TSCHECHOSLOWAKEI / WIRTSCHAFTS-LIBERALISIERUNG Mütterchen geht los
Wohlgefällig musterte der Gelehrte französische Wäsche italienische Schuhe, finnische Möbel und englische Anzüge in den Auslagen der Hamburger Einkaufsstraße Neuer Wall. »Das alles«, so der Prager Professor Ota Sik, 48, vor zwei Jahren zu seinen hanseatischen Gastgebern, »wollen wir auch haben,«
Der Direktor des ökonomischen Instituts der Prager Akademie der Wissenschaften ist Kommunist und Marktwirtschaftler zugleich. Jahrelang wurden seine Reformvorschläge von stalinistischen Funktionären boykottiert. Jetzt nimmt Ota Sik die tschechische Wirtschaftsliberalisierung selbst in die Hand.
In der vergangenen Woche wurde er stellvertretender Ministerpräsident der CSSR. Sik wird die Arbeit der Fachministerien für Industrie, Binnen- und Außenhandel überwachen und koordinieren. Prags neuer Premier Oldrich Cernik gab selbst das Startsignal. Die »völlig verfehlte Industrialisierungspolitik« der alten KP-Funktionäre. so erklärte Cernik, habe zu Preissteigerungen, Übergewicht der Schwerindustrie und unzureichender Konsumwirtschaft geführt.
Stalins Abgesandte hatten 1948 mit der proletarischen Revolution auch das sowjetische Wirtschaftskonzept an die Moldau exportiert. Die Tonnenstrategie, die der Georgier in den dreißiger Jahren für die damals noch rückständige Sowjet-Union entwickelt hatte, erwies sich für die Tschechoslowakei als Katastrophe.
Mit Mengenplanung konnte zwar der Agrarstaat Rußland eine Industrie aus dem Boden stampfen. Der hochindustrialisierten CSSR -- bereits 1937 standen die Tschechen mit ihrer Rohstahlproduktion an neunter Stelle in der Weitrangliste -- aber bescherte die Ideologie der Planzahlen nur immer mehr, aber keineswegs modernere Maschinen und Fabriken. Selbst die neusten Anlagen der tschechischen Industrie, so klagt Kritiker Sik in seinem Buch »Plan und Markt im Sozialismus«, »entsprechen keineswegs dem Weltstandard.
Prags Planfunktionäre ersetzten während der jüngsten zehn Jahre nur zehn Prozent der Maschinen und Fabriken durch rationellere Fertigungsanlagen. In den westlichen Industrieländern wurden in dem gleichen Zeitraum fast die gesamten Produktionsprogramme modernisiert. Allein in der tschechischen Metallindustrie sind fast 60 Prozent der Anlagen mehr als zehn Jahre alt. In Textilfabriken und Papiermühlen dienen mehr als die Hälfte aller Maschinen schon länger als 20 Jahre,
Die Uraltfabriken produzieren schlecht und ohne Rücksicht darauf, ob ihre Erzeugnisse Käufer finden. Allein im vergangenen Jahr fertigten tschechische Firmen Waren im Werte von fast drei Milliarden Mark, die nicht abgesetzt werden konnten.
Selbst Exportwaren wie Lastwagen der Tatra-Werke fielen häufig so schlecht aus, daß die Käufer revoltierten. So trafen sich vorletzte Woche in dem Ruhrstädtchen Dorsten mehr als 150 Tatra-Besitzer, um in Gegenwart des Rechtsanwaltes der Prager Außenhandelsfirma Motokov scharfe Kritik an der unzulänglichen Qualität der Fahrzeuge zu üben und Schadenersatz zu fordern.
Ein Berliner Transport-Unternehmer berichtete von seinem Fahrzeug: »Hier geht mal ein Mütterchen los, dort das ganze Getriebe. Ein anderer klagte, in seinen Tatra hätten in einem Jahr vier verschiedene Motoren eingebaut werden müssen.
