NAHER OSTEN / KRIEGSGEFAHR Mozarts Neunte
Am letzten Mittwoch übergab Uno-Generalsekretär U Thant dem Weltsicherheitsrat einen »Sonderbericht«. Der vom Rat vor anderthalb Jahren verfügte Waffenstillstand im Nahen Osten sei, so U Thant, »im Gebiet des Suezkanals fast völlig unwirksam geworden«. Am Kanal herrsche der Zustand eines »aktiven Krieges«.
Am letzten Donnerstag erwies sich, daß die schon düstere Botschaft des Uno-Chefs noch nicht düster genug gewesen war: Ägyptens Regierungssprecher Sajjat erklärte, sein Land fühle sich von sofort an nicht mehr an den Waffenstillstand am Suezkanal gebunden. Außenamts-Staatssekretär Salah Gohar teilte dies offiziell dem Chef der Uno-Beobachter, General Odd Bull, mit.
22 Monate nach dem Sechs-Tage-Krieg, zur gleichen Zeit, da in New York die Großmächte über einen möglichen Frieden verhandeln, ist im Nahen Osten wieder der Schießkrieg ausgebrochen.
Seit zwei Wochen liefern sich Israelis und Araber tagtäglich Gefechte: am Suezkanal ebenso wie an der Waffenstillstandslinie zu Rest-Jordanien. Und es sind nicht mehr bloße Guerilla-Geplänkel palästinensischer Partisanen oder begrenzte Gegenschläge der Israelis.
Am Suezkanal setzen bei Nacht ägyptische Spezial-Kommandos, ausgebildet für den Kampf hinter den Linien des Feindes, auf das von Israel besetzte Territorium über. Durch den Einsatz dieser Kommandos will Ägyptens Staatschef Nasser mit den Palästina-Partisanen gleichziehen, an die er -- in den Augen der Araber -- viel von seinem Ansehen verloren hat.
Am Kanal beschießen außerdem etwa tausend ägyptische Geschütze täglich mehrere Stunden lang das befestigte Ost-Ufer. Die Kairoer Zeitung »Al-Gumhurija« schwelgte: »Unser Bombardement klingt wie Mozarts neunte Symphonie.«
Granaten für zwei Millionen Mark pro Tag verpulvern die Ägypter. Doch der Aufwand lohnt sich kaum -- Israels Maginot-Linie am Ostufer des Kanals hält selbst Volltreff er schwerster Kaliber aus. Das einst dichtbesiedelte ägyptische Westufer zwischen Suez und El-Kantara aber ist durch die Gegen-Bombardements der Israelis zu verwüstetem Niemandsland geworden.
Israels Vergeltungsschläge gegen Jordanien nehmen immer mehr strategischen Charakter an: Letzte Woche zerstörten israelische Jets zwei Frühwarn-Radaranlagen, die Ägypten als Ersatz für seine verlorenen Sinai-Warnsysteme in Südjordanien installiert hatte und mit denen die Araber den gesamten israelischen Flugverkehr im Süden des Landes beobachten konnten.
Zwar prophezeite Israels Verteidigungsminister Mosche Dajan: »In absehbarer Zukunft werden die Araber keinen wirksamen Angriff starten können.« Und Nasser bestätigte den Israelis in einer Ansprache vor ungeduldigen Ägypter-Offizieren: »Ihr fragt, wann unser Revanche-Krieg kommt. Ich antworte euch klipp und klar: erst, wenn wir bereit sein werden. Keinen Tag zu früh, aber auch keine Stunde zu spät.«
Kairo sei jedenfalls felsenfest entschlossen, so schrieb Nassers Vertrauter Hassanein Haikal, Chefredakteur der offiziösen Tageszeitung »Al Ahram«, sich für »die einzige ehrenhafte Lösung«, den Krieg, zu rüsten. Für Ägypten sei es schon ein Sieg, »wenn es gelänge, 20 000 Israelis zu töten und die israelischen Truppen zumindest einige Kilometer vom Ostufer des Suezkanals zurückzuwerfen«.
