WELTANSCHAUUNG / ALBERT SCHWEITZER Mythos des 20. Jahrhunderts -
Er sieht aus wie ein naher Verwandter des lieben Gottes. Und er benimmt sich so. Sein Herz ist gut, sein Denken erhaben, seine Kunst begnadet. Am Abend seines Lebens - im nächsten Monat wird Albert Schweitzer 86 Jahre alt - scheint er irdischer Kritik ferner entrückt als der Rest aller Sterblichen.
Der Geist dieser Zeit, zu dem sich Schweitzer nach eigener Aussage »in vollständigem Widerspruch befindet«, hat ihn zum sittlichen Symbol dieser Zeit erhoben.
Er wird von einer Menschheit, die nicht nach seiner Moral leben will, als größter Moralist gefeiert. Nicht bereit, ihm zu folgen, ist sie bereit, ihm zu huldigen.
Denn Albert Schweitzer dient der westlichen Welt als fleischgewordenes Alibi: Stellvertretend für sie soll er die Sünden des Kolonialismus sühnen, abendländische Kultur verkörpern und im Urwald die in Europa eingesturzten Bastionen der Humanität gegen die Unmenschlichkeit wiederaufrichten.
Schweitzer-Verehrer sind Schweitzer -Aktionäre: Ihr Gewissen streicht die Dividende seiner guten Taten ein, ohne selbst das Risiko eines sittlichen Lebens laufen zu müssen.
Schweitzer-Aktien stehen entsprechend hoch im Kurs. Die Welt hat ihn geehrt wie keinen anderen Lebenden ohne Amt. Auf Schallplatten, Briefmarken, Kalendern und Gedenkmünzen wurde sein Profil geprägt. Schulen, Hospitäler, Schiffe und Dörfer wurden nach ihm benannt.
Über 600 Bücher und Broschüren wurden über ihn geschrieben; er besitzt mehr Ehrendoktorhüte als zivile Kopfbedeckungen; neben Eisenhower ist er das einzige ausländische Mitglied des exklusivsten Verdienstordens der britischen Krone, des »Order of Merit«.
Er wurde Nachfolger Marschall Pétains in der »Academie des Sciences Morales et Politiques«, erhielt den Friedens -Nobelpreis, und als die Stadtväter von Mühlacker sich nicht einigen konnten, zugunsten welchen Straßennamens sie die altehrwürdige, aber irreführende Flurbezeichnung »Hinter der Kirche« abschaffen könnten, löste der Vorschlag »Albert-Schweitzer-Straße« das scheinbar unlösbare Problem über Nacht.
Albert Einstein hielt ihn für »den größten Menschen dieses Jahrhunderts«; Winston Churchill taufte ihn »Genie
der Menschlichkeit«; den Dichter Niko Kazantzakis erinnert er an den heiligen Franz von Assisi: »Sie ähneln einander wie Brüder.«
Zu seinen Geburtstagen gratulierten Bundesinnenminister Schröder und die sogenannte DDR-Regierung in seltener Eintracht. Sowohl eine amerikanische Filmgesellschaft als auch die sowjetzonale Defa drehten je einen Kulturfilm über ihn; Frankreich produzierte einen Spielfilm: »Es ist Mitternacht, Dr. Schweitzer«.
Allein in Deutschland beträgt die Gesamtauflage seiner Bücher über eine Million. Aber Professor Yushi Uchimura von der Universität Tokio berichtet, auch in Japan werde Albert Schweitzer als »Der Heilige im Urwald« verehrt, und dem indischen Professor Bharati zufolge ruft sein Name im gebildeten Indien
»beinahe charismatische Ehrfurcht« hervor.
Dieser weltweit wogende Weihrauch ist mit ebenso umfassenden Mißverständnissen der Öffentlichkeit geschwängert, vornehmlich der gläubigen Schweitzer-Jünger.
- Der Mensch Albert Schweitzer gilt
als sanftmütiger Dulder und ist ein starrsinniger Tyrann der Barmherzigkeit: »Wir brauchen Dickköpfe auf der Welt.«
- Der Urwald-Missionar Albert Schweitzer gilt als Freund der unterdrückten
Schwarzen und ist einer der letzten Verfechter des Kolonialismus: »Die Belgier haben es im Kongo ganz gut gemacht.«
- Der Philosoph Albert Schweitzer
gilt als Bewahrer abendländischer Kultur und hat kaum einen abendländischen Denker ungerupft gelassen; Kant »irrte«, Schopenhauer war »krankhaft« und Descartes »armselig«.
- Der Theologe Albert Schweitzer gilt als Muster-Christ und hat mehr kirchliche Dogmen angegriffen als ein deutscher Theologe seit Martin Luther: »Jesu hat überhaupt nur wenige Wochen öffentlich gewirkt.«
- Der Künstler Albert Schweitzer hat
unantastbare Leistungen hervorgebracht, er wird aber für seinetätige und geistige Nächstenliebe am ausgiebigsten gefeiert; auf vier musikalischen Gebieten ist er ein Meister:
Orgelspiel, Kenntnis vom Orgelbau, Bach-Forschung und Herausgabe der Orgelwerke von Bach (mit Ausführungen über ihre Wiedergabe).
Das gründlichste Mißverständnis aber wäre es, den demütigen Samariter in der Beurteilung seines eigenen Denkens für geistig bescheiden zu halten:
Albert Schweitzer ist überzeugt, die Liebes-Ethik Jesu Christi »ins
Universelle erweitert« und damit für die gesamte Menschheit - ob Kommunisten oder Demokraten, ob Weiße, Neger oder Asiaten - eine verbindliche Formel gefunden zu haben; was
»gut« und was »böse« ist.
»So stehe und wirke ich in der Welt als einer, der die Menschen durch Denken innerlicher und besser machen will.«
Dieser Anspruch zeigt die Größe des Lebensentwurfs, dem Albert Schweitzer sich verschrieben hat und an dessen Verwirklichung er mehr Kraft und Zeit setzte als die meisten Weltverbesserer seiner Epoche.
Er erhielt Doktorwürden der Theologie, Philosophie und Medizin. Darüber hinaus besitzt er umfassende Kenntnisse
- »mehr als viele, die ihr Leben diesen Fächern gewidmet haben«, schreibt der kritische amerikanische Schriftsteller John Gunther - in Ästhetik, tropischer Zoologie, Anthropologie, Musikwissenschaft und Landwirtschaft.
