Moskau: »Wir haben durchgehalten«
Fahnen wehten auf dem Roten Platz, und der Generalsekretär, auf sieben Meter Länge vergrößert, winkte den Gästen von riesigen Plakatwänden mit erhobenem Arm entgegen.
Partei- und Regierungsvertreter aus 104 Ländern waren nach Moskau gekommen, als am Mittwoch vergangener Woche im Kongreß-Palast des Kreml Leonid Breschnew seine Geburtstagsrede für den Sowjetstaat hielt: Die Oktoberrevolution sei vor 60 Jahren »der Anfang des Weges« gewesen, der »der ganzen Menschheit beschieden ist«, las der Staatschef, von Applaus begleitet, vom Blatt.
»Wir haben durchgehalten«, rief Breschnew dann in den Saal, der Beifall schwoll an. »Wir haben gesiegt«, steigerte er, und die 6000 Zuhörer klatschten tosend Beifall.
Mit ihrem Oktoberfest, das am Montag in der Militärparade auf dem Roten Platz gipfelt, wollten die Sowjet-Führer ein neues, gewandeltes Bild von der sozialistischen Supermacht vermitteln: In den Reden der Funktionäre wurde der Sowjet-Sozialismus als so weit fortgeschritten dargestellt, daß mit der neuen Staatsverfassung der Übergang zum Kommunismus beginne. Auch gänzlich neue weltpolitische Perspektiven taten sich auf, als Breschnew vorschlug, sämtliche Nuklearwaffen auf der Welt zu vernichten.
Das »sozialistische Weltsystem«, so Breschnew, werde von der »internationalistischen Politik« des Kreml gesteuert und von den Genossen in aller Welt solidarisch getragen. Abweichler liefen Gefahr, »das Haar zu behalten, aber dafür den Kopf zu verlieren
Doch ideologischen Gesichtsverlust erlitten beim großen Oktober-Jubiläum die Kreml-Führer selbst. Was auf Einheit getrimmt worden war, entwickelte sich zu offenem Krach. Erstmals seit 1961, als der chinesische Regierungschef Tschou En-lai seinen Moskau-Besuch abbrach und so den Bruch mit den Sowjets vollzog, kam es zu einem offenen Eklat -- nun mit den Eurokommunisten: Die Sowjets versuchten, deren Plädoyer für den eigenen demokratischen Weg zu verhindern und die KP-Chefs Spaniens und Italiens zu isolieren. Schon die Festvorbereitungen ließen Schlimmes ahnen. Wichtige Alt-Kämpfer wie etwa Fidel Castro oder Tito kamen überhaupt nicht. Auch Georges Marchais, Chef der zweitgrößten West-KP« wollte sich »wegen der aktuellen innenpolitischen Schwierigkeiten nicht gestatten, für eine Woche ins Ausland zu fahren«.
Unerwünscht war dagegen der spanische KP-Chef Santiago Carrillo. Er hatte im Frühjahr in seinem Bestseller »Eurokommunismus« und Staat« einen eigenen, Demokratie und Pluralismus versprechenden Weg empfohlen -- und darüber hinaus die Sowjet-Union als unsozialistisch und rückständig kritisiert. Seither bemühten sich die Kreml-Ideologen, Carrillos Buch als »eskalierenden Anti-Sowjetismus« darzustellen und Carrillo als einen von seiner eigenen Partei isolierten Abtrünnigen abzutun, die KP Spaniens hingegen als weiterhin linientreu zu feiern. Die Einladung zum Moskauer Revolutionsfest, die dann im Madrider Parteisekretariat eintraf, galt nur der Partei und ihrer Präsidentin Dolores lbárruri. Von Carrillo kein Wort.
Die Spanier hingegen wollten nur mit Carrillo nach Moskau. »Die Mehrheit der KP-Mitglieder hat ein zärtliches Verhältnis zum Sowjetvolk«, sagte ein Redakteur der Parteizeitung »Mundo Obrero«; für die spanischen Kommunisten bleibe »die Oktoberrevolution ein Schlüsselerlebnis«, zu deren Geburtstag niemand anders als Parteichef Carrillo fahren müsse. Vor die Wahl gestellt, entweder gar keine Spanier oder aber Spanier mit Carrillo empfangen zu müssen, entschieden sich die Kreml-Ideologen fürs Verhandeln.
