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Moskau: »Der Apparat verharrt in Trägheit«

Michail Gorbatschow wollte einführen, was noch kein Chef der sowjetischen Staatspartei jemals auch nur erwogen hatte: Auswahl unter mehreren Kandidaten für Parteiposten in geheimer Abstimmung, Zugang von Nichtparteimitgliedern zu leitenden Ämtern. Doch das ZK verwässerte den systemverändernden Reformplan. *
aus DER SPIEGEL 6/1987

Unser Feind hat uns durchschaut, unsere Atommacht schreckt ihn nicht«, meditierte Michail Gorbatschow vor einigen Schriftstellern im vorigen Sommer über die Konkurrenzmacht USA. »Einen Krieg werden sie nicht an -fangen«, sie beunruhige nur eins: »Wenn sich bei uns eine Demokratie entfaltet, wenn uns das gelingt, dann tragen wir den Sieg davon.«

Eine Demokratie anstelle jenes anachronistischen Systems, in dem die Bürger zu 99,98 Prozent dem von der Partei präsentierten Kandidaten akklamieren und die Mitglieder der einzigen Partei durch Handaufheben dem von der Zentrale bestimmten Sekretär folgen - dazu noch offene Diskussionen ohne Furcht vor Folgen, unabhängige Gerichte und unzensierte Zeitungen in der UdSSR: Das würde die Welt verändern, Ängste des Westens schwinden und den Freiheitshort Amerika beinahe so alt aussehen lassen wie dessen Repräsentanten.

Mitten im winterlichen Moskau schien schon am vorigen Dienstag ein Frühling anzuheben wie 1968 in Prag: Gorbatschow, der Hoffnungsträger aus Stawropol am Kaukasus, trat vor das ZK, die oberste Beschlußkörperschaft der KPdSU, und verkündete, was noch kein Chef der Staatspartei je gesagt hatte: Die Umgestaltung der Sowjetgesellschaft könne um das Wahlsystem »keinen Bogen machen«, es gebe Vorschläge, fortan mehrere Kandidaten anzubieten.

Für die Partei aber riet der Reformer die leitenden Organe einschließlich der Ersten Sekretäre der Städte, Gebiete und Bundesländer künftig »in geheimer Abstimmung« zu wählen, und zwar aus »einer beliebigen Anzahl von Kandidaten«, die von den Parteimitgliedern selbst zu benennen seien.

Seit Lenins Rotgardisten vor 69 Jahren die erste Nationalversammlung auseinandergejagt hatten, gab es keine freien Wahlen mehr in Rußland, und seit der Tyrannei des Generalsekretärs Stalin bestimmt das Sekretariat des Partei-ZK, wer welchen Posten einnimmt. Das ist bis heute das Grundgesetz der UdSSR.

Eine Ausnahme enthielt denn auch Gorbatschows Vorschlag, der mutmaßlich von seinen Kollegen im zwölfköpfigen Politbüro redigiert worden war: Für die oberste Ebene, Politbüro und ZK, Generalsekretär und dessen ZK-Sekretariat, sollte die geheime Auswahl unter mehreren Kandidaten nicht gelten.

Ein derart demokratisierter Kommunismus hatte vor knapp zwei Jahrzehnten in der Tschechoslowakei den Einsatz sowjetischer Panzer heraufbeschworen, die Verhaftung der abgewichenen Parteiführer und das Ende des Experiments.

Jetzt aber kam der Antrag vom Generalsekretär der KPdSU: »Historische Kreml-Forderung zur Erweiterung der Demokratie«, lautete die Schlagzeile der Londoner »Times«, die »eine der radikalsten Veränderungen seit der bolschewistischen Revolution 1917« protokollierte. Die »Financial Times«, das Blatt der Londoner Finanz-City, brachte gar »ein Hurra auf Mr. Gorbatschow« aus.