John Gunther: »Er ist ein sachkundiger Zimmermann, Krankenpfleger, Maurer, Tierarzt, Bootsbauer, Zahnarzt, Architekt, Pumpenausbesserer, Zeichner, Mechaniker, Apotheker und Gärtner«
Albert Schweitzer über sich selbst:
»Ich bin zu einem Drittel Professor, zu einem Drittel Apotheker, zu einem Drittel Bauer. Dazukommen noch einige Tropfen wilder Mann.«
Diese Mischung hat der Theologie und der Musik zwei Standardwerke geschenkt: »Die Geschichte der Leben -Jesu-Forschung« und eine Bach-Einführung. In der Philosophie und der Medizin nimmt Albert Schweitzer durch seine in zwei Bänden Kulturphilosophie entwickelte Ethik und sein zuvor begonnenes, später weitergeführtes ärztliches Missionswerk in Lambarene einzigartige Außenseiter-Positionen ein.
Alle vier Fakultäten Albert Schweitzers aber sind - nicht nur zeitlich -
untrennbar miteinander verwoben Mit Orgelkonzerten verdiente er Geld, um Lambarene zu errichten. Schweitzer:
»Der Thomaskantor (Bach) aus Leipzig hat also mitgeholfen, das Spital für die Neger im Urwald zu bauen
In Bach wiederum findet Schweitzer die eigene religiöse Ergriffenheit wieder: »Musik war für ihn Gottesdienst
- sie war Selbstzweck« Und seine Urwald-Dokterei schließlich ist nichts anderes- als- in die Tat umgesetzte Schweitzer-Philosophie.
Tatsache ist nun, daß alle diese Werke des Wissenschaftlers, Künstlers und praktischen Idealisten Albert Schweitzer über eine Generation zurückliegen.
Seine theologischen und musikalischen Abhandlungen erschienen kurz vor, seine philosophischen Arbeiten kurz nach dem Ersten Weltkrieg.
In der Zwischenzeit begründete er sein Urwaldhospital in Lambarene, das zwar bis heilte an Umfang gewachsen ist, in seiner medizinischen Bedeutung aber durch die fortschreitende Erschließung Afrikas zu einem unter Hunderten von Tropenkrankenhäusern degradiert wurde.
Da dennoch der Ruhm - Albert Schweitzers erst nach dem Zweiten Weltkrieg global besungen wurde und ständig heller leuchtet, ist offenbar, daß die Wirkung dieses Mannes nicht in seinen einzelnen Werken wurzeln kann, die seit Jahrzehnten bekannt, teils überholt, teils mißverstanden worden sind.
Albert Schweitzer ist heute kein besserer und größerer Mensch als vor dreißig Jahren. Nicht er, die menschliche Gesellschaft hat sich verändert Erst in einer völlig austauschbar gewordenen Welt der Spezialisten, in der aus Kohle Margarine, aus Hitler-Generälen Nato -Kommandeure und aus Statistiken Weltanschauungen fabriziert werden konnten, erschien Albert Schweitzer den Menschen unersetzlich.
Wenn die Amts- oder Lebenszeit eines Papstes, Kreml-Diktators oder US-Präsidenten abgelaufen ist, währen Kardinäle, ein Zentralkomitee oder Amerikas Bürger einen neuen.
Im Gegensatz zu Staatsmännern und Religionen, Staatsformen, Wissenschaftlern und Wirtschaftsmanagern aber ist Albert Schweitzer nicht austauschbar. Er wird eine Lücke hinterlassen, die kein Billy Graham, kein Pater Leppich und kein Wundermann zu schließen vermag: Er hat in der Vorstellung der Menschen den Riß zwischen Moral und Wirklichkeit gekittet
Die Autofahrer, die am Weihnachtsabend die Mitternachtsmesse aufsuchen und auf dem Heimweg ihren Verkehrs -Nächsten beim Überholen schneiden,
die Bürger, die Lessings »Nathan der Weise« im Abonnement absitzen und sich anschließend an der Garderobe pöbeln, die Geschäftsleute, die von ihren Osthandelsgewinnen mit dem Antichristen ihre Kirchensteuer entrichten
- sie alle haben eine »Heimweh«-Ecke,
wie der Schriftsteller Robert Jungk es nannte, in der noch ein Gefühl für »Glanz, Harmonie, Ideale und Wärme« vorhanden ist, das aber mit ihrem Dasein im harten, kalten Lebenskampf der modernen »Angst-Welt« nicht in Einklang gebracht werden kann.
Albert Schweitzer ist es geglückt: Er hat das eine behalten, ohne das andere aufzugeben.
Freilich konnte cr nur dadurch zum Idol einer Epoche werden, daß er ihren Problemen entfloh, um außerhalb einen festen Punkt zu gewinnen. Er ging nicht in die Wüste als Eremit, sondern als Heiland und Lehrer in den Urwald.
Dort und in dieser Rolle gelang es ihm, die Einheit von Moral und Wirklichkeit mit Hilfe einer anderen Einheit glaubwürdig wiederherzustellen: durch die Identität von Leben und Lehre.
Auf die Bedeutung solcher Identität in dieser Zeit hat Philosoph Arnold Gehlen - gewiß kein Schweitzer-Freund
- ausdrücklich hingewiesen. »Den Philosophen«, so schließen seine letzten
»Philosophischen Ergebnisse und Aussagen« (1956), »wird man . . . mehr als bisher an der Art erkennen können, wie er lebt .. .«
Schweitzer selbst hatte schon vorJahrzehnten dem Philosophen Schopenhauer das Fehlen der Übereinstimmung von Denken und Tat angekreidet: »Unfähig, die von ihm verkündete Weltanschauung (der Lebensverneinung) zu leben, hängt er am Leben wie am Gelde, schätzt die Genüsse der Küche wie die der Liebe und verachtet die Menschen mehr, als er sie bemitleidet.«
Ohne Zweifel ist dann auch die Identität von Leben und Lehre für Albert Schweitzers Wirksamkeit von entscheidender Bedeutung.
Dieses Leben (Albert Schweitzer: »Leben ist Leiden") war vom ersten Tag an mit schweren Lasten beladen, und wann immer Geist oder Körper gelernt hatten, die Last zu tragen, luden sie sich neue Bürden auf.
Als 1875 der protestantische Pastor Ludwig Schweitzer mit seiner Frau und seinem sechs Monate alten Sohn von Kaysersberg im Oberelsaß nach Günsbach im Münstertal übersiedelte, sagte
seine Gemeinde: »Das Bueble isch die erschte Beerdigung, wo der neue Pfarrer halten wird.«
Das »Bueble« war Albert Schweitzer, der sich heute, 85jährig, einer phänomenalen Robustheit erfreut. Sobald er als Junge zu Kräften gekommen war, bereitete ihm seine Stärke Pein:
Bei einem siegreichen Ringkampf mit seinem Klassenkameraden Georg Nitschelm giftete der Unterlegene: »Ja, wenn ich alle Woche zweimal Fleischsuppe zu essen bekäme wie du, da wäre ich auch so stark wie du.« Erinnert sich Albert Schweitzer: »Die Fleischsuppe wurde mir zum Ekel; sowie sie auf dem Tisch dampfte, hörte ich Georg Nitschelms Stimme.«
Aus Angst, von den anderen Dorfkindern als Pfarrerssohn und »Herrenbueble« nicht als einer der Ihren angesehen zuwerden, weigerte sich Albert Schweitzer mit der ihm noch heute eigenen Starrköpfigkeit, ungeachtet väterlicher Schläge undEinkerkerung in den Keller, andere Mäntel, Mützen und Handschuhe zu tragen als die Dorfjugend.