An einen Erfolg der New Yorker Gespräche der vier Großmächte scheinen beide Seiten nicht zu glauben. Israels Ministerpräsident, Frau Golda Meir: »Niemand half uns im Juni 1967, den Krieg zu vermeiden. Niemand darf uns jetzt ein Friedensdiktat aufzwingen.«
Ein israelischer Regierungssprecher höhnte, die vier hätten ihre Gespräche nur deshalb mit strikter Geheimhaltung umgeben, »weil sie nichts zu verbergen haben«.
Und auch die Araber, die sich ursprünglich Vorteile von den Vierer-Beratungen erhofft hatten, rücken nun wieder von ihren eigenen Vorschlägen ab.
Zunächst hatte Jordaniens König Hussein nach einem Besuch bei US-Präsident Nixon die Israelis in diplomatische Verlegenheit gebracht: Er präsentierte ein Sechs-Punkte-Programm, das auf der Resolution des Sicherheitsrats vom November 1967 beruhte und die Araber-Verluste des Sechs-Tage-Krieges friedlich wieder wettmachen sollte.
Doch kaum hatte Hussein gesprochen, dementierte Ägyptens »Al Ahram«, daß der König im Einverständnis mit Nasser gehandelt hätte »Al Ahram": »Hussein sprach nicht im Namen Ägyptens.«
Husseins eigener Premier, Rifai, erklärte sogar, der König habe überhaupt keine neuen Vorschläge gemacht, sondern sich nur zur seinerzeitigen Uno-Resolution bekannt.
Unterdessen bereiten sich beide Seiten an der Waffenstillstandsfront auf einen langen Grabenkrieg vor. Ägypten stellt sich darauf ein, daß eine Wiedereröffnung des Suezkanals noch auf Jahre hinaus unwahrscheinlich bleibt: Kairo plant eine 320 Kilometer lange Pipeline (Kosten: 600 Millionen Mark), die jährlich 50 Millionen Tonnen Erdöl -- außerhalb der Reichweite israelischer Geschütze -- vom Roten zum Mittelmeer befördern soll. Zwischen Suezkanal und dem Nil mauern die Ägypter an einem dreigestaffelten Verteidigungswall.
Syrien hat die strategisch wichtigen Golan-Höhen abgeschrieben und errichtet unter sowjetischer Anleitung 30 Kilometer vor der Hauptstadt Damaskus eine Befestigungslinie.
Israels einzige Werft in Haifa hat Kriegsschiffe von knapp 4000 Tonnen auf Kiel gelegt. Sie sollen mit Torpedorohren« Flak und Wasserbombenwerfern bestückt werden und ab 1972 im Roten Meer bis zu dessen Südausgang patrouillieren.
Die Regierung in Jerusalem prüft gegenwärtig auch Pläne einer Massen-Besiedlung der besetzten Gebiete: In der Sinai-Wüste haben Forschergruppen Süßwasser-Reserven und Bodenschätze aufgespürt. Auf den Golan-Höhen entstanden fünf Wehrsiedlungen, weitere sind geplant. Am 2814 Meter hoben, einst syrischen Hermon-Berg richteten die Israelis ein Wintersport-Zentrum ein. Im Jordantal will die Nachal ("Noar Chaluzi Lochem« -- kämpfende Pionierjugend) eine Kette von Wehrdörfern bauen.
Auf die täglichen Schießübungen der Ägypter am Kanal wollen die Israelis noch schärfer reagieren.
Mit einem Kostenaufwand von acht Millionen Mark haben sie bei Scharm el-Scheich am Südzipfel der Sinai-Halbinsel einen neuen Flugplatz gebaut -- eine der größten militärischen Rollbahnen im Nahen Osten. Die dort stationierten zwei Staffeln Mirage-Jets können die entferntesten Winkel Ägyptens erreichen -- auch den Assuan-Damm.