JUGOSLAWIEN / PARTEI Müde Helden
Der -- nach Albaniens Enver Hodscha -- am längsten regierende Kommunist Osteuropas, Jugoslawiens Partei- und Staatschef Tito, stotterte, als er die Tagesordnung vorlas: Sieben Stunden lang tagte das Zentralkomitee des »Bundes der Kommunisten« am 16. Juli, aber nur zehn der 155 ZK-Mitglieder ergriffen das Wort.
Die anderen tranken Sprudelwasser aus der Serbenquelle »Knez Milos« und räkelten sich in Stahlrohrsesseln landeseigener Produktion -- gelangweilt, obwohl es um ihre Posten ging: Das Zentralkomitee beschloß die Abschaffung des Zentralkomitees.
Jugoslawiens rote Helden sind müde geworden. Seit acht Jahren stagniert die Mitgliederzahl der »Bund« getauften Partei. Im letzten Jahr sank die Zahl der Partei-Kommunisten sogar um 32 518. Jeder dritte warf von sich aus das Parteibuch hin.
Eines händigte ein Zagreber Genosse seinem Taxichauffeur als Pfand für eine unbezahlt gebliebene Stadtfahrt aus und ließ nichts mehr von sich hören. Ein anderes Parteibuch meldete das Lokaiblatt »Narodne Novine« in Nisch als Fundsache: Der rote Mitgliederausweis steckte zusammen mit einem orthodoxen Kirchenkalender in einer herrenlosen Brieftasche.
Mitglied des Kommunisten-Bundes ist noch immer jeder elfte erwachsene Jugoslawe. Aber nur sieben Prozent der Bevölkerung halten laut Umfrage die Parteipolitik für richtig. 94,5 Prozent der in Regierungsauftrag Befragten waren davon überzeugt, die Parteimitgliedschaft nutze der persönlichen Karriere. Dennoch sank die Zahl der jugendlichen Parteimitglieder in fünf Jahren um die Hälfte, der Anteil der Arbeiter -- insgesamt ein Drittel -- sinkt Jahr für Jahr um ein Prozent.
Nur jeder sechste Kommunist abonniert das Partei-Zentralorgan »Komunist«, in Serbien bestellt nur jeder hundertste theoretisches Informationsmaterial. Die ideologische Broschüre »Marxismus und Philosophie« des Jugoslawen Dragutin Lekovic, in Frankreich gedruckt, mußte das Belgrader »Institut für die Arbeiterbewegung« aus dem Französischen rückübersetzen lassen: Zum Druck der Studie hatte sich kein jugoslawischer Verlag bereitgefunden. Besser als Karl Marx verkauft sich auch in den Schluchten des Balkan Karl May.
Und die rote Moral sinkt: Wegen Eintreffen des Wanderkinos brach die Partei in Olov Ihre Versammlung ab. In Mladenovac fiel der Zahlabend wegen des Karfreitags aus. Von 244 kommunistischen Ökonomie-Studenten in Neu-Belgrad erschienen nur zehn zur Zellensitzung. An der Elektrotechnischen Fakultät zu Sarajewo trat das Parteikomitee dreimal vergeblich zusammen: Es blieb mangels Beteiligung beschlußunfähig.
Lokalblatt »Svetlost« In Kragujevac erklärte den Besucherschwund so: »Wenn bei uns niemand kritisiert wird, kommt auch keiner.«
Andererseits mußte die Arbeiterin Rada Rajic in Kumanovo auf einen Bescheid über ihren Mitgliedsantrag sieben Monate lang warten -- »wegen Überfüllung«. Der Sekretär der Parteizeile am Gericht von Novi Sad vertagte die Aufnahme neuer Mitglieder, weil ihm jemand die Aktentasche gestohlen hatte -- mit den Parteistatuten, deren Bestimmungen ihm entfallen waren,
»Das Parteiprogramm«, tadelte Jugoslawiens größte Zeitung »Vecernje Novosti« (Auflage: 329 000), »halten manche für ein Unterhaltungsprogramm.« In Gornja Zenica kritisierten betrunkene Parteimitglieder ernste Mängel an nüchtern gebliebenen Genossen: »Fehlendes zwischenmenschliches Verhalten.«
Die siechende Partei versucht sich zu regenerieren. Parteisekretär Todorovic empfahl auf der letzten Tagung des sich selbst entmachtenden Zentralkomitees den Genossen, sie sollten »sich vollkommen von den Staatsangelegenheiten, insbesondere auf wirtschaftlichem Gebiet, trennen«.
