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Artikel 54 / 88

MOSKAU VERTRAULICH

Ein geflohener Sowjet-Diplomat berichtet (IV) / Von Arkadij Nikolajewitsch Schewtschenko In den bisher erschienenen Folgen schilderte Schewtschenko, jahrelang Berater von Außenminister Andrej Gromyko und stellvertretender Generalsekretär der Uno im Botschafterrang, den außenpolitischen Entscheidungsprozeß und die führenden Funktionäre in Moskau. In diesem Heft beschreibt er den Moskauer Gipfel von 1972 aus Sowjet-Sicht und schildert, wie er mit Hilfe des Geheimdienstes CIA zu den Amerikanern überlief. _(1985 by Arkady Shevchenko. Übersetzung ) _(aus »Breaking with Moscow« mit ) _(Genehmigung von Alfred A. Knopf Inc. ) *
aus DER SPIEGEL 9/1985

Unsere ministerielle Arbeitsgruppe hatte Resolutionsvorschläge für das sowjetisch-amerikanische Gipfeltreffen im Sommer 1972 fertiggestellt, darunter eine Grundsatzerklärung über die Beziehungen zwischen der Sowjet-Union und den Vereinigten Staaten. Breschnew und Gromyko maßen ihr große Bedeutung bei. Die Amerikaner begriffen offenbar zunächst nicht, wie wichtig das Dokument für die sowjetische Seite war. Kissinger schien über die Bemerkung Breschnews verwirrt, daß jene Erklärung noch bedeutender sei als das geplante Salt-Abkommen.

Auf die Amerikaner wirkte das Kommunique eher wie eine Reihe von Platitüden, angereichert mit propagandistischer Rhetorik. Für die Sowjets hingegen diente die Erklärung dazu, jene Kräfte in der Kreml-Führung zu beschwichtigen, die Zweifel am Sinn des Moskauer Gipfels hegten. Immerhin fand er während jener Tage statt, da die Amerikaner ihre Bombenangriffe auf Hanoi und andere vietnamesische Gebiete wiederaufgenommen hatten.

Die einzelnen Punkte der Erklärung - daß die amerikanisch-sowjetischen Beziehungen »auf der Basis friedlicher Koexistenz« gepflegt werden und auf den Grundsätzen der »Souveränität, Gleichheit und Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten sowie des gegenseitigen Vorteils« beruhen sollten -, dies alles war für die sowjetische Führung nicht leeres Gerede. Sie stellten, zumindest aus Moskauer Sicht, einen fundamentalen Wandel in der amerikanischen Außenpolitik gegenüber der Sowjet-Union dar. Für die Sowjets steckte in dieser Erklärung die rechtliche Anerkennung der leninistischen Idee friedlicher Koexistenz durch die Vereinigten Staaten, mithin ein großer Triumph für die sowjetische Außenpolitik.

Daß die USA das Gleichheitsprinzip anerkannt hatten, beglückte die Sowjets am meisten. Nichts konnte der Kreml-Führung mehr entgegenkommen: Jahrelang hatte sie an einem Minderwertigkeitskomplex gegenüber Amerika gelitten. Selbst wenn jene Grundsatzerklärung das einzige greifbare Ergebnis des Gipfeltreffens gewesen wäre - Moskau wäre vollauf zufrieden gewesen.

Der Entwurf des gemeinsamen sowjetisch-amerikanischen Kommuniques wurde auf dem Moskauer Gipfel 1972 ohne Schwierigkeiten angenommen. Gromyko hatte mich gebeten, ihn und Botschafter Dobrynin zu einem Treffen mit Henry Kissinger im Kreml zu begleiten, wo über das Dokument gesprochen werden sollte. Es war das erste Mal, daß ich einem Außenminister der USA am Verhandlungstisch gegenübersaß.

Kissingers unkomplizierte Art bei diesem Gespräch gefiel mir sehr. Er wünschte einige kleinere Textänderungen, doch beharrte er nicht weiter darauf, als er sah, daß Gromyko nicht nachgeben wollte.

Als wir in Gromykos Wagen ins Ministerium zurückfuhren, frotzelte ich Dobrynin mit der Bemerkung an, er müsse es in Washington ja leicht haben, wenn ein Übereinkommen mit Kissinger so mühelos zu erzielen sei. Dobrynin nahm meine Bemerkung ernst und platzte heraus, Kissinger sei bei den meisten Verhandlungen alles andere als entgegenkommend, man müsse ständig vor ihm auf der Hut sein: »Bevor man überhaupt den Mund aufmacht, hat er schon etwas gefunden, das er später gegen einen verwenden kann.« Gromyko warf darauf ein: »Und er ist glatt wie eine Schlange, einfach nicht zu fassen - läßt sich von niemandem hinter die Stirn gucken.«

Zu Anfang war Gromyko über die Scherze des Amerikaners verblüfft. Doch bald schon war er von der Persönlichkeit, der Verhandlungskunst und großen Sachkenntnis Kissingers beeindruckt. Gromyko bereitete sich äußerst sorgfältig auf jedes Treffen mit Kissinger vor und sah den Sitzungen mit großer Spannung entgegen. _(1972 nach der Unterzeichnung des ) _(Salt-I-Abkommens. )

Im Frühjahr 1972 hatte ich an den Vorbereitungen für das Gipfeltreffen teilgenommen. Es ging vor allem darum, vor der Partei den neuen Entspannungskurs des Kremls zu rechtfertigen. Eine Sitzung des Zentralkomitees sollte die Wende zur Detente-Politik absegnen.

In der Arbeitsgruppe, die beauftragt wurde, den Breschnew-Vortrag für das ZK zu schreiben, war ich der einzige Vertreter des Außenministeriums. Die übrigen Mitglieder gehörten dem Stab des Zentralkomitees an, da die Plenarsitzung hauptsächlich in ihre Zuständigkeit fiel. Wir versammelten uns in einer Datscha des ZK, die etwa 45 Autominuten von Moskau entfernt lag. Es war eine gemütliche Umgebung: Das zweistöckige weiße Landhaus, in dem wir schrieben, schliefen und aßen, war dem Schriftsteller Maxim Gorki von einem der wohlhabenden Morosow-Brüder geschenkt worden, jenen vorrevolutionären Industriellen, die Rußlands avantgardistische Kultur gefördert und vor 1917 die Bolschewiken finanziell unterstützt hatten.

Meine Aufgabe war es, zu beweisen, daß alle eventuellen Abkommen mit den Vereinigten Staaten keineswegs ein Ende des ideologischen Kampfes mit dem »Imperialismus« signalisierten; daß unsere Unterstützung der »Befreiungsbewegungen« weiterginge oder daß unser Streben nach echter militärischer Parität mit den Vereinigten Staaten unvermindert anhalte.

Ich schrieb, der Nixon-Besuch sei nicht nur wichtig, weil es der erste Besuch eines US-Präsidenten in der Sowjet-Union seit dem Zweiten Weltkrieg sei, sondern auch weil er »einen großen Sieg« für die friedliebende Politik der UdSSR darstelle. Er sei ein »überzeugender Beweis« für die »mächtige Zunahme des sowjetischen Einflusses in der ganzen Welt«.

Bei unseren Arbeiten an Breschnews ZK-Rede tauchte natürlich auch die Frage auf, wie der Empfang Nixons mit der sowjetischen Unterstützung Hanois in Einklang gebracht werden könne. Die Mitarbeiter des Zentralkomitees in der Gorki-Datscha drängten mich zum Beispiel, die Passagen, die ich über Südostasien geschrieben hatte, durch eine donnernde Verurteilung des amerikanischen Imperialismus zu untermauern.

