Zur Ausgabe
Artikel 36 / 77

WELTJUGENDTREFFEN Mutter verteidigen

Das Weltjugendtreffen in Moskau geriet zum Polizei-Festival. *
aus DER SPIEGEL 32/1985

In Moskau herrschte vorige Woche der Ausnahmezustand. Besucher aus der Provinz durften ohne Sonderausweis die Stadt nicht betreten, der Flugverkehr aus dem Ausland war eingeschränkt.

Schon im Juni durfte eine mongolische Studentin bei sich nicht ihre Mutter einquartieren, die während der Schluß-Examina das Baby betreuen sollte. Nun muß die Kandidatin bis zum nächsten

Prüfungstermin warten, der ist in einem Jahr.

Tausende uniformierte, marschierende Militärkolonnen und amtliche Eckensteher in flotten, beigefarbenen Joppen und blauen Hosen bestimmten neben fahnenschwenkenden, singenden jungen Leuten das Stadtbild: Weltjugendfestival. 30000 Jugendliche fast aller Länder trafen sich, um sich von der Fortschrittlichkeit der Sowjet-Union zu überzeugen.

Auf »Meetings« und Tribunalen verurteilten Jugendliche Washingtons Einmischung in Nicaragua, Südafrikas Rassenpolitik und die »zunehmende Militarisierung des gesellschaftlichen Lebens der BRD«.

Doch nicht nur moskautreue Jugendverbände, mittelamerikanische Guerrilleros oder afghanische Soldaten reisten an, etwa eine Rasija Sulmaidschon, die 200 Kämpfer kommandiert, sondern auch schrille und schräge Typen aus Skandinavien, westdeutsche Christen, holländische Homosexuelle und italienische Euro-Kommunisten.

Im Gepäck hatten sie trotz penibler Zollkontrollen, so die Agentur »Tass«, »subversives Material": Bibeln in russischer Sprache, Buttons ("Ich unterstütze die Dissidentin Irina Griwnina") und T-Shirts mit Aufschriften wie »Amerikaner Hände weg von Nicaragua, Sowjets raus aus Afghanistan«.

Wichtiger als möglicher ideologischer Schaden war der KPdSU der Versuch, die linken Jugendlichen von ihrem außenpolitischen Kurs zu überzeugen und zudem den eigenen Bürgern zu demonstrieren, die Jugend der Welt stehe fest hinter Moskaus Politik.

Weil Delegationen aus Israel und von der PLO kamen, Marokkaner und Polisario, die ihre Meinungsverschiedenheiten sonst mit Waffen regeln, waren die Hotels abgeriegelt, so daß Delegierte Schwierigkeiten hatten, einander zu besuchen.

Die Klubs der westlichen Delegationen wurden von Polizei und Agenten des Komitees für Staatssicherheit (KGB) sorgsam beschattet. Auch in den Innenräumen saßen auffällig unauffällige Damen und Herren herum, die Gastgeber und Besucher im Auge behielten. Ein Ostblock-Journalist: »Ein Festival des KGB.«

Die Gäste-Betreuer waren sorgfältig ausgewählt und geschult worden. Dolmetscher sollten beim Eingangstest etwa eine ideologisch richtige Antwort auf die Frage wissen, ob die Zugangsbeschränkung nach Moskau mit den Menschenrechten vereinbar sei. Hostessen, die lediglich bei der Eröffnungsfeier die Nationalschilder zu tragen hatten, mußten sich dafür zwei Monate ausbilden lassen.

Für die Konzerte westlicher Pop-Gruppen, etwa Udo Lindenberg mit Panik-Orchester, wurden Karten zum größten Teil über sowjetische Organisationen und somit an brave Bürger verteilt - aus Furcht, es könnte zu unkontrollierbaren Begeisterungsstürmen sowjetischer Jugendlicher kommen, wie zu Beginn des Festivals, als Sicherheitskräfte das Konzert einer jugoslawischen Gruppe im Gorki-Park abbrachen, weil die Massen zu sehr in Bewegung geraten waren.

Polizisten in Zivil achteten allerorts auf Keime von Protest-Aktionen. Norweger mit Afghanistan-T-Shirt wurden aus der Metro geholt und als »Faschisten« beschimpft.