Der Dissident Jurij Orlow, heute in Amerika, sah die Chance einer Sowjet-Demokratie wenigstens bis zur Jahrhundertwende; Jiri Hajek, einst Außenminister der CSSR-Reformer, hält Gorbatschow für einen »russischen Dubcek": Hoffnung allerorten - im Prinzip.

Von »Maßnahmen revolutionären Charakters« sprach Gorbatschow - vorigen Sommer sagte er noch: »Dies ist eine echte Revolution.« Dafür braucht er die Zustimmung eben jenes Gremiums, vor dem er seine Vision entfaltete: des ZK der Monopolpartei, eines Bojarenrats der höchsten Würdenträger des Reiches, die bislang kraft ihrer Stellung in der Hierarchie berufen wurden.

Diesen Spitzengenossen machte der Chef nun klar, daß sie nicht demokratisch gewählt seien und nach seiner Revolution keine Garantie mehr hätten, ihre Ämter samt Datscha, Dienstwagen und Importwaren zu behalten.

Bisher habe das ZK es an Weitsicht fehlen lassen, griff er sie direkt an, und: »Es ist die Meinung des Politbüros, daß eine weitere Demokratisierung auch für die Zusammensetzung der zentralen Führungsorgane der Partei gelten sollte. Ich denke, das ist ganz logisch.«

Jedes ZK-Mitglied müsse das Recht erhalten, »auf Plenarsitzungen Fragen zu stellen«, oft habe man nur »auf die Schnelle« getagt und die wichtigen Fragen gar nicht erörtert. Vorsichtshalber wurde die ZK-Sitzung wie üblich im Fernsehen nicht übertragen, gab es nicht

einmal Photos davon, die 34 Diskussionsbeiträge und die Abstimmungsergebnisse wurden - anders als unter Chruschtschow - nicht veröffentlicht.

Gorbatschow plädierte gleich auch noch für »Demokratie in der Produktion«, nämlich die Wählbarkeit von Betriebsleitungen - das sei »von erstrangiger Bedeutung«. Er wünschte sich mehr Frauen in der Führung - derzeit sind elf im ZK (3,5 Prozent), null im Politbüro: »Man muß den Frauen nur vertrauen.« Er forderte sogar, »Parteilose mit Leitungsarbeit zu betrauen« - als wolle er dem heimgeholten Dissidenten Sacharow ein Staatsamt übertragen.

Die Zeitschrift »Moskowskije nowosti« erinnerte schon daran, daß Lenin auch mit Leuten zusammengearbeitet habe, die keine Bolschewiki waren, zum Beispiel mit Leo Trotzki. Das kam einer Rehabilitierung des Stalin-Gegenspielers gleich, der (im Massenblatt »Sowjetskaja Rossija") erstmals seit 50 Jahren auf einem Photo zu sehen war, wenn auch noch ohne seinen Namen.

Ungestüm forderte Gorbatschow die herrschende Klasse der UdSSR heraus: 44 Prozent der 295 ZK-Mitglieder sind Parteisekretäre jener Ebenen, die er zur Disposition wahlberechtigter Genossen stellen möchte. 31 Prozent sind Funktionäre des Staatsapparats, die dem Votum der Bürger ausgeliefert wären.

Wir haben einen hausgemachten soziaiistischen Konservatismus«, revoltierte schon im Januar-Heft der Zeitschrift »Nowy mir« deren neuer, parteiloser Chefredakteur, der Roman-Autor Sergej Salygin. Und: Mit der Preisgabe der Neuen Ökonomischen Politik« Lenins, einer begrenzten Marktwirtschaft, durch Stalin »verabschiedeten wir uns zugleich vom vielseitigen Denken... Der Staatsapparat ist dazu nicht fähig«.

Gorbatschow aber verabschiedete sich nun von den »Sozialismus-Vorstellungen auf dem Niveau der 30er und 40er Jahre«, das heißt jener Stalin-Zeit, in der die Hälfte der ZK-Mitglieder der Partei beigetreten war. Wie würden sie die revolutionären Neuerungen des Chefs aufnehmen?