Als ich jedoch den Entwurf in Moskau vorlegte und Gromyko von den Pressionen berichtete, wies er mich an, an den von mir benutzten gemäßigten Formulierungen festzuhalten. »Wir müssen«, so Gromyko, »den Grundsatz (unserer Ablehnung einer amerikanischen Einmischung) zwar zum Ausdruck bringen, aber gedämpft, ohne schrille Töne. Wir brauchen keine Hysterie. Dies ist keine Propaganda für die Schreiber, die sich in der Presse stets überschlagen.« In der Endphase, als Breschnew dem Bericht selbst den letzten Schliff gab, setzte sich dann Gromykos Linie durch.

Nixon und Kissinger hätten sich nicht soviel Sorgen machen müssen, wie sie es offenbar taten, daß die Sowjets ihre Einladung womöglich zurückziehen würden, als amerikanische Streitkräfte die wichtigsten Häfen Nordvietnams zwei Wochen vor dem angesetzten Gipfeltreffen verminten. Zu dem Zeitpunkt hatten Gromyko und Breschnew sich schon unwiderruflich darauf festgelegt, den US-Präsidenten in Moskau zu empfangen und diesen Besuch zu einem feierlichen und entscheidenden Wendepunkt auf dem Wege zu besseren Beziehungen zwischen den beiden Supermächten zu gestalten.

Das Gipfeltreffen gab den Führern der beiden Länder Gelegenheit, sich besser kennenzulernen - ein Faktor, dessen Bedeutung in unserem Zeitalter zunehmender Unpersönlichkeit oft übersehen wird. Breschnew und andere sowjetische Führer fühlten sich allerdings im Umgang mit Richard Nixon nie ganz wohl; sie verstanden ihn einfach nicht gut. Auch weil sie selbst stets argwöhnisch waren, mißtrauten sie diesem argwöhnischen Politiker.

Als wir bei einem unserer Gespräche in Gromykos Büro zur Vorbereitung des Gipfels vergeblich über ein geeignetes Geschenk für Nixon nachdachten, bemerkte Gromyko: »Fast alle Amerikaner haben ein Hobby. Weiß jemand, welches Hobby Nixon hat?« Fragend blickte er in die Runde. Nachdem die versammelte Gruppe einen Augenblick lang schweigend den Kopf geschüttelt hatte, meinte Gromyko trocken: »Ich glaube, am liebsten hätte er eine Garantie, daß er für immer im Weißen Haus bleiben kann.«

Am Ende beschlossen die Experten des Ministeriums, ihm ein Tragflügelboot zu schenken - aus dem einfachen Grund, weil Breschnew eins hatte und Spaß daran fand.

Die sowjetischen Führer stellten in Nixons Verhalten eindeutige Ähnlichkeiten mit ihrem eigenen politischen Gebaren fest und gelangten daher zu der Schlußfolgerung, daß es möglich sein könne, in einer Welt der Realpolitik mit ihm zu Rande zu kommen. Sein Pragmatismus und seine trockene Art, seine angeborene Neigung zu Geheimvereinbarungen und die Art, wie er seine Präsidentenmacht ausübte, gefielen den Sowjets. Das waren Eigenschaften, die sie verstanden.

Auch hatte der Kreml den Eindruck gewonnen, daß Nixon über mehr Macht verfügte, als dies tatsächlich der Fall war - ein Umstand, der in der Sowjet-Führung schließlich zu schweren Fehleinschätzungen der amerikanischen Politik führte. Im Gespräch mit Nixon litt Breschnew unter einem Minderwertigkeitskomplex, den er in Gegenwart der Amerikaner natürlich nach besten Kräften zu verbergen suchte.

Einmal bemerkte er, er sei nicht sicher, ob Nixon verstehen werde, was er

sagen wolle. Gromyko war weit zuversichtlicher, und am Ende des Gipfels war sein Respekt vor Nixon unverkennbar. In einem redseligen Augenblick, nachdem alles vorbei war, witzelte Gromyko, wenn Nixon sich je um eine Mitgliedschaft in der KP bewerben sollte, könnte die Angelegenheit »geprüft werden«.

Breschnew und Gromyko glaubten jedoch beide, es sei vielleicht noch wichtiger, mit Kissinger zu einem Abkommen zu gelangen. Die Sowjets hatten an der Zusammenarbeit mit ihm so viel Spaß, daß er nach dem Moskauer Gipfel in Gromykos innerem Kabinett einen russischen Spitznamen erhielt: Kissa (Schmusekätzchen). Das bedeutete keineswegs, daß die Sowjets in Kissinger einen Mann sahen, mit dem einfach umzugehen war oder der auf ihrer Seite stand. Doch bei den Russen ist es von jeher Brauch, für Menschen, die sie mögen und achten, nette Spitznamen zu ersinnen.

Gromyko hielt Kissinger für einen formidablen Gegner, der »im Charakter eines Menschen lesen kann wie in einem aufgeschlagenen Buch«. Die Tatsache, daß Kissinger die Macht der USA vertrat und sowohl Intelligenz wie außergewöhnliches Verhandlungsgeschick besaß, machte seinen Charme für die Russen noch unwiderstehlicher.

Im Dezember 1972 rief Gromyko mich in sein Arbeitszimmer, wo er mich mit ungewohnter Herzlichkeit begrüßte: »Man hat mir vorgeschlagen, Sie als Kandidaten für den Posten des Stellvertretenden Generalsekretärs der Vereinten Nationen zu benennen. Kutakow _(Leonid Kutakow, ehemaliger Rektor des ) _(Moskauer Staatsinstituts für ) _(Internationale Beziehungen. )

wird mit dieser Aufgabe nicht fertig, und es muß etwas geschehen. Was meinen Sie, Schewtschenko? Wenn Sie wünschen, können Sie in Ruhe darüber nachdenken und mir Ihre Entscheidung morgen bekanntgeben.«

Was Gromyko mir da anbot, war die Beförderung zu einem unserer wichtigsten Vertreter im Ausland. Da gab es natürlich nichts zu überlegen - ich nahm das Angebot sofort an.

Am nächsten Tag wurde ich zu Michail Suslow bestellt, einem der letzten Prominenten aus der Stalinzeit, die unter Breschnew noch im Amt waren. Er war kalt, starrköpfig und kurz angebunden; ich wußte, daß Gromyko ein distanziertes Verhältnis zu ihm hatte.

Suslow, der als 79jähriger im Januar 1982 starb, stellte die kommunistische Ideologie über alles. Gromyko ist flexibler, wenn auch immer bedacht auf sowjetische Macht und Größe. Doch er nimmt die Welt, wie sie ist, nicht, wie sie nach den Voraussagen des Marxismus-Leninismus sein müßte.

Obwohl seine Krankheit ihn oft vom politischen Tagesgeschäft fernhielt, genoß Suslow immenses Ansehen. Und er nutzte seine Macht. Wenn sie auch nicht reichte, seinen dogmatischen Ansichten mehr Geltung zu verschaffen, setzte er sie doch ein, um Abweichungen von der aus seiner Sicht einzig richtigen sowjetischen Politik zu verhindern oder wenigstens zu bremsen.