Udo Lindenberg mußte auf dem Roten Platz auf Wunsch von Uniformierten seinen Button mit der Aufschrift »Chaos« vom Revers entfernen. Er landete für kurze Zeit auf der Wache.

Jörg Herpich, Bundesjugendsekretär der IG Bau-Steine-Erden, fühlte sich durch das Massenaufgebot von Polizei »an Orwell erinnert«. Anhängern der Friedensbewegung mißfielen auch die Massenveranstaltungen, auf denen Soldaten, mal in Uniform, mal in Sportlerkleidung, zackig aufspielten. Herwig Unnerschtal von einer Arbeitsgemeinschaft evangelischer Jugend: »Teilweise widerlich.«

Die West-Berliner Delegation war - entgegen der Absprache zwischen dem _(Beim Einmarsch ins Lenin-Stadion am ) _(vorletzten Sonnabend. )

SPD-Abrüstungsexperten Egon Bahr und dem ZK-Funktionär Wadim Sagladin im Mai - auf der elektronischen Anzeigetafel als Nation behandelt worden und ins Lenin-Stadion mit einer Bärenfahne marschiert, die ihnen die Sowjets selbst besorgt hatten.

Außer DKP-nahen Verbänden zogen die Westdeutschen daraufhin ihre Vertreter aus den Festival-Gremien zurück, zahlreiche internationale Organisationen drohten mit Boykott und Abreise.

Um weiteren Krach zu vermeiden, lockerten die Sowjets die Einlaßkontrollen im bundesdeutschen Klub, wo die Rede des Bundespräsidenten zum 8. Mai in Tausenden von Exemplaren wegging. Ostblock-Gäste interessierte vor allem die Bücherecke. Das meistbegehrte Werk: Orwells »1984«, in der UdSSR verboten.

In den Meetings durften nun niederländische Schwule über das sowjetische Tabu-Thema Homosexualität reden - Schweigen im Saal. Jusos beklagten die mangelnde Gleichberechtigung der Frauen in der UdSSR - beleidigte Gesichter bei den Sowjet-Mädels.

Die DGB-Jugend verteilte auf einem Seminar über Gewerkschaftsfreiheiten ihre Zeitschrift »Solidarität«. Inhalt: ein kritischer Aufsatz über die Militär-Regierung in Polen, auf Russisch. Die polnischen Delegierten, uniformiert, fauchten »Einmischung in die inneren Angelegenheiten Polens«.

Bei einem »antiimperialistischen Tribunal« im Kongreß-Saal des Hotels »Kosmos« protestierte die schwedische Afghanistan-Entwicklungshelferin Katarina Larsson gegen die sowjetische Intervention:

»Die Menschen müssen ihre Häuser verlassen, ihr Land preisgeben, die Dörfer werden bombardiert, die Ernte vernichtet, die Brunnen vergiftet. Das ist, was die Amerikaner in Vietnam taten. Das ist, was die Sowjets in Afghanistan tun« - solche Worte waren in der UdSSR öffentlich noch nie zu hören.

Die Dolmetscher übersetzten lediglich die Hälfte des Diskussionsbeitrags. Und eine Rede des Generalsekretärs der Internationalen Jungsozialisten, Robert Kredig, auf einer Massenkundgebung blendete das Fernsehen zeitweise sogar aus, als der Deutsche über die KSZE-Konferenz sprach.

Auf einem Forum »Jugend und Armee« verkündete ein Jungsozialist, »bei unseren Gastgebern« seien Bürger Repressionen ausgesetzt, wenn sie »vom Menschenrecht der Kriegsdienstverweigerung« Gebrauch machten.

Dagegen proklamierte Hauptsergeant Walerij Kotschergin, 23, von der Sowjet-Armee: »Wer seine Heimat und damit seine Mutter nicht verteidigen will, verdient nicht, von der Gesellschaft geachtet zu werden.«

Und weil das Festival-Motto nicht nur für »antiimperialistische Solidarität« warb, sondern auch für »Frieden und Freundschaft«, nannte ein Sowjetdelegierter noch einen gewaltlosen Zweck seiner Streitkräfte: Nur in der Armee werde der Jugendliche »Mann und Mensch«.

Beim Einmarsch ins Lenin-Stadion am vorletzten Sonnabend.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 36 / 77
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren