor den Augen der Welt, hier können die Verfolgten und Ausgebeuteten noch in die Öffentlichkeit flüchten. Wer aber nur den Hudson überquert, nach Jersey. sieht Städte wie Newark, Hoboken, Jersey City, kulturelle Wüsten, in ihrer Gesamtheit den New Yorker Slums ähnelnd. Washington -- trotz Hochschulen, Museen, Congress Library -- ist auch ein Kultur-Wüstenland, wo -- ausgenommen Georgetown -- nur Schwarze wohnen, ohne Theater, am Abend verödet. Die Arbeitslosigkeit ist vielerorts -- Buffalo, Seattle -- mehrfach größer als in New York. Wenn Fahrpreise der öffentlichen Transportmittel in New York von 5 auf 30 Cent stiegen. anderswo -- bei kürzeren Strecken -- erreichen sie 40 und 50 Cent. Die New Yorker Polizei ist der Brutalität und Korruption angeklagt, doch -- besonders im Süden -- gibt es Städte, wo einer ohne Schulung, nur weil er weiß ist, Polizist werden kann. Boston hat verhältnismäßig mehr Wohlfahrtsempfänger als New York, Birmingham viel schlechtere Luft. Die Zahl der Morde in Chicago, Austin, Houston auf 100 000 ist viel größer als in New York.
New York ROBERT MAJOR
New York enthüllt seine schöne Seite, ähnlich einer Frau, nur dem Lebensbejahenden, dem, der sie besitzen will und der sie nimmt! Herrn Schreiber blieb dies allem Anschein nach vorenthalten.
New York WOLFGANG MAYER
Ich verstehe Ihren Berichterstatter nicht! Ich verstehe niemanden, der von New York schwärmt! Die Sky-line, Theater und Museen (von schmutzigen Straßen aus zu betreten) -- einmal gesehen reicht. Bin ich zu empfindlich, wenn mich der Dreck und die Art der New Yorker, über die Armut der farbigen Bevölkerung hinwegzusehen (auch weiße, gescheiterte Menschen werden verachtet), wenn mich diese Gleichgültigkeit, diese Ungerechtigkeit abstößt? Wer und was in New York ist heiter«? Nothing -- Nobody! Vielleicht noch ein bißchen das »Village«, aber wohl auch nicht mehr so wie früher. Ich bilde mir nicht ein, New York oder andere Großstädte richtig zu »kennen«, aber keine Stadt fand ich so wenig liebenswert wie New York. Wie kann man eine Stadt. in der Unrecht und Gewalt regieren, faszinierend nennen? Eine Stadt, in der Gewalt und Terror aus nackter Existenzangst toleriert werden müssen?
Düsseldorf DOROTHÉ MAINZ