Suslow war ein hagerer Typ, über ein Meter achtzig groß. Er trat bereits 1941 ins Zentralkomitee ein, wurde 1947 ZK-Sekretär und 1952 Mitglied des Präsidiums, wie Stalin sein letztes Politbüro nannte. Seine lange Parteikarriere war schon eine Machtbasis, aber sein Einfluß stammte auch aus den vielen Jahren, in denen er jüngere Funktionäre förderte, die ihm später treu ergeben waren.

Als Chruschtschow 1964 gestürzt wurde, hätte Suslow Nachfolger als Generalsekretär werden können, aber er zog es vor, sich als Chefideologe weiter um die Reinheit der Lehre zu kümmern. Allerdings wollten er und die anderen Spitzenleute auch keinen Parteichef, der ihnen Vorschriften machte.

Suslow beaufsichtigte die beiden Abteilungen des Zentralkomitees für Außenpolitische Angelegenheiten. Diese Kommissionen beraten das Politbüro. So konnte Suslow über die von ihm beaufsichtigten Kommissionsmitglieder seine Ansichten stets durchbringen.

Er nahm außenpolitische Aufgaben im Rahmen seiner ideologischen Kontrollfunktion auch persönlich wahr. Er reiste zu Parteikongressen im Ausland und belehrte die ihm »brüderlich verbundenen Genossen« in seiner monotonen Fistelstimme, die in krassem Gegensatz zu seinem würdevollen Auftreten stand.

Er war, nach den verbitterten Worten eines Außenamtskollegen, ein von Stalin hinterlassener Anachronismus, ein Stalinist, der seinen Mentor und dessen Zeitalter zu lange überlebt hatte. Im Gespräch mit ihm merkte ich, wie recht mein Kollege mit seiner sarkastischen Bemerkung hatte.

Als ich sein Arbeitszimmer betrat, fand ich einen befehlsgewohnten Mann vor. Stahlblaue Augen blickten mich durch dicke Brillengläser unter einem Wust anscheinend nie gekämmter graublonder Haare an. Seine Haut spannte sich über hervorstehenden Backenknochen. Er wirkte erschöpft. Nach einem kurzen Händedruck mit Glückwunsch fing er sofort damit an, über seine Ansichten zur Uno zu dozieren.

Er klopfte mit seinen langen, knochigen Fingern langsam auf die Tischplatte, während er mir klarmachte, daß ich in meiner neuen Stellung die Vereinten Nationen als unser Forum zur Verbreitung fortschrittlicher Ideen ansehen müsse. Um sicherzugehen, daß ich ihn richtig verstand, wiederholte er diesen Gedanken noch zweimal.

Da die Mehrheit der Uno-Mitglieder junge Länder im Entwicklungsstadium

seien, so sagte er, sei nicht auszuschließen, daß sie der neokolonialistischen und bourgeoisen Ideologie zum Opfer fielen. Das zu verhindern sei Aufgabe der Sowjet-Union und überhaupt aller überzeugten Kommunisten.

Er wisse, fügte er dann hinzu, daß Gromyko dafür sei, ideologische Gesichtspunkte vor den Vereinten Nationen nur mit äußerster Vorsicht in die Debatte einzuführen. »Ich lehne diese Haltung ab«, sagte er kurz.

Suslows unerbittliche Linie in ideologischen Angelegenheiten entsprach seinem asketischen Lebensstil. Er hatte so eingefahrene Gewohnheiten, daß man die Uhr auf Punkt sechs stellen konnte, wenn sein Wagen abends an der Ecke Arbat-Smolenskoje kolzo neben dem Außenministerium auftauchte, um ihn nach Hause zu bringen.

Ich hörte mir aufmerksam an, was Suslow mir zu sagen hatte, und machte keine Einwände. Natürlich wußte ich, daß ich letztlich tun würde, was Gromyko sagte.

Anfang 1973 trat Schewtschenko seinen neuen Posten in New York an, zweieinhalb Jahre später ließ er die Amerikaner wissen, er wolle mit seiner Regierung brechen. Ein Bekannter vermittelte den ersten Kontakt.

Der Mann, der nach dem Klingeln öffnete, stellte sich mir als Bert Johnson vor. Er hatte einen festen Händedruck und trug einen gutsitzenden dunklen Anzug. »Ich habe Sie erwartet«, sagte er, »kommen Sie mit nach oben.«

Johnson gab sich gastfreundlich aber geschäftsmäßig. Er fragte, ob ich etwas trinken wolle. Ich bat um einen Scotch. Trotz der gemütlichen Atmosphäre legte sich meine Spannung nicht. Johnson schien darauf zu warten, daß ich darauf zu sprechen kam, was uns zusammenführte. Aber obwohl ich mir vorher alles gründlich zurechtgelegt hatte, konnte ich zunächst keinen Anfang finden.

»Ich bin nicht einfach so aus einer Laune heraus aufgekreuzt. Und ich bin auch nicht erst seit ein paar Tagen dazu entschlossen«, sagte ich endlich.

Er nickte schweigend, und diese Geste machte es mir nicht leichter.

»Seit Jahren trage ich mich mit Gedanken an eine Flucht. Jetzt bin ich bereit zu handeln, und ich bitte Sie, mir zu helfen«, fuhr ich fort.

Johnson nickte wieder. Ich merkte, daß er mir nicht auf die Sprünge helfen wollte.

»Ich erkläre Ihnen, daß ich entschlossen bin, mit meiner Regierung zu brechen«, platzte ich dann heraus.

Ich konnte kaum eine andere Antwort als sein Kopfnicken erwarten, denn er wußte bereits, was ich zu sagen hatte. Aber ich wurde immer nervöser. Was mich störte war, daß er mich - entgegen meiner Erwartung - nicht mit Fragen überschüttete oder meine Motive in Zweifel zog.

»Mir geht es nicht um Geld oder ein angenehmes Leben«, sagte ich. »Als sowjetischer Botschafter genieße ich alle erdenklichen Privilegien. Meine Frau und ich haben ein luxuriös ausgestattetes Appartement in Moskau; wir haben alles, was man sich nur wünschen kann. Wir besitzen eine Datscha in einer der besten Gegenden außerhalb Moskaus. Wir haben Geld, viel Geld sogar. Aber darauf kommt es mir nicht an«, sagte ich noch einmal.

Johnson hörte sich das alles schweigend an. Dann fragte er, ob ich meiner Frau von unserem Treffen erzählt hätte. Ich verneinte, sagte aber, daß ich das plante. Johnson war sichtlich angetan von meiner Antwort, sagte aber nichts dazu.