Die Weihen eines mit ZK-Mitgliedschaft verbundenen Postens erlangten 124 der 295 ZK-Genossen erst im Zuge der durchgreifenden Umbesetzung unter dem Parteichef Gorbatschow; auf die Berufung von weiteren 66 hatte er schon vorher als ZK-Sekretär Einfluß - darunter waren fünf, die es zum Vizepremier brachten, auch der heutige Premier Ryschkow und der KGB-Chef Tschebrikow, der Vize-Außenminister Woronzow und der Generalstabschef, der Innen- und der Finanzminister, der Moskauer Parteisekretär Jelzin und der neue Kasachstan-Chef Kolbin, die Westexperten Arbatow und Sagladin. Mit deren Beistand konnte Gorbatschow rechnen.

Jungen Aufsteigern mochte gefallen, daß er ein Pensionierungsalter von 70 Jahren für ZK-Mitglieder erwog, samt Privilegienverlust - das müßte die Senioren schrecken; die »Prawda« riet sogar, leitende Funktionäre mit 60 in den Ruhestand zu schicken, was auch Gorbatschow nur noch vier aktive Jahre bescheren würde.

Einen Vorschlag, an dem schon der Reformer Chruschtschow gescheitert war, hatte Gorbatschow vor einem Jahr aufgenommen, ließ ihn aber bald wieder fallen: Niemand solle ein Parteiamt länger als zehn Jahre innehaben. So wäre er die drei dienstältesten, konservativsten Politbüro-Mitglieder losgeworden: Kunajew aus Kasachstan, Schtscherbizki aus der Ukraine und Gromyko, den Ex-Außenminister und Staatschef, allesamt Relikte der Breschnew-Zeit.

Dreimal verschob Gorbatschow - ein Verstoß gegen das Partei-Statut - die fällige ZK-Sitzung über Personalfragen, um die Mitglieder persönlich und per Telephon sowie durch seine ZK-Sekretäre auf seinen Kurs einzustimmen. Alle erhielten einen Entwurf seiner Rede mit einem Anhang umfänglicher Analysen sowie einem Bündel Petitionen und Briefen aus dem Volk an den ZK-Apparat.

Als die Hoheitsträger endlich vorige Woche im Kreml beisammensaßen, erlebten sie den Taktiker Gorbatschow. In seiner fünfstündigen Rede beschrieb er

ihnen düster die Lage der Nation und bot eine dramatische Abrechnung mit der Ära Breschnews, des Lieblings aller ruhebedürftigen Funktionäre, ohne dessen Namen zu nennen:

»Es kam zur Stagnation«, »konservative Haltungen überwogen«, die Aktivität der Sowjetmenschen sei abgesunken, Disziplin und Ordnung hätten nachgelassen, die meisten Pläne seien nicht erfüllt worden, Geistlosigkeit, Machtmißbrauch und Gesetzesbruch hätten sich ausgebreitet: »Es kam eine Schmarotzer-Ideologie auf«, »soziale Korrosion«.

Hohe Funktionäre hatten »kriminelle Aktivitäten« organisiert, in mehreren Bundesländern und Ministerien habe die »Degeneration der Kader extrem schmutzige Formen« angenommen. Resultat: die »Gefahr einer wachsenden Krise«.

»Alles Gesagte, Genossen, zeugt davon, wie ernst die Lage ist und wie notwendig tiefgreifende Veränderungen sind«, folgerte der Sozialkritiker Gorbatschow. Nur dadurch sei die Lage »überhaupt noch zu retten«, könne »der Sozialismus überhaupt überleben«. Deshalb sei »tiefgreifende Demokratisierung« eine unaufschiebbare Aufgabe«.