Trotz dieser panischen Furcht, nicht als Mitläufer aufgenommen zu werden, setzte sich aber der Pfarrerssohn schon im siebten oder achten Jahr dem Spott seiner Schulfreunde aus, wenn er Vögel verscheuchte, die sie schießen wollten, oder versuchte, die Kameraden vom Fischen abzuhalten, so wie er heute -
von seinen schwarzen Patienten belächelt - vorsichtig über jede Blume hinwegtritt.
Auch zwei andere Wesenszüge, die ihn später berühmt werden ließen, zeichneten sich frühzeitig ab: seine Liebe zur Musik und seine Skepsis gegenüber herrschender kirchlicher Lehre.
Ein Großvater und drei Großonkel Schweitzers warenOrganisten. Er lernte
mit acht Jahren das Orgelspiel. Als er im zweiten Schuljahr zum erstenmal einen zweistimmigen Chor hörte, »mußte ich mich an der Wand halten, um nicht umzufallen... Auch als ich die ersten Male Blechmusik hörte, schwanden mir fast die Sinne«.
Gleichzeitig erwachte im Pfarrerssohn sein Mißtrauen gegenüber der überlieferten Auslegung des Neuen Testaments: »Zu den Geschichten, die mich am meisten beschäftigten, gehörte die von den Weisen, aus dem Morgenland. Was haben die Eltern Jesu mit dem Gold und den Kostbarkeiten gemacht, die sie von diesen Männern bekamen? fragte ich mich.«
Sein scheues nervöses Gekicher trug Albert Schweitzer auf der, Oberschule den Spitznamen »Isaak« (hebräisch: Er lacht) ein. Der spätere Kulturphilosoph war ein schlechter Schüler, der nur langsam las und schrieb. Angespornt durch das Beispiel eines Quarta-Klassenlehrers, Dr. Wehmann, der ihm als Vorbild der Pflichterfüllung erschien, zwang er sich dann jedoch, eben die Kenntnisse zu erlernen, die ihm besonders schwerfielen, so das Hebräische.
Dieser Charakterzug einer pflichtbesessenen Selbstzucht kennzeichnet ihn ebenfalls noch heute.
Nach bestandenem Abitur, ein ährigem Wehrdienst und Aufnahme an der Universität Straßburg wurde der junge Student Albert Schweitzer an einem Sommermorgen in den Pfingstferien 1896 im väterlichen Pfarrhaus zu Günsbach »mit mir selber dahin eins, daß ich mich bis zu meinem dreißigsten Lebensjahr für berechtigt halten wollte, der Wissenschaft und der Kunst zu leben; um mich von da an einem unmittelbaren menschlichen Dienen zu weihen«.
»Für einen 21jährigen Schwärmer«,
schrieb »Time«, »war nichts Besonderes an einer solchen Entscheidung - außer, daß er entsprechend handelte.«
Allein, es ist doch noch etwas anderes an dieser Zahlgrenze seines Lebens bemerkenswert: Alle wesentlichen Ingredienzien seiner späteren Lehre sind bereits vor handen: seine theologische Skepsis, seine Leidenschaft für die Musik, seine Strenge gegen sich selbst, seine Tier-, Nächsten- und Wahrheitsliebe.
Die Identität von Lehre und Leben, die später für seine Wirksamkeit so entscheidend werden soll, kommt also nicht dadurch zustande, daß er nach seiner Lehre lebt, sondern dadurch, daß er eine Lehre nach seinem Leben schneiderte.
Damit ist erklärt, warum seine Verehrer, die sich an ihm erbauen, seinen Sittengesetzen auch dann kaum gehorchen könnten, wenn sie es wollten:
Seine Moral ist im Grunde nur für ihn selbst zugeschnitten, so wie die Verfassung der V. Republik auf General de Gaulle.
Daß ein solcher Maßanzug jedem Durchschnittsmenschen um die Glieder schlottern muß, wurde durch die wissenschaftlichen und künstlerischen Leistungen des jungen Schwärmers in der selbstgesetzten Frist von neun Jahren vollends offenbar:
Mit 27 Jahren war Albert Schweitzer zweifacher Doktor - der Theologie ("Das Abendmahlsproblem") und der Philosophie ("Die Religionsphilosophie
Kants") -, wurde Vikar an der St.-Nicolai-Kirche in Straßburg und habilitierte sich wenig später als Privatdozent für Theologie an der dortigen Universität.
Er pendelte damals trotzbescheidener Mittel zwischen Straßburg, Berlin und Paris hin und her, schloß Bekanntschaft mit dem pazifistischen Poeten Romain Rolland, Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain ("Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts").
Lakonisch vermerkt er: »Ich arbeite viel, in ununterbrochener Konzentration, aber ohne Hast.« Dazu gehörte, daß er beim Studieren die Füße in einen Kübel kalten Wassers steckte, um nicht vor Übermüdung über seinen Büchern einzuschlafen.
Schon das erste Studienjahr gab ihm als 19jährigem den Anstoß zu seinen beiden bedeutendsten musikwissenschaftlichen und theologischen Arbeiten: Er wurde von dem Pariser Orgelmeister Charles Marie Widor als Schüler angenommen, der sich beklagte, es gäbe keine Einführung in das Werk Bachs. Und er entdeckte während seines Wehrdienstes im Manöver eine Ungereimtheit im griechischen Text des Neuen Testaments.
Aus diesen Episoden entstanden seine klassischen Werke über den Thomaskantor und den historischen Jesus.
Seine Arbeit über Johann Sebastian Bach erschien zunächst in Frankreich unter dem Titel: »J. S. Bach - Le musicien - poète« und umgearbeitet drei Jahre später in Deutschland; aus 455 Seiten waren dabei 844 Seiten geworden.
Das Werk reicht von einer Biographie ("Der starke Mann ..., auf dessen Lippen etwas wie behäbige Freude am, Dasein liegt, war innerlich der Welt abgestorben") über detaillierte Hinweise für die Aufführung Bachscher Werke
("Für Alt und Sopran verwandte Bach nicht Frauenstimmen, sondern nur Knabenstimmen") bis zur Einstufung der Bachschen Musik als »die vollendete Gotik der Tonkunst«.