Dann kam ich mit meiner Forderung heraus: Ich wolle ganz offen übertreten und dies öffentlich erklären. Ich brauchte den Schutz der Amerikaner und wolle nicht überwacht werden. »Ich möchte leben und arbeiten und schreiben, ohne daß irgendeine Regierung mir vorschreibt, was ich zu tun oder zu sagen habe. Kann Ihre Regierung mir das gewähren?«

Er zündete sich eine Zigarette an. »Okay«, sagte er und lehnte sich zurück. »Zunächst einmal bin ich ermächtigt, Ihnen den erbetenen Schutz zuzusagen. Wenn Sie zum Übertritt bereit sind, werden wir Sie gern aufnehmen, Ihnen helfen, und zwar sofort, wenn Sie das wünschen.«

»Wir wissen eine Menge über Sie«, fuhr er fort. »Wir verfolgen Ihren Werdegang seit Jahren, und deshalb muß ich Sie fragen, ob Sie wirklich fest entschlossen sind. Wenn Sie noch Zweifel haben, äußern Sie die bitte jetzt. Was von jetzt an weiterläuft, können wir beide nicht mehr verhindern.«

Dann sagte Johnson: »Sie meinten, daß Sie etwas Sinnvolles tun möchten. Glauben Sie, daß ein Übertritt die einzige Möglichkeit dazu ist?«

»Nun ...« antwortete ich zögernd, »ich glaube, mit meinem Übertritt kann ich eine Menge bewirken.«

»Ganz sicher«, sagte er. »Aber denken Sie einmal daran, wieviel Sie bewirken können, wenn Sie noch eine Weile auf Ihrem Posten bleiben.«

»Wie meinen Sie das?«

Er schilderte mir die anfängliche Begeisterung in Washington, als bekannt wurde, daß ich überlaufen wollte. Alle sahen darin eine gewaltige Schlappe für die Sowjets. Aber es gab auch andere Überlegungen: Könnte man mich zum Beispiel dazu bringen, noch einige Zeit Uno-Sekretär zu bleiben?

Auf diesem vorgeschobenen Posten könnte ich eine Menge Informationen besorgen, falls ich mit den Amerikanern zusammenarbeitete. Durch mich könnten sie mehr über die sowjetischen Pläne und Absichten, über die Auffassungen der Führungsschicht herausfinden.

Es lief mir wie ein kalter Schauer über den Rücken. »Das heißt doch, daß Sie mich zum Spion machen wollen«, sagte ich.

»Nicht ganz«, antwortete er. Er dachte einige Sekunden nach und fuhr fort: »Spionage sollte man das nicht nennen. Sagen wir, daß Sie uns von Zeit zu Zeit - bei Zusammenkünften wie heute mit mir - Informationen liefern könnten.«

Ich wußte nicht, was ich darauf sagen sollte. Dieses Ansinnen hatte mich aus der Fassung gebracht. »Was Sie da von

mir verlangen, ist äußerst gefährlich«, konnte ich endlich herausbringen. »Ich bin dafür nicht ausgebildet.«

»Wann können wir uns wieder unterhalten?« fragte er.

»Der nächste Freitag würde mir am besten passen«, antwortete ich. »Kann ich Sie irgendwie erreichen - telephonisch?« Er gab mir eine Telephonnummer zum Auswendiglernen. Ich wiederholte sie mehrmals, um sie ja nicht zu vergessen.

In der folgenden Woche schwankte ich ruhelos zwischen ja und nein. Zu meiner Überraschung fand ich nun Johnsons Spionagevorschlag nicht mehr so abwegig. Ich entdeckte sogar immer mehr positive Seiten an der Sache, je länger ich darüber nachdachte. Vor allem würde ich mehr Zeit für die Vorbereitungen zu meinem Übertritt haben.

Überdies, so dachte ich, könnte ich die eventuellen Zweifel der Amerikaner an meiner Aufrichtigkeit am ehesten zerstreuen, wenn ich vorher eine Weile für sie arbeitete. Beim nächsten Treff erkundigte sich Johnson nach meiner Gesundheit. Warum kam er nicht zur Sache? Ich druckste ein wenig herum, als ich ihm erzählte, daß ich gerade einen kleinen Urlaub hinter mir hatte und daß die Sitzungen des Sicherheitsrates sehr anstrengend gewesen waren. »Übrigens«, sagte ich dann, »seit unserem letzten Gespräch habe ich an nichts anderes mehr gedacht.«

Ich fragte Johnson, wie sein Vorschlag im einzelnen gemeint sei, und sagte ihm gleichzeitig, daß ich nicht sicher sei, ob ich tun könne, was er verlange. Er sagte, ich solle keine Leute beschatten oder Geheimdokumente stehlen und photographieren. Die Amerikaner wollten von mir Informationen, zu denen ich bereits Zugang hatte - über die politische Taktik, über politische Entscheidungen und wie sie herbeigeführt würden. Sie seien an Informationen interessiert, die sich aus meiner Stellung, meiner Arbeit, meinen Beziehungen ergäben.

Johnson schlug vor, ich solle mit den letzten in der Mission eingegangenen Telegrammen anfangen - Datum und Uhrzeit der Absendung, den Text so vollständig wie möglich. Ich stutzte. Was sagte er, den vollen Text der Telegramme? Vor einer Minute noch sorgte er sich um meine Gesundheit, und jetzt verlangte er von mir, Kopf und Kragen zu riskieren. Wer versucht, innerhalb der sowjetischen Botschaft ein verschlüsseltes Telegramm zu kopieren, wird todsicher dabei erwischt.

Am Montagmorgen mußte ich um neun Uhr in der Uno-Botschaft sein, um an der üblichen Besprechung teilzunehmen. Botschafter Malik liebte diese Zusammenkünfte; es war ihm gleich, ob es etwas zu besprechen gab oder nicht. Sie waren ein bürokratisches Machtmittel, das Malik vor vielen Jahren von Stalin übernommen hatte. Der Diktator pflegte damals alle seine Mitarbeiter zusammenzurufen, nur um in ihren Augen zu lesen.

Als ich Maliks Arbeitszimmer betrat, fürchtete ich fast, eine versteckte Röntgenkamera würde Alarm schlagen und allen offenbaren, daß Schewtschenko jetzt ein amerikanischer Spion war.

Maliks Zimmer hatte doppelte Wände mit einem Luftzwischenraum, in dem immer leise Musik spielte. Diese abhörsichere Zuflucht war ein handwerkliches Meisterstück des KGB, hatte aber einen unübersehbaren Fehler. Der Raum war so schlecht belüftet, daß man zu ersticken meinte, wenn sich mehrere Personen auch nur kurz darin aufhielten. Doch offenbar reichte die Luft für Malik. Die Besprechungen in der »Mördergrube«, wie seine Mitarbeiter das Büro nannten, dauerten manchmal Stunden.

Malik war ein hochgewachsener, eindrucksvoller Mann, der auch dann noch gut aussah, als sein graues Haar sich zu lichten begann. Er behandelte seine Untergebenen mit Verachtung. In gespielter Verzweiflung ließ er seine Arme auf den Schreibtisch fallen und hielt seinen Mitarbeitern lange Vorträge. »Was soll ich nur mit Ihnen anfangen?« seufzte er dann. »Und was würden Sie ohne mich tun? Sie sind doch blind wie ein Maulwurf. Ich weiß nicht, wie lange es noch dauert, bis ich Ihnen beigebracht habe, wie man richtig arbeitet.«

Die Arbeitsbesprechung an diesem Morgen brachte nichts Neues, und die Reden waren eintönig. Malik war außergewöhnlich gut gelaunt. Manchmal, wenn ich bei diesen Unterredungen nichts sagte, zog er mich in seiner plumpen Art auf: »Aha, Schewtschenko sagt gar nichts. Er hat nichts beizusteuern. Aber wir wissen ja, warum. Er und seine Leute sitzen den ganzen Morgen bei einer Tasse Kaffee lässig an ihren Schreibtischen, bis es Zeit ist für eine ausgedehnte Lunchpause. Plagen die sich ab, oje!«

Diesmal versuchte er jedoch nicht, mich auf den Arm zu nehmen. Als er die anderen hinausgeschickt hatte, wandte er sich zu mir. »Arkadij Nikolajewitsch«, sagte er, »können Sie noch einen Augenblick bleiben?«

Mein Puls schlug schneller, aber er wollte nur, daß ich zwei Telegrammentwürfe zu der bevorstehenden Abrüstungsdebatte durchlas. Seine Mitarbeiter hatten die Texte verfaßt, und er wollte wissen, ob sie in Ordnung waren. Er bat mich oft um solche kleinen Dienste. »Können Sie sich die Telegramme oben mal ansehen?« fragte er. »Tut mir leid, wenn ich Sie aufhalte, aber das ist dringend und muß noch heute abgeschickt werden.«

Ich fuhr im Wagen zum Uno-Gebäude und dachte an das, was ich für Johnson in

der Uno-Botschaft tun sollte. Ich hatte bis dahin die Vorschriften für den Telegramm- und Koderaum und die Kontrollen über die dort zugänglichen Texte nur als bürokratische Ärgernisse aufgefaßt.