Doch gebe es »nicht wenige« Leute, welche die Fehler der Vergangenheit nur langsam einsähen, abwarteten und anderen Knüppel zwischen die Beine würfen, ortete Gorbatschow seine Widersacher: »Der Apparat verharrt in Trägheit und möchte seine Rechte nicht aufgeben.«

»Iswestija«-Kolumnist Alexander Bowin, einst Berater Breschnews, definierte die Reformfeinde vorige Woche in der Wochenschrift »Nowoje wremja« genauer: eine Gruppe »sowjetischer sozialistischer Konservativer«, die Gorbatschows Programm »blockieren«.

So blieb Gorbatschows ZK-Rede denn auch ein Wunschzettel, ein Versprechen ans Volk, alles werde sich wenden. Den umworbenen ZK-Mitgliedern aber zeigte sich der Zauberer zugleich als Zauderer: Er denke nicht daran, ließ er seine etablierten Zuhörer aufatmen, »das politische System aufzubrechen«, und die Verbindlichkeit der Entscheidungen höherer Instanzen für alle niedrigeren Parteiorgane habe »unerschütterlich zu gelten, auch hinsichtlich der Personalangelegenheiten« - womit die dräuende Wolke der Wählbarkeit erst einmal weiterzog und die Gnadensonne der Zentrale wieder schien.

Am Ende seiner zweitägigen Sitzung beschloß das ZK nur undeutlich eine »Vervollkommnung des sowjetischen Wahlsystems« und die »Erweiterung der innerparteilichen Demokratie«, billigte auch »völlig die politischen und praktischen Schlüsse, die vom Politbüro auf Grund der Situationsanalyse gezogen wurden, sowie die Formulierung der Aufgaben durch das Politbüro für eine moderne Kaderpolitik der KPdSU«.

Aber der 23 Schreibmaschinenseiten lange Beschluß erwähnt mit keinem Wort Gorbatschows Reformideen der Kandidaten-Vielfalt oder der geheimen Stimmabgabe: Das ZK hat Gorbatschow gebremst.

Auch im Politbüro, auf das sich Gorbatschow in seiner Rede ständig berufen hatte, gibt es für solchen Wandel keine sichere Mehrheit. Gorbatschow hatte sich über die »Stagnation bei der Zusammensetzung der leitenden Gremien« beklagt und seinen Altgenossen zugleich konzediert, Personalfragen müßten von ZK und Politbüro entschieden werden, damit bei allem »Zustrom frischer Kräfte« die »Kontinuität der Führung« gewahrt bleibe.

Sie blieb erhalten, nichts Frisches strömte. Das ZK beschloß lediglich das Ausscheiden des einzigen Asiaten im Politbüro, Kunajew, 75 - eine Formsache, seit der Absteiger im Dezember sein Amt in Alma-Ata verloren hatte.

Kein Nachfolger aus der Umgebung Gorbatschows rückte nach. Sein Vertrauter Alexander Jakowlew, verantwortlicher ZK-Sekretär für die neue Offenheit im kulturellen Leben - dort wächst der Freiraum -, mußte sich mit der Kandidatur für eine spätere Politbüro-Mitgliedschaft begnügen.

Von den elf ZK-Sekretären, den Exekutoren der Politbüro-Beschlüsse, konnte Gorbatschow den ruppigen Michail Simjanin, 72, loswerden, einen Mann von vorgestern, und mit der Placierung eines Vertrauten eine Mehrheit enger Anhänger bilden: Anatolij Lukjanow, 56, der Leiter der ZK-Verwaltungsabteilung, stieg zum ZK-Sekretär auf.

Lukjanow war Gorbatschows Kommilitone beim Jura-Studium im Moskau der fünfziger Jahre und blieb auch dort während Gorbatschow für 22 Jahre in die Provinzstadt Stawropol zurückging, und machte im ZK-Apparat Karriere, lange vor Gorbatschow.

Bei seiner Wahl in den hehren Kreis der ZK-Sekretäre - Chef: der Generalsekretär - gab es keinen Gegenkandidaten, und die Wahl war nicht geheim.

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