Motiv einer Drohung
(Nr. 52/1976, Kanzlerwahl)
Ihr vermeintlich wohlinformierter Berichterstatter sieht offenbar die Welt zu einfach, wenn er meint, ich habe Helmut Schmidt gedroht, ihn nicht zum Kanzler zu wählen, weil ich »empört darüber war, daß Schmidt mich auch diesmal nicht zu Höherem berufen hatte«. Über diese Tatsache meiner Drohung wurde inzwischen in vielen achtbaren Zeitungen berichtet -- wiewohl von mir kein Deut an Information gekommen ist.
Um sicherzustellen, daß auch über das Motiv meiner Drohung wahrheitsgemäß berichtet wird, bitte ich Sie, zur Kenntnis zu nehmen, daß es Politiker gibt, die sich ein Gefühl für Gerechtigkeit, vertrauensvolle freundschaftliche Zusammenarbeit, innerparteiliche Demokratie und politische Moral erhalten haben. Mir hat ein Bürger meines Wahlkreises vor wenigen Tagen geschrieben: »Wer sich mit List und Tücke, mit Heuchelei und Tricks, mit Unterwürfigkeit und Anpassung in der politischen Arena betätigt und durchsetzt, wird als Erfolgsmensch geachtet.«
Erfolgsmensch in diesem Sinne möchte ich beim besten Willen nicht sein. Aus diesem Grunde ist auch Ihr beleidigender Hinweis verfehlt, daß ich einer »langen Einzelbehandlung durch Parteichef Brandt und Fraktionsführer Herbert Wehner« unterzogen worden sei. Nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich einer »Behandlung« nicht bedarf, sondern schon immer mit Überzeugung so abgestimmt habe, wie ich es unter freiwilliger Beachtung der Grundsätze der Solidarität für richtig gehalten habe -- was einschließt, daß ich auch schon anders als die Mehrheit meiner Fraktion abgestimmt habe. Davon könnte Herbert Wehner ein Liedehen singen. Übrigens: Schade, daß Sie mein Gespräch mit Parteichef Brandt nicht mitgehört haben. Sie würden dann im entferntesten nicht auf den Gedanken gekommen sein, das Wort »Einzelbehandlung« zu verwenden.
Ein abschließender Rat: Richten Sie bitte zukünftig Ihre Berichterstattung vermehrt darauf aus, die politische Moral wieder zu heben. Dies ist dringend notwendig. Bringen Sie auch ab und zu einmal den Mut auf, Politikern, die »heilige Kühe« angreifen, nicht gleich egoistische Motive zu unterstellen, sondern ihnen ein Lob zukommen zu lassen. Sie haben es verdient.
Bonn DR. ADOLF MÜLLER-EMMERT MdB/SPD