Nun ging ich sie noch einmal im Kopf durch, und mir wurde klar, daß all die Vorschriften, die ich bald verletzen würde, nur einem Zweck dienten: absolute Sicherheit zu garantieren. Sie waren eingeführt worden, um den Strom der Informationen zu kontrollieren, ihre Geheimhaltung sicherzustellen und Neugierigen oder gar Spionen jeden Einblick zu verwehren.

Dieses System war gleichzeitig ein sichtbarer Ausdruck für die Schizophrenie, die so oft das Verhalten der Sowjetbürger prägt. Wenn die Kontrollen den diplomatischen Nachrichtenverkehr behindern und bewirken, daß wertvolle Informationen nicht rechtzeitig eintreffen, oder wenn sie das Wirtschaftsleben in der UdSSR lähmen, so ist das ein zweitrangiges Problem.

Die »Referentura« war eine Festung. Es war schon kompliziert genug, hineinzukommen. Aber es war unmöglich, herauszugelangen, wenn der Verdacht einer Geheimnisverletzung aufkam. Die ankommenden und die abgehenden Telegramme unterlagen ähnlich strengen Sicherheitsvorschriften. Alle mußten in die dafür vorgesehenen Ein- und Ausgangsbücher von Hand eingetragen werden.

Es war verboten, Telegrammentwürfe außerhalb der »Referentura« niederzuschreiben oder einen Telegrammdurchschlag mitzunehmen. Deshalb wurde die gesamte Ablage der Botschaft, soweit sie die verschlüsselten Nachrichten enthielt, hinter den Doppeltüren im siebten Stock verwahrt.

Um selbst die geringe Möglichkeit auszuschließen, daß der Anschlag von Schreibmaschinen abgehört und der Kode auf diese Weise entziffert würde, war es verboten, die Telegrammtexte zu tippen. Es war zwar faktisch unmöglich, irgendwas abzuhören, weil die »Referentura« genauso schallsicher gemacht worden war wie Maliks Arbeitszimmer, aber das KGB tat in allen Fällen lieber zuviel als zuwenig. Ich vermutete auch, daß wir beim Lesen der Depeschen von Sicherheitsbeamten durch geheime Gucklöcher überwacht wurden.

Seit meinem letzten Besuch bei Johnson las ich die Telegramme unter dem ganz neuen Aspekt durch. Da waren mehrere telegraphische Instruktionen zu nebensächlichen Uno-Angelegenheiten - Berichte von anderen diplomatischen Vertretungen, die das Außenministerium ganz oder teilweise den Missionen zukommen ließ, die mit ähnlichen Dingen befaßt waren -, aber nichts Aufregendes.

Auf dem Weg zu meiner nächsten Unterredung mit Johnson malte ich mir aus, was er wohl zu so einer mageren Ausbeute sagen würde. Würde er mich immer wieder wegschicken, bis ich mit einer Sensation aufkreuzte? Aber wie lange würde das so gehen? Ich wollte nicht sehr lange für die Amerikaner spionieren.

Johnson war sofort an der Tür. Ich beobachtete ihn genau, als ich ihm sagte, daß ich viele Stunden praktisch umsonst im Telegrammraum zugebracht und gelesen hatte. »Machen Sie sich keine Sorgen, Andy. Ich verstehe das sehr gut«, sagte er. »Dies soll keine einmalige Aktion sein - weder für Sie noch für uns.«

Seine Antwort beruhigte mich zwar, aber ich konnte nicht viel damit anfangen, zumal ich den Eindruck bekam, daß dies noch länger andauern könnte, als ich annahm.

»Ich muß Sie photographieren und Ihre Fingerabdrücke haben«, sagte Johnson plötzlich. »Nur für unsere Unterlagen, damit die anderen wissen, daß Sie der sind, für den Sie sich ausgeben. Und falls Sie sich in meiner Abwesenheit mal identifizieren müssen.«

Ich posierte mit und ohne Jackett, von vorn und im Profil, lächelnd und mit ernstem Gesicht.

In der Uno-Botschaft verhielten meine Landsleute sich mir gegenüber nicht anders als früher. Mein Angstgefühl legte sich etwas, aber ganz wurde ich es nie los.

Drei Wochen später war es wieder voll da - nein, noch stärker. Ich sah mich einer Gefahr ausgesetzt, die ich überhaupt nicht einkalkuliert hatte: Uno-Generalsekretär Kurt Waldheim hatte entschieden, daß ich ihn auf einer internationalen Konferenz über die südafrikanische Apartheidspolitik in Havanna vertreten sollte.

Ich hatte keinen plausiblen Grund, um diesen unangenehmen Auftrag abzulehnen. Kuba war so ungefähr das letzte Land, in das ich mich begeben wollte. Ich war dort ebenso gefährdet wie in irgendeinem der sowjetischen Vasallenstaaten in Osteuropa. In Havanna mußte ich auf den Schutz der CIA verzichten. Falls ich dort plötzlich verschwand, konnten meine Uno-Kollegen aus anderen Ländern dies zwar der Zentrale in New York melden, es aber nicht verhindern. Das KGB konnte mich in Kuba aufgreifen und ohne Begründung in eine Direktmaschine nach Moskau setzen. Niemand würde und konnte etwas dagegen unternehmen.

Johnson zeigte sich besorgt, als ich ihm von den unerwünschten Reiseplänen erzählte. Doch nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, sagte er ruhig: »Die Gefahr, daß Ihnen da etwas zustößt, erscheint mir ziemlich gering. Aber selbst wenn Sie nach Moskau deportiert werden sollten, können wir Ihnen helfen. Ich weiß, Sie werden es nicht glauben, aber wir haben einige Möglichkeiten, etwas für Sie zu tun.«

»Wie zum Beispiel? Indem Sie ein Protestschreiben an Breschnew richten?«

»Beruhigen Sie sich. Lassen Sie mich erst mal eine Notfallplanung für Moskau entwickeln, damit Sie einsehen, daß wir nicht so machtlos sind, wie Sie annehmen. Danach liegt die Entscheidung bei Ihnen.«

Drei Abende später beschrieb er mir das Verfahren, nach dem ich mit Amerikanern in der sowjetischen Hauptstadt Verbindung aufnehmen konnte. Der Plan hörte sich nicht schlecht an, doch er überzeugte mich nicht. Ich sah mich bereits in einer Zelle des berüchtigten Lubjanka-Gefängnisses. »Hören Sie, _(1978 bei einer Sitzung des ) _(Anti-Apartheid-Ausschusses der Uno. )

Bert«, brüllte ich. »Die können mich in Kuba schnappen und mich ganz oder in Einzelteilen nach Moskau verfrachten, und Sie können nichts, aber auch nichts dagegen machen. Damit wären die schon durch, bevor Sie überhaupt etwas erfahren.«

Er ließ sich nicht aus der Fassung bringen. »Andy, wir haben keinerlei Anzeichen, daß Sie mehr als üblich überwacht werden. Aber falls die KGB-Leute Sie irgendwie verdächtigen, wird Ihre Reise nach Kuba sie in Sicherheit wiegen.«

Was er sagte, klang logisch, und mein Ärger ließ nach. Meine Bereitschaft, nach Havanna zu gehen, konnte sich in der Tat günstig für mich auswirken und etwa entstandene, aber nicht erhärtete Zweifel des KGB an meiner Loyalität zerstreuen. Zudem war offenkundig, daß Johnson meine Zustimmung als einen weiteren Beweis meiner ehrlichen Absichten gegenüber den Amerikanern brauchte. Ich war immer noch in der Probezeit.