Die Tschechen stammelten hilflos, immerhin sei die Export-Ausgabe des Tatra für den Westen noch »in 200 Punkten besser« als die Lkw, die nach Ostblock-Ländern ausgeführt werden.
Ota Sik, der einen Tatra-Pkw von zweieinhalb Litern fährt (Sik.« Ein flottes Auto"), ärgerte sich über die zahlreichen Fehlplanungen. Auf einer seiner Fahrten durch die Industriezentren entdeckte er einen Betrieb, der im Zeitalter der Fernheizung noch Großserien von Schornsteinfeger-Kugeln fertigte. Die handlichen Kehrwerkzeuge wurden im Fabrikhof auf Halde genommen.
Seit 1957 mühte sich Altkommunist Sik um ein Rezept gegen die Mißwirtschaft. Unabhängig von Rußland-Wirtschaftstheoretiker Liberman entdeckte er das Gewinnprinzip für die sozialistische Wirtschaft. Sik verkündete seine Ideen vor dem Zentralkomitee der kommunistischen Partei und schrieb Bücher und Aufsätze über den Markt in einer Planwirtschaft. die auch im Westen verlegt wurden.
Der nur 1,59 Meter große Professor ("In Deutschland nenne ich mich Otto"), der Maßanzüge und handgearbeitete Schuhe trägt, ließ sich gern zu Vorträgen nach Hamburg und Frankfurt einladen. Den Hamburger Ökonomen Professor Heinz-Dietrich Ortlieb, dessen Hamburgisches Welt-Wirtschafts-Archiv enge Kontakte zu tschechoslowakischen Marktforschern unterhält, bat Sik zum Gegenbesuch nach Prag.
Siks Rezept »Wir ermutigen die Leute, reich zu werden« schreckte die Wirtschafts-Stalinisten, für die jedes persönliche Gewinnstreben Sünde ist.
Wie bei den Kapitalisten, so fordert Sik, müsse auch in der CSSR die Chance, Profit zu machen, das Warensortiment und den Produktionsumfang bestimmen. Je rentabler ein Unternehmen wirtschafte, um so mehr verdienten die Arbeiter und der Direktor.
Bisher bekamen alle tschechischen Betriebe ohne Rücksicht auf ihre Rentabilität Investitionsgei der aus der Staatskasse. Künftig müssen sie das Geld von der Zentralbank leihen und jährlich mit sechs Prozent verzinsen. In eigener Regie sollen die Firmen auch entscheiden, welche Waren sie produzieren wollen. Sie müssen sich deshalb erstmalig nach den Wünschen der Kundschaft richten und Marktforschung betreiben, wenn sie nicht auf Ladenhütern sitzenbleiben wollen.
»Wir bauen«, so klagte Wirtschaftsexperte Sik, »78 Prozent aller auf der Welt bekannten Maschinentypen.« Nun soll sich die Industrie auf wenige attraktive Maschinen spezialisieren.
In den staatlichen Wirtschaftsplänen will der stellvertretende Ministerpräsident künftig nur noch langfristig festlegen, wieviel und in welchen Bereichen vorrangig investiert werden muß, damit der Wirtschaftsaufschwung garantiert ist.
Sik möchte die tschechische Wirtschaft für mehr Handel mit dem Westen fit machen. Sein Stellvertreter im Prager Institut für Ökonomie, Milan Horalek, der vergangene Woche an Siks Stelle die »Tschechoslowakischen Tage« in Frankfurt besuchte, bat besonders die Bundesrepublik, ihren Handel mit Prag »stärker zu liberalisieren«.
Erstmals seit Ablehnung der US-Marshallplan-Hilfe im Sommer 1947 will die CSSR jetzt auch amerikanische Dollar annehmen, um ihre Wirtschaft auf Welt-Niveau zu bringen.
Nach Westen erklärte Ministerpräsident Cernik vergangene Woche, Prag werde bei der Weltbank in Washington einen größeren Kredit beantragen. Und nach Osten vorsichtshalber: »Sofern an den Kredit keine politischen Bedingungen geknüpft werden.«