Zu den begeisterten Lesern dieses Buches gehörte auch die Königin von Rumänien, Carmen Sylva, weil Schweitzer ihr »ihren geliebten Bach noch lieber gemacht« habe. Sie lud den Autor mehrmals ein, seine Ferien bei ihr zu verbringen, mit der einzigen Verpflichtung, ihr täglich zwei Stunden Orgel zu spielen.
Albert Schweitzer lehnte ab. Er war in jener Zeit mit der Fertigstellung seiner »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« beschäftigt.
Um eine Prüfung für ein theologisches Stipendium zu bestehen, hatte der 19jährige Rekrut Kaiser Wilhelms den griechischen Text des Neuen Testaments in den Tornister gepackt, als er ins Manöver zog.
An einem Ruhetag im Dorf Guggenheim stockte der Manöverist im zehnten Kapitel des Matthäus, das von der Aussendung der zwölf Jünger berichtet.
Albert Schweitzer: »In der Rede, mit der er sie entläßt, kündigt ihnen Jesus an, daß sie alsbald große Verfolgung erleiden werden. Es geschah ihnen aber nichts. Er verkündet ihnen auch, daß ...
unterdessen das überirdische messianische Reich anbrechen werde ...
»Wie kommt Jesus dazu, den Jüngern hier Dinge in Aussicht zu stellen, die sich in dem Fortgang der Erzählung nicht erfüllen?«
Die allgemein geltende Erklärung, es handele sich um später, nach dem Tode Jesu, zusammengestellte Sprüche, befriedigte Schweitzer nicht. »Spätere wären doch nicht darauf gekommen, ihm Worte in den Mund zu legen, die sich nachher nicht erfüllten.« Weitere Lektüre brachte neue Zweifel:
»So wurde ich am Ende meines ersten Studienjahres... an der damals für geschichtlich angesehenen Auffassung des Lebens Jesu irre.«
In jahrelanger Arbeit trug Albert Schweitzer von da an die Ergebnisse der damals knapp hundert Jahre alten Leben-Jesu-Forschung zusammen.
Schweitzers Vater fragte in jener Zeit seinen Sohn, woran er arbeite.
»Eine Arbeit über Eschatologie«, war die Antwort. Mein Sohn«, sagte der Pfarrer von Günsbach mitleidig, »ich bedauere dich. Niemand wird jemals ein Wort von deinen Arbeiten verstehen.«
Auch Albert Schweitzer zögerte, seine Untersuchungen zu veröffentlichen - aber nicht, weil niemand sie verstehen könnte, sondern weil er als protestantischer Theologe das historische Jesusbild umstürzen und Unruhe in die Christenheit tragen würde. Das Wort des Apostels Paulus »Wir vermögen nichts wider die Wahrheit, sondern nur für die Wahrheit«, bot ihm Trost.
Die »Geschichte der Leben-Jesu-Forschung« richtete Verwirrung in den Reihen der Theologen an. Albert Schweitzer kam - von seiner Manöver-Lektüre ausgehend - zu dem Ergebnis, daß Jesus keine göttlichen Einsichten besaß, sondern ein Mensch seiner Zeit war, mit limitiertem Begriffsvermögen, der in den Bahnen und Vorstellungen seiner Zeit handelte und dachte.
Wie viele Juden der damaligen Zeit, so analysierte Schweitzer in seinem Buch, habe auch Jesus daher an das bevorstehende Ende der Welt und das dann anbrechende Königreich Gottes geglaubt, als er seine Jünger aussandte. Erst als dieses Ereignis ausblieb, habe er entschieden, sich selbst zu opfern, damit nach seiner Kreuzigung Gottes Reich auf Erden anbrechen könne, was von den Urchristen dann auch stündlich erwartet worden sei.
Darum sei erst im Laufe der Geschichte diese Erwartung von der liberalen Theologie zunächst immer wieder hinausgeschoben und schließlich ganz aufgegeben worden.
Schweitzers Trost:
»Nicht der historisch erkannte, sondern nur der in den Menschen geistig auferstandene Jesus kann unserer Zeit etwas sein und ihr helfen.
Nicht der historische Jesus, sondern der Geist, der von ihm ausgeht und in Menschengeistern nach neuem Wirken und Herrschen ringt, ist der Weltüberwinder.«
Als Albert Schweitzer noch mitten in der Arbeit an der Geschichte der »Leben-Jesu-Forschung« steckte, rückte der Stichtag heran, den er sich neun Jahre
zuvor selbst gesetzt hatte, um sein Leben tätiger Nächstenliebe zu widmen.
Eine Zeitlang erwog er, sich Vagabunden und entlassener Gefangener anzunehmen, eine Arbeit, mit der er durch freiwillige Tätigkeit in der Fürsorge vertraut war.
Aber als er im Herbst 1904 in den grünen Heften der Pariser Missionsgesellschaft einen Aufsatz las, »Was der Kongo-Mission not tut«, entschied er sich, als Arzt in die nördliche Provinz des französischen Kongo, Gabun, zu ziehen.
Planmäßig teilt er im nächsten Jahr seinen entsetzten Freunden die Absicht mit und meldet sich - als 30jähriger Dozent - zum ärztlichen Studium bei dem Dekan der Medizinischen Fakultät der UniversitätStraßburg an, der »mich am liebsten seinen Kollegen von der Psychiatrie überwiesen« hätte.
In den ersten Semestern des Medizinstudiums hielt er noch theologische Vorlesungen, predigte sonntags in der St. -Nicolai-Kirche und schrieb die letzten Kapitel über die »Leben-Jesu-Forschung« und die deutsche Neufassung seines Bach-Werkes.
Als Organist errang er in den folgenden Jahren internationale Anerkennung und wurde zum führenden Theoretiker des Orgelbaus. Dr. Erwin R. Jacobi, Dozent für Musikwissenschaften an der Universität Zürich, berichtet darüber:
»Als großes Glück empfand es Schweitzer, als er 1909 eine Einladung erhielt, seine Pläne für Orgelbaureform am dritten Kongreß der Internationalen Musikgesellschaft in Wien vorzutragen.
»Charakteristisch für Schweitzers Einstellung und Arbeitsweise ist seine Vorbereitung zu seinem Auftreten: Ein von ihm entworfener umfangreicher Fragebogen wurde an Orgelspieler und -bauer sechs europäischer Länder verschickt; einhundertundfünfzig detaillierte Antworten gingen ein, deren Bearbeitung Schweitzer im Durchschnitt sechs Arbeitsstunden pro Antwort kostete.