Unvermittelt fragte Johnson mich: »Womit rasieren Sie sich?«

»Mit einem gewöhnlichen Naßrasierer, so einem Apparat, bei dem eine flache Klinge von zwei Lippen gehalten wird. Sie kann auf verschiedene Winkel eingestellt werden. Warum?«

»Weil wir damit eine Möglichkeit haben, Ihnen zusätzliche Sicherheit zu geben. Bringen Sie den Rasierer morgen oder übermorgen mit. Wir geben ihn zurück, bevor Sie nach Havanna abfliegen.«

Mein Flug nach Kuba war für den kommenden Samstag gebucht. Ich wollte frühzeitig da sein, um alle Vorkehrungen für die Konferenz abzuchecken und letzte Schwierigkeiten auszuräumen, bevor sie am Montag eröffnet wurde. Am Anfang der Woche lieferte ich meinen Rasierer bei Johnson ab, und am Freitagabend, einen Tag vor meinem Abflug, traf ich mich wieder mit ihm. Johnson erwartete mich schon, offenkundig zufrieden mit sich. Er zeigte auf die beiden Rasierer, die nebeneinander auf einem niedrigen Couchtisch lagen. »Welcher ist Ihrer?« grinste er mich an.

Ich sah sie mir an, wog sie in der Hand und konnte keinen Unterschied feststellen.

»Von jetzt an gehörden sie beide Ihnen«, sagte Johnson, »aber den linken können Sie nicht im Drugstore kaufen. Ich zeige Ihnen, wie sie sich unterscheiden.«

Er nahm den einen Rasierer in die Hand, stellte die Zahl auf dem Metallring unter dem Kopf auf den minimalen Winkel, schlug hart gegen das Ende des Griffs und verdrehte ihn. Der Griff fiel

auseinander - er war hohl. Johnson schob eine winzige Mikrofilmrolle in die Öffnung.

»Darauf steht alles, was Sie wissen müssen«, sagte er. »Falls Sie die Einzelheiten des Notfallplanes, den wir jetzt besprochen haben, vergessen sollten. Da stehen Telephonnummern, Treffpunkte, Leute, die Sie ansprechen können. Alles für den Fall des Falles.«

Ich mußte das Auseinandernehmen und Zusammensetzen des Rasierers so lange üben, bis Johnson mich einen Experten nannte. Ich kam mir trotzdem zu ungeschickt vor. Am nächsten Morgen packte ich meine beiden Rasierer ein, fuhr zum Kennedy Airport und bestieg die Maschine nach Jamaika, von wo ich nach einem Zwischenaufhalt ein anderes Flugzeug nach Havanna nahm.

Mit dem Sowjetbotschafter in Havanna traf ich erst nach Eröffnung der Konferenz zusammen. Er wollte die UdSSR nur auf den Arbeitssitzungen vertreten. Wir kannten uns nicht von früher und in unserer kurzen Unterredung zwischen zwei Ansprachen äußerten wir nichts, was über eine oberflächliche Konversation hinausging. Ich akzeptierte jedoch seine Einladung, am Abend mit zwei Ehepaaren essen zu gehen und mir eine Show in einem kubanischen Nachtklub anzusehen. Es war ein angenehmer Abend gewesen, und als ich meine Sachen packte, um nach New York zurückzukehren, sagte ich mir, daß Johnson recht hatte. Meine Sorgen waren unbegründet.

Die Beruhigung hielt nicht lange vor. Ich bemerkte, daß zwei meiner Hemden nicht mehr da waren, wo ich sie hingelegt hatte. Ich ärgerte mich darüber, war aber sicher, daß sich die Hemden irgendwo in der Hotelsuite wieder anfinden würden. Doch als ich das Bad betrat, war es aus mit meiner Beherrschung. Ich hatte meinen Rasierer auf das Bord über dem Becken gelegt. Jetzt war er weg.

Mir brach der Schweiß aus allen Poren. Welcher von den beiden Rasierern war das gewesen? Ich hatte beim Auspacken vergessen, zu untersuchen, ob ich den hohlen oder den anderen Rasierer in der Hand hielt. Wo hatte ich den zweiten gelassen? Ach ja, im Koffer. Ich mußte ihn sofort heraussuchen, nachsehen, ob ich noch in Sicherheit war oder mich selbst verraten hatte.

Ich ging, schwerfällig wie ein Taucher unter Wasser, zurück ins Schlafzimmer und wühlte in den bereits eingepackten Sachen, bis meine Finger auf den Rasierer stießen. Ich zerrte ihn heraus und hielt einen Augenblick inne, um mich zu erinnern, wie ich ihn öffnen mußte.

Niedrigste Zahl einstellen, das Ende des Griffs drehen. Verdammt, nichts bewegt sich. Ich probiere es noch einmal. Wieder nichts. Sie hatten den hohlen Rasierer gefunden. Ich war aufgeflogen.

Ich weiß nicht, wie lange ich untätig da saß. Es schien eine Ewigkeit gewesen zu sein, bis ich wieder klar denken konnte. Dann kam mir die Idee, daß ich einen Handgriff beim Öffnen des Griffs übergangen haben könnte.

Ich probierte es ein drittes Mal. Langsam und methodisch. Zahl einstellen. Hart gegen das Ende schlagen und drehen. Hart gegen das Ende schlagen! Das war es, was ich bei den ersten beiden Versuchen vergessen hatte. Jetzt drehen. Das Ende ließ sich jetzt drehen und abnehmen. Der Mikrofilm war noch drinnen.

Am 31. März 1978, es war ein Freitag, begann der letzte Akt meiner geheimen Karriere. Am späten Nachmittag bekam ich einen Anruf von unserem neuen Uno-Botschafter Oleg Trojanowski, ob ich zur Botschaft kommen könne. »Oben wartet ein Telegramm aus Moskau auf Sie«, sagte er. Es war eine Aufforderung, nach Moskau zu kommen. Der Vorwand war dünn ("um ein paar Tage über die bevorstehende Sondersitzung

der UN-Vollversammlung zu Fragen der Abrüstung zu beraten") und vage genug, um unheilverkündend zu sein ("sowie um gewisse andere Fragen zu diskutieren").

Was waren diese »gewissen anderen Fragen«, die Moskau zu diskutieren wünschte? Sollte ich aufgeflogen sein, könnte das Telegramm mein Todesurteil bedeuten. Es wies mich an, mitzuteilen, »wann es mir genehm sei«, nach Moskau zu fliegen. Mir war klar, daß es niemals »genehm« sein würde.