Ende August nahm der sowjetische Spanien-Botschafter Bogomolow die Premiere des seit 38 Jahren in Spanien verbotenen Revolutionsfilms »Panzerkreuzer Potemkin« zum Anlaß, vor dem rasch herbeigeholten Presse-Photographen Carrillos Hand zu schütteln.
Am 12. September traf Wladimir Perzow, Spanien-Experte in der internationalen Abteilung des Moskauer ZK« den abtrünnigen Carrillo in Madrid -- als Mitglied einer sowjetischen Kulturdelegation getarnt. Er empfahl dem Generalsekretär, wenigstens optisch Annäherung an Moskau zu zeigen.
Mitte Oktober schickten die Sowjets zusammen mit Perzow sogar den Chefredakteur der »Prawda«, Wiktor Afanasjew, nach Madrid. »Wir sind nicht gekommen, um zu diskutieren«, meinte Afanasjew bei seiner Ankunft, »wir wollen die Beziehungen mit den spanischen Kommunisten stärken, die eine wichtige, unverzichtbare Kraft sind.« Nach dreistündigen Verhandlungen akzeptierten die Sowjets Carrillo als Delegationsleiter und Festredner, wünschten aber, daß auch die Sowjet-Freundin Dolores Ibárruri die spanische KP offiziell repräsentiere.
Um das Sowjetvolk an die Ankunft des soeben noch verfluchten Spaniers zu gewöhnen, schrieb Afanasjew noch vor der Feier einen großen Artikel über das heutige Spanien in der »Prawda«. Alles schien für einen friedlichen Ablauf des Oktoberfestes geregelt.
Als dann Carrillo -- zwei Tage nach der Ibárruri -- am Mittwochabend in Moskau landete und von Perzow mit dem Wagen abgeholt wurde, mußte er gleich sein Vortragspapier abgeben. Carrillo.« Man hatte mich um den Text gebeten, um ihn zu übersetzen. Bis zum folgenden Mittag habe ich geglaubt, daß ich meine Rede halte.«
Doch am Donnerstagmittag wurde auch Carrillo klar, »daß einige sowjetische Führer sich entschlossen hatten, meine Rede zu verhindern, weil sie in mir einen Agenten des Imperialismus sehen«. Der spanische Parteichef mußte sich im Kongreß-Palast in die letzte Reihe setzen, derweil vorne unter den Ehrengästen Dolores Ibárruri und der orthodoxe Portugiese Cunhal thronten.
Zum spektakulären Hinauswurf Carrillos aus der Rednerliste entschlossen sich die Sowjets, nachdem der Generalsekretär der KP Italiens, Enrico Berlinguer, seine Rede -- per Radio und Fernsehen simultan übertragen -- für ein eurokommunistisches Plädoyer genutzt hatte.
258 Millionen Sowjetbürger konnten hören, was sie von den eigenen Kommunisten noch nie vernommen hatten: Die KPI kämpfe für »eine neue sozialistische Gesellschaft, die alle persönlichen und kollektiven, bürgerlichen und religiösen Freiheiten garantiert«, sie sei für die »Existenz mehrerer Parteien, den Pluralismus im sozialen, kulturellen und ideellen Leben«.
Berlinguers kühl und leise abgelesene Rede löste bei den orthodoxen Genossen im Kongreß-Palast die Befürchtung aus, Carrillo werde den Euro-Klang noch weiter steigern und gar zur Kritik der UdSSR ausholen -- im Zentrum des Marxismus-Leninismus, vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein für die Sowjets unerhörter Frevel. Gesichtsverlust war demgegenüber das weitaus kleinere Übel.
Bevor Carrillo am Freitag Moskau wieder verließ, um ab 14. November als erster westeuropäischer KP-Chef die USA zu bereisen, besuchte er den Moskauer Klub der Exil-Spanier »Sdanowa«. Dort sagte er in Anspielung auf das berühmte Stalin-Wort über Hitler und das deutsche Volk: »Die Männer vergehen, die Führer vergehen -- die Sowjet-Union und die Kommunistischen Parteien bleiben. Deswegen sind wir hier, deswegen werden wir tausendundeinmal nach Moskau zurückkommen.«
Von solcher Vergänglichkeit möchte Leonid Breschnew nichts wissen. Der Partei-, Staats- und Armeechef gestattete es, daß er als Weltkrieg-lI-Oberst Breschnew jetzt erstmals in einem Spielfilm dargestellt wird.