»Der unter Schweitzers Leitung verfaßte summarische Bericht an die Orgelkommission des Kongresses hat die Bedeutung eines der Wendepunkte im Orgelbau überhaupt bekommen. So kam das Internationale Regulativ für Orgelbau' zustande, welches allen europäischen Orgelspielern und -bauern zugestellt wurde und detaillierte Vorschriften über alle Fragen des modernen Orgelbaus enthält.«
Drei Jahre später, 1912, ehelichte Albert Schweitzer Helene Breßlau, die Tochter eines jüdischen Historikers an der Straßburger Universität, nachdem er zuvor deren Freundin Elly Knapp mit einem Schriftsteller namens Theodor Heuss getraut hatte; schrieb seine medizinische Doktorarbeit über die Psychiatrie Jesu* und reiste schließlich am Karfreitag 1913 mit Frau und 2000 Goldmark nach Afrika ab; 70 Kisten medizinischen Gepäcks waren vorausgeschickt worden.
Mit Albert Schweitzers Abschied von Europa und Einschiffung nach. Afrika
wurde der Grundstein zum späteren Mythos gelegt. Es war der Schritt, mit dem die Identität von Leben und Lehre demonstrativ begann.
Albert Schweitzer hatte diese Einheit bewußt gesucht. Obwohl »nicht mehr zu predigen und nicht mehr Vorlesungen zu halten« einen so schweren Verzicht für ihn bedeuteten, daß er vor seiner Abreise den Anblick von Universität und Kirche mied, ging er nicht als Missionar, sondern als Arzt in den Urwald, »um ohne irgendein Reden wirken zu können«.
Er, der ein glühender Verehrer des »Am Anfang war die Tat«-Geheimrats Goethe ist, hatte erkannt, daß er weder auf der Kanzel noch hinter dem Katheder sein konnte, was er wollte: »ein Vorposten des Reiches Gottes«. Im Urwald schien es Schweitzer möglich.
Jedoch: Wie schon der maßgeschneiderte Zuschnitt der Lehre nach seinem Leben, so war jetzt auch sein Urwald -Exil geeignet, ihn als Vorbild immer schwieriger erreichbar werden zu lassen.
Die Verehrer Schweitzers konnten nämlich nun seine Urwald-Einheit von Moral und Wirklichkeit feiern, sie jedoch zugleich als unvollziehbar auf den Schlachtfeldern und Schlachthöfen der modernen Massengesellschaft betrachten, deren akuten Nöten Schweitzer nicht ausgesetzt war.
Albert Schweitzer hatte sich als Ziel Lambarene am Ogowefluß in der Kongo -Provinz Gabun ausersehen, vom Atlantik etwa 200 Kilometer landeinwärts, 60 Kilometer südlich des Äquators gelegen.
Die Pariser Missionsgesellschaft unterhielt dort seit 1892 eine evangelische
Mission. Schweitzers erster Konsultationsraum war ein Hühnerstall. »Nach einigen Monaten hatte das Spital täglich etwa vierzig Kranke zu beherbergen.«
Aber schon im nächsten Jahr, nach Kriegsausbruch 1914, verboten französische Kolonialbehörden dem deutschen Arzt, weiter zu praktizieren. Er wurde vorübergehend interniert und 1917 mit seiner Frau zurück nach Europa transportiert, wo beide im Lager Krankheit und Hunger erlitten.
Sechs Jahre blieb Albert Schweitzer nach Kriegsende in Europa, ehe er 1924 wieder nach Lambarene zurückzog. Er gab in dieser Zeit Konzerte und hielt Vorträge in mehreren europäischen Ländern, um die drückenden Schulden abzutragen, die er sich während des Krieges für die Weiterführung seines Hospitals aufgeladen hatte.
Seine Tochter Rhena, die heute mit einem Orgelbauer bei Zürich verheiratet ist, wurde geboren (1919), er erhielt seinen ersten Ehrendoktorhut von der Universität Zürich (1920), und es entstand seine zweibändige Kulturphilosophie.
Eine Kulturphilosophie zu schreiben, hatte sich Schweitzer schon während seines Philosophiestudiums vorgenommen. In der Berliner Villa der Witwe des Hellenisten und Erziehers Kaiser Friedrichs, Ernst Curtius, hatte ein Gast im Schatten der antiken Skulpturen bei einer Unterhaltung über die abendländische Kultur die Bemerkung fallenlassen: »Ach was, wir sind ja doch alle nur Epigonen.«
Dieser Satz hatte sich in Schweitzers Gedächtnis eingesenkt. Selbst schon im Begriff, den selbstzufriedenen Epigonen des Abendlandes den Rücken zu kehren, um in Afrika tätige Nächstenliebe zu praktizieren, entschloß sich der junge Gelehrte, die »Tragödie der abendländischen Weltanschauung« aufzuzeichnen.
Wie Oswald Spengler in seinem »Untergang des Abendlandes« war Schweitzer dabei im"Erkennenpessimistisch«; wie später Arnold Toynbee ist er im »Wollen und Hoffen optimistisch«.
»Abendländische Kultur? Das wäre gar keine dumme Idee«, brummte er noch nach dem Zweiten Weltkrieg.
Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begann nach Schweitzer die »Abdankung der Kultur": »Das Entscheidende war das Versagen der Philosophie.«
Ursprünglich hatte er allein über diese Diagnose schreiben wollen. Bereits in Lambarene aber war er dazu übergegangen, sein Feld weiter abzustecken:
Er wollte der an Altersschwäche leidenden Philosophie des Abendlandes wieder auf die Beine helfen. Sein Rezept:
eine neue Ethik.
Albert Schweitzers Vorarbeiten zu seiner populärwissenschaftlich geschriebenen »Kulturphilosophie« bestanden daher in einer Überprüfung der vorhandenen Philosophien, Religionen und Kulturen nach einer allgemeingültigen Ethik.
Er fand keine, weder in den lebensverneinenden noch in den lebensbejahenden Weltanschauungen, weder beim Stoizismus noch bei Laotse, weder bei Plato oder Shaftesbury noch in der christlichen oder brahmanischen Mystik. Alles erschien ihm nur Stückwerk, sei es die Tugendlehre der alten Griechen ("Tugendlehre ist ebensowenig Ethik, als Knorpel Knochen ist"), seien es die »Phantastereien Fichtes«.
Schweitzer suchte naiv und elementar neu zu beginnen: »Wahre Philosophie muß von der unmittelbarsten und umfassendsten Tatsache des Bewußtseins ausgehen. Diese lautet: Ich bin Leben, das leben will, inmitten von Leben, das leben will.«
Auf einer mehrtägigen Bootsfahrt auf dem Ogowe zu einer erkrankten Missionarin, zwischen Sandbänken und einer Nilpferdherde, schloß der grübelnde Urwalddoktor daraus die Formel, die er seither als sittliche Maxime für alle Menschen ansieht: »Ehrfurcht vor dem Leben.«
Nach dieser Ethik ist gut: »Leben erhalten, Leben fördern, entwickelbares Leben auf seinen höchsten Wert bringen.« Böse ist: »Leben vernichten, Leben schädigen, entwickelbares Leben niederhalten.« Das gilt für das Leben von Menschen, Tieren und Pflanzen.