Ich wählte die vertraute Nummer: »Hier spricht Andy. Es ist dringend. Ich muß ihn so bald wie möglich treffen.« Als ich den Hörer aufhängte, fühlte ich mich wie nach einem schweren Gewittersturm.

Tags darauf warteten meine amerikanischen Kontaktleute Bob und Carl - sie hatten Bert abgelöst - auf mich in einer CIA-Wohnung. Sie machten einen besorgten, aber auch leicht verwirrten Eindruck. Schließlich waren sie Ehemänner, Väter, deren Sonntag ich jäh gestört hatte. Ich sagte: »Ich brauche jetzt das offizielle Versprechen Ihrer Regierung, daß sie mich akzeptiert.«

»Wir können das am Donnerstag erledigen«, stimmte Bob zu. Ich nahm seine Worte als eine indirekte Form der offiziellen Bestätigung, um die ich gebeten habe. Wir erörterten auch noch einmal den Fluchtplan, weil wir vor dem Donnerstag nicht noch eine Kontaktaufnahme riskieren wollten.

Am Donnerstagabend sollte ich lange in der Uno arbeiten, dann kurz zu meinem Apartment kommen. Wenn meine Frau Lina schlief und ich unbeobachtet verschwinden konnte, sollte ich die Amerikaner in einem Fluchtauto treffen. Das Auto, eine viertürige weiße Limousine, sollte an der äußersten Ecke der Sixty-fourth Street/Third Avenue geparkt sein. Späher sollten um mein Wohnhaus herum postiert sein und nach KGB-Überwachern Ausschau halten. Sollte irgend etwas Ungewöhnliches passieren, würden die Scheinwerfer des Autos aufleuchten und mir signalisieren, daß ich wegbleiben soll.

Donnerstag nacht nahm ich eine Reisetasche aus dem Wohnzimmerschrank und stopfte ein paar Oberhemden, Socken und etwas Unterwäsche hinein. Auf Zehenspitzen schlich ich zu unserer Schlafzimmertür, warf einen letzten Blick auf meine schlafende Frau, steckte den Umschlag mit einem Brief durch die Tür, in dem ich ihr alles erklärte, und verließ das Apartment.

Ich ging auf den Dienstleistungs-Fahrstuhl zu und blieb abrupt stehen: Der fuhr nicht mehr nach Mitternacht. Ich konnte aber auch keinen der regulären Fahrstühle nehmen, da hätte ich einen der Sowjetbeamten treffen können, die ebenfalls in dem Haus wohnten. Ich würde die Taschen nicht erklären können, hätte keine Antwort auf die wahrscheinliche Frage, was ich täte, wo ich so spät in der Nacht noch hinwollte.

Daran hatten wir alle nicht gedacht. Eine Minute lang wußte ich nicht, was ich tun sollte. Dann erinnerte ich mich an die Feuertreppe am Ende des Flurs. Da konnte ich hinunter, wenngleich es zwanzig Stockwerke waren. Die Treppe führte im hinteren Teil des Gebäudes zum Erdgeschoß. Ich würde hinausgelangen, ohne vom Nachtportier am Eingang bemerkt zu werden.

Reisetasche und Aktenkoffer in einer Hand, öffnete ich die Ausgangstür. Das Treppenhaus war schwach beleuchtet, das Metallgeländer kalt und glitschig unter meiner schweißnassen Hand. Nach den ersten sechs Stockwerken mußte ich anhalten, um die Tasche und den Aktenkoffer in die andere Hand zu nehmen. Meine verkrampften Finger schmerzten. Der Aktenkoffer schlug mir ständig gegen Knie und Schienbein, so daß ich immer wieder ins Stolpern geriet. Fünf Stockwerke weiter hielt ich wieder an und verschnaufte. Ich hatte leise, vorsichtige Schritte gemacht, und nun zitterten meine Wadenmuskeln wegen der ungewohnten Belastung. Mein Herz hämmerte, als wollte es meine Angst dröhnend verkünden.

Noch zweimal ruhte ich aus, bevor ich das Erdgeschoß erreichte. Behutsam stieß ich die schwere Tür auf und spähte herum, niemand in Sicht. Ich ging die paar Stufen zum Dienstboteneingang hinaus und schlüpfte in die schmale Passage, die zur Sixty-fourth Street führte. Auf dem Bürgersteig schaute ich besorgt nach links. Ich sah das weiße Auto auf der anderen Straßenseite parken. Die Lichter waren nicht angeschaltet. Alles war in Ordnung.

Es waren knapp fünfzig Meter bis zum Auto, doch der Abstand kam mir unendlich und gefährlich vor. In einem dunklen Hauseingang konnte, unsichtbar für mich wie für die Amerikaner, ein KGB-Agent lauern, mit dem Befehl, mich aufzuhalten, bewaffnet mit einem Messer oder einer Pistole. Vielleicht hatten die Amerikaner bereits eine Gefahr ausgemacht und warteten nur noch, bis ich auftauchte, um zu blinken? Wie sollte ich dann, mit meiner Reisetasche und dem Aktenkoffer, einen Spaziergang vortäuschen? Der Plan war mir plötzlich unwichtig: Ich rannte. Ich stürzte die _("Sowjetbürger und Waldheim-Mitarbeiter ) _(setzt sich bei der Uno ab«. )

Sixty-fourth Street entlang hin zum Auto, in die Sicherheit. Als ich ankam, stand Bob auf der Straße und hielt mir die Hintertür auf. Er nahm mein Gepäck, warf es auf den Vordersitz, quetschte sich neben mich und rief: »Los jetzt.«

Die Straßen waren nahezu leer, aber die Spannung, die ich eine Stunde zuvor verspürt hatte, als ich die Vereinten Nationen verlassen hatte, stieg jedesmal wieder in mir hoch, wenn Scheinwerfer hinter uns das Innere unseres Wagens ausleuchteten. Bob und Carl schienen ebenfalls angespannt, und erst als wir New Jersey erreicht hatten, durchbrach ich das Schweigen mit einer Frage: »Wohin fahren wir?«

»Pennsylvania. Wir haben ein sicheres Haus in den Poconos, etwa zwei Stunden von der Stadt entfernt.«

Dort angekommen, überdachte ich noch einmal alles, was ich am Morgen zu tun hatte: Lina anrufen. Die Uno anrufen, um mein Büro versiegeln zu lassen, und Waldheims Assistenten benachrichtigen, daß ich für kurze Zeit weg wäre. Den Sowjets schreiben und ihnen die Gründe für meinen Bruch mit ihnen darlegen und meine Forderungen bezüglich meiner Familie formulieren. Einen Anwalt anrufen.

Gegen halb neun erreichte ich den zuständigen Uno-Sicherheitsbeamten und erklärte ihm, daß ich wegen Krankheit ein paar Tage fortbleiben würde. Er willigte ein, mein Büro zu versiegeln, bis ich wiederkäme, eine Routinemaßnahme in der Uno.

Ein paar Minuten nach neun rief ich Lina an. Auf das, was passierte, war ich überhaupt nicht gefaßt. Nach dem ersten Klingeln nahm jemand ab. »Da?« Es war eine Männerstimme. Russisch. »Lina?« Ich war anfangs ganz erstaunt. »Jejo njet doma« (Sie ist nicht da). Es war die Stimme eines Fremden.