Wie in der Tschechoslowakei wollen aufgeklärte Kommunisten in Jugoslawien Partei und Staat künftig auseinanderhalten: Die Arbeiterschaft hat sich in betrieblichen Selbstverwaltungsorganen eigene Instrumente geschaffen, junge Technokraten wollen nicht mehr nur Vollzugsgehilfen der Polit-Funktionäre sein. Intellektuelle liefern ihnen die Ideologie:
»Jede soziale Gruppe bemüht sich, möglichst viel politischen Einfluß zu gewinnen«, proklamierte der serbische Professor Stevan Vracar und warf die Frage auf: »Wäre es nicht natürlicher, zwei Parteien zu haben, die beide für den Sozialismus kämpfen?«
Über die Forderung nach einer sozialistischen Oppositionspartei soll Altsozialist Tito noch gewitzelt haben: »Daraus wird nichts. Alle gehen In die zweite Partei, und dann haben wir wieder nur eine.«
Der Aufstand sozialistischer Studenten im Juni jedoch, der die Partei aus ihrem Funktionärsschlaf schreckte, ließ Tito handeln. Ohne Rückfrage beim Zentralkomitee schlug er sich auf die Seite der Rebellen und versprach einen neuen Sozialismus.
Der war nicht so neu, so demokratisch, wie ihn sich die streikenden Studenten wünschten. Zunächst begann Tito im alten Stil zu säubern: Die Parteiorganisationen an der Philosophischen und der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Belgrader Universität -- im Juni von Studentenrebellen hoffnungsvoll in »Rote Karl-Marx-Universität« umgetauft -- wurden aufgelöst, weil sie die Studenten beim Aufstand unterstützt hatten.
Kommunistische Professoren und Studenten, so erklärte Titos Nachrichtenagentur »Tanjug«, hätten versucht, »mittels ihrer ideologischen Positionen und einer politischen Aktion innerhalb der Partei eine Fraktion zu bilden und ein Mehrparteiensystem einzuführen«.
Tito holte den vor zwei Jahren abgewählten Parteisekretär Vlahovic zurück und setzte ihn auf der ZK-Tagung an den Vorstandstisch, als sei auch das Parteistatut schon abgeschafft. Vlahovic wetterte gegen eine Politik, die »zunächst als ideelle Strömung auftaucht, allmählich zu einer politischen Kampagne wird und bei Unzufriedenen aller Schattierungen Beifall gefunden hat«.
Die Zagreber Studentenzeitschrift »Razlog« wurde verboten, weil sie der Partei die Führungsrolle bestritten und gleichfalls ein Mehrparteiensystem empfohlen hatte. Vier Professoren und ein Student, Mitarbeiter der neomarxistischen Zeitschrift »Praxis« -- die aus Geldmangel Inzwischen einging -, wurden aus der Staatspartei verstoßen. »Praxis« hatte, so lobte DDR-Staatsblatt »Neues Deutschland« den Ausschluß, »eine eigene Ideologische Plattform geschaffen, die man schlechthin als antisozialistisch bezeichnen muß«.
Die »Praxis«-nahe Opposition hatte bezweifelt, so Professor Supek, »daß der Mann an der Spitze alles weiß und vor allem alles besser weiß«.
Der Mann an der Spitze beschloß -- zum erstenmal in einer kommunistischen Partei -, die Parteigewalt des Zentralkomitees auf das Partei-Präsidium zu übertragen. Dieses Politbüro soll von 35 auf 50 Präsiden erweitert und fortan jedes Jahr wiedergewählt werden.
Parteisekretär Todorovic, der sich selbst für den Rückzug der Partei aus den Staatsangelegenheiten eingesetzt hatte, erläuterte jetzt, wer künftig führt. In den Vorbereitungsbericht für den nächsten Parteitag schrieb er:
»Es ist nicht nötig, daß dem Parteitag mehrere Referate unterbreitet werden. Es genügt, wenn allein Genosse Tito redet.«