Albert Schweitzer: »Dies ist das denknotwendige absolute Grundprinzip des Sittlichen.«
Zunächst mutet diese Erkenntnis quartanerhaft an; sie scheint nichts als christliche Nächstenliebe plus Tier- und Pflanzenschutz zu beinhalten.
Bei näherem Hinsehen erweist sich indes, daß der Urwald-Samariter gar nicht so weit entfernt ist von dem unchristlichsten aller europäischen Mode -Philosophen - seinem leiblichen Großneffen Jean-Paul Sartre (Schweitzer:
»ein lieber Kerl").
Denn wie Sartre gesteht Schweitzer, daß der Sinn dieser Welt ihm nicht erkennbar ist. Schweitzer: »Schmerzvolles Rätsel bleibt es für mich, mit Ehrfurcht vor dem Leben in einer Welt zu leben, in,der Schöpferwille zugleich als Zerstörungswille und Zerstörungswille zugleich als Schöpferwille waltet.«
Und wie Sartre betrachtet Schweitzer daher das menschliche Gewissen als
letzten Endes verbindliche Ermessens -Instanz. Allerdings will Großneffe Sartre alle Entscheidungen in die freie Verantwortung des einzelnen stellen, während Großonkel Schweitzer eine ethische Prämisse davorsetzt: eben die »Ehrfurcht vor dem Leben«.
Unter Beachtung dieser Voraussetzung aber kann - nach Schweitzer - das menschliche Gewissen frei entscheiden, wann es Leben nehmen soll. Denn daß auf dieser Welt ständig Leben von Leben lebt, ständig Leben vernichtet werden muß, um anderes Leben zu erhalten, ist auch für Schweitzer evident. Es soll nur nicht nutz- oder gedankenlos vernichtet werden.
Schweitzer gibt zu, daß die Welt »das grausigste Schauspiel der Selbstentzweiung des Willens zum Leben« ist, weil
»ein, Dasein ... sich auf Kosten des anderen durchsetzt«. Aber: »Als Wirken wähle ich, die Selbstentzweiung des Lebens aufzuheben, soweit der Einfluß meines Daseins reicht.« Denn: »Ethik ist ins Grenzenlose erweiterte Verantwortung gegen alles, was lebt.«
Mit dieser »ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung« verweigert er jedoch seinen Anhängern jeden Maßstab, mit dessen Hilfe sie ihr ethisches Verhalten einrichten könnten: Er sagt ihnen nicht, welches Leben sie im Zweifelsfall vernichten sollen, um ein anderes zu erhalten. In diesem Punkte ist er unerbittlich. Die schematische Kategorisierung in höheres und niederes Leben lehnt er ab.
Damit hat Albert Schweitzer alle, die nach seiner Lehre leben wollen, in eine fatale Zwickmühle getrieben: Einerseits anerkennt er die Notwendigkeit, Leben zu nehmen, um Leben zu bewahren, andererseits erklärt er alles Leben unterschiedslos für heilig.
Durch die jedem einzelnen Menschen so zugeschobene Entscheidung, dauernd neu zu bestimmen, wann er töten muß und wann nicht (wann er Blumen schneiden darf und wann nicht), ist das Einzel -Gewissen überfordert.
Selbst wenn also Albert Schweitzer mit seiner Formel von der »Ehrfurcht vor dem Leben« - wie er glaubt - das »absolute Grundprinzip des Sittlichen« gefunden hat, so kann der Mensch der modernen Massengesellschaft - etwa das Personal eines großstädtischen Schlachthofs - daraus kaum eine verbindliche Regel für sein tägliches Verhalten ableiten.
Darüber hinaus hat Albert Schweitzer, der bei der Konzipierung seiner Ehrfurcht-vor-dem-Leben-Ethik nicht an Jesus, sondern an Buddha dachte, sich mit dieser »ins Grenzenlose erweiterten Verantwortung« klar in Gegensatz zur herrschenden christlichen Lehre gestellt. Schweitzer, der sein Leben lang der Idee nachjagte, Denken und Glauben zu vereinen, sagt zwar, der Mensch, der nach seiner Lehre lebe, sei in »elementarer Weise fromm«.
Diese Art der Frömmigkeit Albert Schweitzers tritt aber eindeutig aus dem Rahmen der beiden großen christlichen Konfessionen heraus, die zwischen »niederem« und »höherem« Leben; zwischen »Leib« und »Seele« den entscheidenden Unterschied machen. Protestant Karl Barth über die »Ehrfurcht vor dem Leben": »Es ist selbstverständlich, daß eine theologische Ethik das nicht mitmachen kann.« Jesuitenpater; Leppich über Schweitzer: »Ein evangelischer Freimaurer des Sozialismus.«
Doktor Albert Schweitzer selbst nennt sich nach wie vor, einen Christen, und weder er noch die Kirchen haben es auf einen öffentlichen Zwist ankommen lassen. Denn mit der Verbreitung der Ethik von der »Ehrfurcht vor dem Leben« war der Urwalddoktor schon zum Mythos geworden.
In den Jahren nach Fertigstellung seiner Kulturphilosophie und Rückkehr in den Urwald hatte Albert Schweitzer ein neues, größeres Hospital etwas stromabwärts von seiner ersten Heilstätte - und der protestantischen Mission - errichtet.
Vor und nach dem Zweiten Weltkrieg reiste er etwa je ein halbes dutzendmal zu Vortrags- und Konzertreisen nach Europa, dazwischen lagen bis zu zehn Jahre ununterbrochener Arbeit in Lambarene.
Das Dritte Reich unternahm einen schüchternen Versuch, Albert Schweitzer für die NS-Ideologie zu gewinnen. Doch nachdem der Urwalddoktor am Äquator eine »mit deutschem Gruß« unterzeichnete Einladung von Joseph Goebbels höflich ausgeschlagen und seine Antwort »mit zentralafrikanischem
Gruß« geschlossen hatte, blieben die Beziehungen kühl.
Während seiner ersten Nachkriegsfahrt in die Heimat erreichte den Urwalddoktor 1948 ein Angebot der Universität Chicago, die Festrede der Feier zum 200. Geburtstag Goethes in Aspen (Colorado) zu halten.
Schweitzer wollte ablehnen, aber als er die ihm angebotene Summe von 6100 Dollar in Franc umgerechnet hatte und an seine vom Krieg erschöpften Hospital-Finanzen dachte, wurde er weich: Im Sommer 1949 dampfte er auf der »Nieuwe Amsterdam« zum erstenmal nach USA. (Geflogen ist er noch niemals.)