Ich ließ den Hörer fallen, als ob ich mich verbrannt hätte. Ich konnte nur spekulieren, was wirklich passiert war. Sie mußte früh aufgewacht sein, meinen Brief gelesen haben und in Panik verfallen sein. Sie hatte irgend jemanden in der Botschaft angerufen. Sie holten sie ab und setzten einen KGB-Mann an ihre Stelle. Sie hatte wie ein Lamm gehandelt, das die Wölfe um Hilfe bittet. Und sie hatte sich aus dem Bereich meiner Hilfsmöglichkeiten begeben.

Es gab Schreibmaschinen mit englischen und kyrillischen Schrifttypen in meiner Zuflucht, aber ich entschloß mich, die Briefe mit der Hand zu schreiben. Der erste war an Breschnew gerichtet. In steifem offiziellem Russisch schrieb ich:

»Der Verrat an den Idealen der Oktoberrevolution, der in der UdSSR heute begangen wird, und der monströse Machtmißbrauch des KGB zwingen mich, meine Mitgliedschaft in der KPdSU niederzulegen, was ich Ihnen hiermit förmlich mitteile.

Ich möchte Sie ebenso davon unterrichten, daß ich nicht vorhabe, von meinem Posten als stellvertretender Generalsekretär bei der Uno zurückzutreten, bevor gewisse Fragen, die meine Familie betreffen, geklärt sind. Ich füge zu diesem Thema gesondert einen Brief bei. Ich erwarte hierzu eine offizielle Antwort der UdSSR-Botschaft an die Uno.«

Die Sowjets verlangten von der US-Regierung als erstes, mit mir sprechen zu können. Mein sehnlichster Wunsch - die Sowjets überhaupt nicht mehr zu treffen - war unerfüllbar. Solange ich ein Sowjetbürger war, so sagte mir mein Rechtsanwalt Ernest Gross (er war früher selber US-Vertreter bei der Uno gewesen), hatten die Vertreter meiner Regierung das Recht, sich persönlich zu überzeugen, daß es mir gutging und ich nicht unter Zwang handelte.

Das Treffen fand am Sonntag im Büro des Anwalts Gross statt. Um 20.15 Uhr rief ein Agent aus der Halle an und teilte mit, daß Dobrynin und Trojanowski, der Vertreter Moskaus in Washington und der bei der Uno, auf dem Weg zu uns waren. Gross, Mark Garrison, ein Sowjet-Spezialist aus dem State Department, der als Beobachter auftrat, und ich setzten uns an einen Tisch.

Als Dobrynin und Trojanowski eintraten, spürte ich die große Anspannung hinter ihrer äußerlich freundlichen Fassade zu bemerken. Sie streckten ihre Hände zum Gruß aus, aber ihre Augen waren hart.

Beide waren erfahrene Profis, und so fanden sie leicht in ihre Rolle der offiziellen Persönlichkeiten, der gewieften Unterhändler in einer Situation, wo jegliche Anzeichen menschlicher Gefühle ihre Verhandlungsposition geschwächt hätten. Als Ernest Gross das »Problem« darstellte, meiner Familie Sicherheiten zu bieten, wie ich es in meinen Briefen an Breschnew und Trojanowski gefordert hatte, taten sie sehr erstaunt. Sie gaben vor, die Briefe nicht bekommen zu haben.

Ich wiederholte fast genau die Worte, die ich in meinem Brief an Trojanowski verwendet hatte, aber sobald ich auf die Garantien für Lina und meine Familie zu sprechen kam, unterbrach mich Dobrynin. »Übrigens haben wir sie gerade verabschiedet.« »Ja«, fügte Trojanowski hinzu, »sie läßt Sie grüßen.«

Ich war wie vor den Kopf geschlagen, stammelte etwas Lächerliches. »Das ist ganz falsch ... Ich bin nicht einverstanden ... Zwei Botschafter, die meine Frau verabschieden ...« Eine beängstigende Vorstellung drängte sich mir auf: Lina, wie sie, wahrscheinlich betäubt, von diesen beiden Männern festgehalten und von KGB-Wächtern umzingelt, auf die Aeroflot-Maschine gebracht wird, mit der ich hätte fliegen sollen.

Ich versuchte mich wieder zu fangen, zurück auf die schriftlichen Garantien für meine Familie zu kommen. Dobrynin jedoch schlug eine andere Taktik ein. »Wir beide kennen Schewtschenko seit fünfzehn bis zwanzig Jahren«, sagte er zu Gross auf englisch. »Er genoß das vollständige Vertrauen der sowjetischen Regierung, der Führung des sowjetischen Außenministeriums und unser Vertrauen als Kollege in der täglichen Arbeit.«

Dann wandte er sich an mich. Indem er das vertraute »Du«, das russische Freunde untereinander gebrauchen, verwendete, zeigte er seine Besorgnis um mich, sein Erstaunen über meine Handlung. »Arkadij, wir kennen uns jetzt so viele Jahre. Ich glaube nicht, daß du alle diese Jahre gegen deine Überzeugung gehandelt hast ... Wie ist das zu erklären?«

»Ich war ein Idiot«, schoß ich heraus, »der an Idiotien glaubte.« Die Heuchelei in Dobrynins Frage war uns dreien zur Genüge bekannt. Wir wußten, daß Millionen Sowjetbürger ihre wahren Gefühle gegenüber der Partei und Politik verbergen. Ich wußte, daß viele Beamte - in Partei, Regierung, sogar im KGB - abweichende Meinungen über Jahre, manchmal ihr Leben lang, verbargen. Jeder, der verrückt genug war, solchen Gedanken Ausdruck zu verleihen, riskierte nicht nur seine Stellung und seine Privilegien, sondern vielleicht sogar sein Leben. Es war die zweite Haut für die meisten Sowjets, und ich war da keine Ausnahme. Drobynin und Trojanowski wußten das alles noch besser als ich.

»Herr Gross«, sagte ich auf englisch, »ich will diese beleidigende Unterhaltung nicht fortführen.« Zu Dobrynin und Trojanowski sagte ich das gleiche auf russisch: »Schluß mit dem Gerede.«

»Reg dich nicht auf. Dafür gibt es keinen Grund«, beschwichtigte Dobrynin, »laß uns reden, laß uns reden.«

Aber ich hatte es satt und stolperte in wilder Wut hinüber zu Gross'' Privatbüro. Ich versuchte, meine Fassung wiederzugewinnen, aber vergebens. Die Unterhaltung im Konferenzraum zog sich ohne mich noch eine halbe Stunde hin, aber sie führte zu nichts. Dobrynin und Trojanowski wiederholten ihre Sorge um mein Wohlbefinden und ihre Unfähigkeit, meine Entscheidung nachvollziehen zu können. Gross drängte wieder zum geschäftlichen Teil: den Sicherheitsgarantien. Die Sowjets weigerten sich, die Endgültigkeit meines Entschlusses anzuerkennen oder über meine Forderung über die Zukunft meiner Familie zu verhandeln.

»Sowjetbürger und Waldheim-Vertrauter bei der Uno setzt sich ab« lautete die Schlagzeile der »New York Times« am 11. April. Die Journalisten hielten es für einen der größten Coups des amerikanischen Geheimdienstes.

Ende

1972 nach der Unterzeichnung des Salt-I-Abkommens.Leonid Kutakow, ehemaliger Rektor des Moskauer Staatsinstituts fürInternationale Beziehungen.1978 bei einer Sitzung des Anti-Apartheid-Ausschusses der Uno.»Sowjetbürger und Waldheim-Mitarbeiter setzt sich bei der Uno ab«.

Arkadij Schewtschenko
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