»Muß erst eine neue Kuba-Krise kommen?«
Ganze zehn Tage brauchten die Abgesandten aus Washington, aus Moskau und London, dann war das Abkommen ausgehandelt. Am 5. August wurde der Vertrag unterzeichnet. Schon zwei Monate später ratifizierte ihn der amerikanische Senat. Am 7. Oktober signierte der Präsident im Weißen Haus unter lebhaftem Applaus der geladenen Gäste die Ratifizierungs-Urkunde.
Es klingt wie die Utopie eines Friedensträumers, wie das Hirngespinst eines Entspannungsfreaks. Doch eine so wundersame westöstliche Einigung hat es tatsächlich gegeben - vor 20 Jahren.
In Rekordzeit ist 1963 der noch immer gültige Vertrag zustande gekommen, mit dem sich die beiden Supermächte und Großbritannien verpflichteten, auf Atomtests in der Erdatmosphäre, im Weltraum und unter Wasser künftig zu verzichten. Offizielle Bezeichnung: »Partial Test Ban Treaty«.
Wie war das möglich? Woher dieser Erfolg, der die Periode der Entspannung zwischen den Supermächten eröffnete, obwohl Amerikaner und Sowjets noch wenige Monate zuvor im Streit um Chruschtschows Raketen auf Kuba bis an den Rand des atomaren Abgrunds gegangen waren?
Gerade die Kuba-Krise vom Oktober 1962 brachte den Umschwung: Sie war allen Beteiligten, auch den Amerikanern, tief in die Knochen gefahren. Der Blick in die Höllenkluft des drohenden Atomkriegs hatte Präsident Kennedys Haltung verändert und ihn dazu bewogen, statt der Konfrontation mit Moskau die Verständigung zu suchen.
Weniger als ein halbes Jahr vor seiner Ermordung sprach John F. Kennedy in seiner Rede an der American University im Juni 1963 Worte, die sich im Zeichen Reagans nur noch wie das ferne Echo besserer Tage anhören: _____« Ich bin hierhergekommen, um das wichtigste Thema auf » _____« Erden zu diskutieren - den Frieden ... Zu viele von uns » _____« glauben, daß Frieden unmöglich ist, daß er irreal sei. » _____« Das ist eine gefährliche und defätistische Ansicht. Sie » _____« führt zu dem Schluß, daß der Krieg unvermeidlich ist; daß » _____« der Untergang der Menschheit besiegelt ist; daß wir in » _____« der Gewalt von Kräften sind, die wir nicht kontrollieren » _____« können. » _____« Wir dürfen diese Ansicht nicht akzeptieren. Unsere » _____« Probleme sind von Menschen gemacht. Deshalb können sie » _____« von Menschen gelöst werden ... »
Nach dem Kuba-Schock war auf beiden Seiten plötzlich da, was vorher fehlte: der aufrichtige politische Wille, Rüstungsabkommen zu erreichen, deren Bedingungen auch für die andere Seite akzeptabel sind. Der »Partial Test Ban Treaty«, der Atomversuche der Signatarmächte nur noch unter der Erde zuläßt, war entsprechend rasch perfekt, zumal es kein Problem gab, die Einhaltung des Vertrags durch die andere Seite zu überprüfen.
An Überprüfungsfragen - und am erbitterten Widerstand der Militärs beider Seiten - scheiterte damals Kennedys ursprünglicher Plan, einen vollständigen Stopp jedweder Atomtests zu vereinbaren. Trotz des Teilerfolgs von 1963 ging das Wettrüsten mittels unterirdischer Versuche ungehindert weiter.
Erst ein vollständiges Testverbot ("Comprehensive Test Ban") könnte auf die einfachste Art radikalen Wandel schaffen. Ohne Tests könnte man keine neuen Atomsprengköpfe und keine neuen Nuklearwaffen entwickeln. Kernwaffen-Versuche ohne Ausnahme zu unterbinden, hieße die Übel des Wettrüstens bei ihrer technischen Wurzel packen, hieße neue Waffenschübe im Keim ersticken.
Das ist der Grund, warum Wissenschaftler und Abrüstungsexperten angesichts der verfahrenen Verhandlungen in Genf immer dringlicher nach einem atomaren Versuchsstopp rufen oder wenigstens nach einem sofortigen Moratorium für solche Versuche.
Ein »Comprehensive Test Ban«, zwischen Ost und West beschlossen, wäre »das dramatischste Symbol für die Bereitschaft der großen Mächte, den Rüstungswettlauf zu beenden«, erklärt die angesehene »Vereinigung amerikanischer
Wissenschaftler« in Washington.
»Alle Gespräche über eine beiderseitige Verminderung der nuklearen Arsenale werden bloße Worte bleiben, solange nicht ein vollständiges Atomtest-Verbot ausgehandelt ist«, bekräftigt in London Lord Zuckerman, einst wissenschaftlicher Chefberater des britischen Premiers Harold Macmillan.
Die amerikanische »Freeze«-Bewegung fordert ausdrücklich den Stopp jeder Erprobung nuklearer Waffen. Auch in der deutschen Friedensbewegung spricht sich die überragende praktische wie symbolische Bedeutung herum, die ein solcher Schritt hätte: Testbann als Test für die Ehrlichkeit des Abrüstungswillens, den die Supermächte bis zum Überdruß bekunden.
Denn anders als vor zwanzig Jahren könnte ein vollständiges Versuchsverbot heute von den Supermächten wie von neutralem Boden aus lückenlos überwacht werden. Auch sehr schwache unterirdische Atomexplosionen im anderen Lager sind mit den heutigen Mitteln klar zu erkennen und von natürlichen Erdbeben zu unterscheiden.
Zu dieser weitreichenden Schlußfolgerung kommen drei westdeutsche Wissenschaftler in einer Arbeit, die der SPIEGEL im folgenden auszugsweise abdruckt: Hans-Peter Harjes, Professor für Geophysik an der Ruhr-Universität Bochum und Berater der Bundesregierung bei den Genfer Abrüstungsverhandlungen, Helmut Aichele, Leiter des Seismologischen Zentralobservatoriums Gräfenberg bei Erlangen, und der Diplom-Geophysiker Horst Rademacher haben den Beitrag für ein neues SPIEGEL-Buch verfaßt.
»Echte technische Überwachungsprobleme«, so Professor Harjes, »gibt es nicht mehr.« Es gibt nur vorgeschützte Verifikations-Schwierigkeiten, mit denen die Vertreter der Regierung Reagan operieren, um zu verbergen, daß sie den politischen Willen, ein Testbann-Abkommen mit der Sowjet-Union zu erreichen, ganz offensichtlich nicht besitzen.
Schuldhaft überlassen sie damit Moskau das Feld. Denn Moskau, das einer Nato-Legende zufolge nur durch Druck und Drohung an den Verhandlungstisch zu zwingen ist, bietet immer wieder Teststopp-Gespräche an. UdSSR-Botschafter Dobrynin im April in Washington: »Die Sowjet-Union ist bereit, die Verhandlungen wiederaufzunehmen, um den Entwurf (von 1978) für den Vertrag über ein vollständiges und generelles Verbot nuklearer Tests fertigzustellen.«
»Muß erst eine neue Kuba-Krise kommen«, fragt der amerikanische Nobelpreisträger Linus Pauling, »ehe die Vernunft wiedererwacht, die nach dem ersten Beinahe-Desaster aus John F. Kennedy zu sprechen begann?«