Den Korrespondenten, die ihn mit Fragen anödeten ("Was denken Sie über den Kommunismus?« - »Solche Fragen existieren im Urwald nicht!") und endlich noch ein Beispiel für das haben wollten, was er »Ehrfurcht vor dem Leben« nennt, entgegnete er: »Ich, Albert Schweitzer, bin Leben. Es wäre ,Ehrfurcht vor dem Leben', wenn Sie mich jetzt in Gnaden entlassen wollten.«
Amerika war entzückt. Der Propaganda-Moloch der Neuen Welt nahm sich des Monstrums der Barmherzigkeit
- an, taufte ihn den »13. Jünger Jesu« und
»Mister Wellblech«.
Von dieser Tournee her datiert der weltweite Schweitzer-Rummel. Der Strom von Geld- und Sachspenden begann so reichlich nach Lambarene zu fließen, daß Schweitzer unterderhand
eigene Einkünfte für Orgel-Restaurationen, Flüchtlinge und Vertriebene abgeben konnte.
Als dem »deutschen Gelehrten« 1953 der Friedens-Nobelpreis zuerkannt wurde, protestierte Frankreich, das ihn im Ersten Weltkrieg interniert gehalten hatte, in Stockholm: Schweitzer sei Franzose. Der Urwalddoktor selbst zur Frage seiner Nationalität: »Homo sum«
(Ich bin ein Mensch).
In Deutschland, wo von seiner in alle Weltsprachen übersetzten Autobiographie »Aus meinem Leben und Denken« vor dem Krieg keine 100 000 Exemplare abgesetzt wurden, schnellte die Auflage an die Grenze einer halben Million.
Eine Fahrt des alten Herrn durch die Bundesrepublik wurde zum Triumphzug. Bundespräsident Heuss pries ihn als Vorbild. Die Ratsherren von Dortmund
verzichteten zugunsten Lambarenes auf ihre Aufsichtsratsdiäten für drei Jahre. Frankfurt machte ihn zum Ehrenbürger. Schüler aller Klassen und Schularten bezeichneten ihn in zahllosen Umfragen regelmäßig als meistbewundertes Vorbild.
In einer von der »Hochschule für Internationale Pädagogische Forschung«. Frankfurt, herausgegebenen Untersuchung* sind einige der Schüler-Antworten wiedergegeben:
- »Für mich ist Albert Schweitzer ein großes Vorbild. Er hilft armen und kranken Menschen, und er wendet sich gegen das böse Treiben in der Menschheit. Seine Äußerungen gegen die Atombombe fand ich einfach prima.«
- »Ein Ideal, das sich wohl jeder Mensch als Vorbild nehmen könnte, ist Albert Schweitzer. Ich schätze ihn wegen seiner Menschlichkeit, seines Fleißes und seiner Aufopferungsbereitschaft.«
- »Als Ideal der Nächstenliebe möchte ich Albert Schweitzer gern nacheifern.«
Etwas zweifach Groteskes war geschehen: Durch seinen Erfolg in Amerika hatte sich ein Philosoph Gehör verschafft, zu dessen Lehre es gehört, daß der äußere Erfolg eines Menschen bedeutungslos ist. Und durch die moderne Technik war ein Moralist glaubwürdig geworden, der die Technik künstlich von seinem Wirkungsort fernhält. (Denn erst durch die Technik der modernen Kommunikationsmittel war es Presse, Film und Funk möglich gewesen, die Menschheit über die Identität von Schweitzers Lehre und Leben in Lambarene zu unterrichten und damit zu beeindrucken.)
Der Geist der Zeit, zu dem Schweitzer sich in »vollständigem Widerspruch« befindet, hatte den Urwald-Philosophen gleichgeschaltet: »Die Verehrung Schweitzers ist echt, aber gedankenlos«, stöhnt Werner Picht in einem der besten und kritischsten Schweitzer-Bücher**. Eine Flut klischeehafter Veröffentlichungen über Schweitzer, die sein wahres Wesen und Denken kaum noch untersuchten, entwarf der Welt ein Abziehbild vom Weisen im Urwald und seinem Bilderbuch-Humanismus.
Für die Welt war er zum idealen Gebrauchs-Heiligen geworden. Denn an seiner fern von Europa praktizierten Humanität konnte man nur teilhaben, indem man sie feierte, ohne sie nachahmen zu müssen. Das galt für den kleinen Mann wie für die Mächtigen der Erde.
Erst als Albert Schweitzer 1957 seine Stimme erhob, um entsprechend seiner Lehre von der »Ehrfurcht vor dem Leben« gegen die Atomversuche Stellung zu nehmen, klang die offizielle Lobhudelei ein wenig ab. »Der große Mann hatte die Spielregeln verletzt« (Werner Picht).
Albert Schweitzer, der seit dem Tode seines Freundes Einstein ("Er war kein
philosophisch gebildeter Mensch, aber ein tief philosophischer Geist") die Atom-Debatte - spät aber systematisch
- studiert hatte und zu dem Ergebnis gekommen war, daß es fraglich sei,
»ob es überhaupt so etwas gibt wie einen harmlosen Grad der Radioaktivität«, ließ sich Anfang 1957 von Norman Cousins, dem Herausgeber der führenden amerikanischen Literaturzeitschrift »Saturday Review of Literature« und von Indiens Ministerpräsident Pandit Nehru mündlich und brieflich dazu drängen, die Menschheit vor den Testversuchen mit Kernwaffen zu warnen.
Am 23. April 1957, wenige Wochen vor dem Tode seiner Frau, strahlte Radio Oslo den von Albert Schweitzer in Lambarene auf Tonband gesprochenen Aufruf zur Einstellung aller Kernversuche aus; 140 weitere Rundfunkstationen verbreiteten den Appell.
»Wie ein gütiger, alter Familiendoktor« - schrieb Robert Jungk -
setzte sich Albert Schweitzer ans Krankenbett der Menschheit und redete ihr gut zu.«
Schweitzer: »Nur solche, die nie dabei waren, wenn eine Mißgeburt ins Dasein trat, nie ihr Wimmern hörten, nie Zeugen des Entsetzens der Mutter waren, können die Behauptung wagen, daß die Fortsetzung der Versuchsexplosionen ein Risiko sei, zu dem man sich unter Umständen entschließen könne.«
Der Appell ist verhallt, die Testversuche sind vorläufig eingestellt. Es wird gerüstet wie noch nie. Albert Schweitzer hat sich wieder ganz in seinen mit Abfällen übersäten Tempel des Friedens in Lambarene zurückgezogen.
Was Schweitzer über Kant und Bach geschrieben hat, daß ihr Schaffen »den Charakter des Unpersönlichen« trägt, gilt nun am Abend seines Lebens in seltsamer Weise auch für ihn selbst.
Dem Tod seiner Mutter (die im Ersten Weltkrieg auf einer Straße im Elsaß von deutschen Kavalleriepferden niedergerannt wurde), der Geburt seiner Tochter, der eigenen Eheschließung - allen drei Ereignissen widmet er in seinem fast uferlos wuchernden Schrifttum je einen Satz.
Die Kraft von Schweitzers sittlichem Empfinden ist machtvoll - dem einzelnen Menschen aber wendet er sich erst zu, wenn er ihn leiden sieht ("Der Schmerz ist ein furchtbarerer Herr als der Tod").
Vierzehn Stunden jeden Tages arbeitet er so hart wie kaum ein anderer im Dienst der Nächstenliebe - und es scheint, als verrichte er eine Bußübung. »Als Ganzes«, schreibt John Gunther,
»vermittelt das Spital den Eindruck einer Art Abstraktion.« Schweitzers Interesse für die Neger ist - vom Heilen abgesehen - praktisch nicht vorhanden.
So wie er ein in Indien bewundertes Buch über »Die Weltanschauung der indischen Denker« schrieb, ohne je in Indien gewesen zu sein, so verbrachte er ein bewundertes halbes Leben in Afrika, ohne je einen Eingeborenen-Dialekt* erlernt oder auch nur ein anderes Land außer Gabun bereist zu haben.
»Haben wir Weißen ein Recht, primitiven und halbprimitiven Völkern
unsere Herrschaft aufzudrängen?«
fragt er und antwortet selbst: »Ja, wenn es uns Ernst damit ist, sie zu erziehen und zu Wohlstand gelangen zu lassen ... Wir haben, behaupte ich, das Recht zu kolonisieren, wenn wir die moralische Autorität besitzen, einen derartigen Einfluß auszuüben.«
Obgleich er sich selbst diese moralische Autorität natürlich zubilligt, ist er nicht sicher, ob die Kannibalen von Gabun ihn nicht doch noch verspeisen werden, bevor er sie erzogen und zu Wohlstand gebracht hat.
Für diesen Fall hat der Urwalddoktor seine eigene Grabinschrift bestimmt:
»Wir haben ihn gegessen, den Doktor Albert Schweitzer. Er war gut bis zu seinem Ende.«
Allein, es war nicht nur die sporadische Beschäftigung mit der eigenen Grabinschrift, die den Verdacht aufkeimen ließ, Albert Schweitzer sei sein eigener und bester Denkmalspfleger.
Auch Schweitzers äußerer Habitus stärkte das Mißtrauen: sein abgewetzter Bratenrock, Stehkragen und Nietzsche-Bart - alles Symbole der guten alten Zeit, die ihn zum »Archetypus« des »strengen, aber gerechten Vaters« der Menschheit werden ließen - genau wie seine altväterische Ausdrucksweise
("Ich bin ein alter Zugvogel") und seine plakative Anspruchslosigkeit ("Ich fahre dritter Klasse, weil es keine vierte Klasse mehr gibt").
»Ist er wirklich ein scheuer, demütiger Mann oder eine Garbo mit Bart?«
fragte der »Sunday Express«.
Sicher ist seine sentimentale Ausdrucksweise so echt wie seine materielle Anspruchslosigkeit; er ist dem Stil der Jahrhundertwende verhaftet geblieben, und zu seiner an Geiz grenzenden Sparsamkeit gesellt sich der Wille, einfach zu leben (und hart zu sitzen).
Sicher ist aber auch, daß er nichts getan hat, um dem Schweitzer-Kult Einhalt zu gebieten. Er ließ sein Mähnenhaupt von allen Seiten photographieren und gab Autogramme wie ein Filmstar.
Das alles hat seinen Ursprung in einer menschlichen Schwäche Albert Schweitzers, aber nicht in einer so kleinen, wie es die Eitelkeit ist, sondern in der gleichen »hohen Selbsteinschätzung«, die er einst während seiner psychiatrischen Forschungen beim historischen Jesus festgestellt hatte.
Als ihn seine Frau in Amerika bat, sich doch zu schonen und nicht stundenlang Autogramme zu geben, trat in seiner Antwort dieses Heilgbewußtsein offen zutage:
»Ich darf mich keinem Menschen, der glaubt, daß ich ihm helfen kann -
und sei es auch nur durch ein Autogramm -, versagen. Vielleicht empfängt er davon einmal in einer dunklen Stunde Ermutigung.«
An Werner Picht schrieb er: »Es ist in der Welt Sehnsucht nach einer Geistigkeit der Humanität vorhanden. Mir ist zuteil geworden, das Wort zu finden, das dieser Sehnsucht entgegenkommt, ein Dunkel erhellt ....«
So hat Albert Schweitzer mitten auf dem Festland, wo keine Schiffe fahren, einen Leuchtturm errichtet, an dessen Signalen sich kein Boot orientieren kann, dessen mildes Blinken aber die Herzen der Menschen erwärmt.
* Albert Schweitzer: »Als Resultat hatte Ich festzustellen, daß die einzigen psychiatrisch eventuell zu diskutierenden und als historisch anzunehmenden Merkmale - die hohe Selbsteinschatzung und etwa noch Halluzinationen bei der Taufe - bei weitem nicht hinreichen, um das Vorhandensein einer Geisteskrankheit nachzuweisen.«
* Hermann Bertlein: »Das Selbstverständnis der Jugend heute«. Hermann Schroedel Verlag KG, Hannover; 348 Seiten; 19,80 Mark.
** Werner Picht: »Albert Schweitzer«. Richard Meiner Verlag, Hamburg; 320 Seiten;
24 Mark.
* Schweitzer spricht fließend Deutsch, Französisch, Lateinisch, Griechisch, Hebräisch und versteht Englisch.
Moralist Schweitzer, Verehrer in Europa: Die Menschheit kann ihn feiern...
...oh.ne ihm zu folgen: Organist Schweitzer in Lambarene
Dschungelarzt Schweitzer, Assistenten: Aus einem Monstrum der Barmherzigkeit...
...wurde ein Abziehbild: Schweitzer-Darsteller Fresnay*
Student Schweitzer: Füße im Wassereimer
Poet Rolland
Neun schwärmerische Jahre ...
Witwe Cosima Wagner
...zwischen Kunst...
Kulturphilosoph Chamberlain
...und Wissenschaft
Forschungsobjekt Jesus
Kirchen-Dogmen demontiert
forschungsobjekt Bach
Kirchen-Orgeln restauriert
Helene Schweitzer-Breßlau, Ehemann: Karfreitag in den Urwald
Dritterklasse-Reisender Schweitzer: »Eine Garbo mit Bart?«
* Mit Partnerin Jeanne Moreau in dem französischen Spielflim »Es ist Mitternacht, Doktor Schweitzer«.