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»Nach der Ratifizierung geht?s erst richtig los«

aus DER SPIEGEL 17/1972

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, Sie haben in der letzten Zeit in Presse und Fernsehen viele Interviews gegeben. Wenn wir Sie jetzt fragen, ob die baden-württembergischen Landtagswahlen die Regierungskoalition in Bonn stärken, werden Sie ja sagen, und wenn wir Sie jetzt fragen, ob das baden-württembergische Landtagswahlergebnis den Verträgen -- soweit das damit zu tun hat -- zu einer noch sichereren Mehrheit verhilft, werden Sie auch ja sagen. Ist das richtig?

BRANDT: Ja, sie werden die Koalition stärken und die Ratifizierung der Verträge nicht gefährden.

SPIEGEL: Wenn dieses in dieser Form schon gesagt worden ist, sollte uns der Politiker Willy Brandt, von dem man weiß, daß er sich in einer bestimmten Lage auf eine bestimmte Weise verhält, die Frage beantworten: Werden Sie zurücktreten, Herr Bundeskanzler, wenn für die Verträge keine Mehrheit im Bundestag zu erreichen ist?

BRANDT: Die Frage ist aus meiner Sicht nicht richtig gestellt. Denn es kommt nicht zum Scheitern der Verträge. Und deshalb bin ich nicht zu der Art von Reaktion bereit, die der Frage zugrunde liegt. Aber davon einmal abgesehen, sofern in der Frage auf eine Neigung zur Resignation angespielt werden

* Mit Stenograph walter Steinbrecher. Günter Gans und Erich Böhme.

sollte: Diese bewegt mich überhaupt nicht, sondern genau das Gegenteil. Hier muß gerungen werden um die Durchsetzung der Verträge. Sollte es wider alles Erwarten dabei einen zeitweiligen Rückschlag geben, was ich, wie gesagt, für so gut wie ausgeschlossen halte, dann wird weiter gekämpft werden ...

SPIEGEL: ... mit dem sozialdemokratischen Politiker Willy Brandt, in welcher Funktion auch immer, an der Spitze dieser ostpolitischen Kampagne? BRANDT: So ist es.

SPIEGEL: Unterstellt, die Verträge würden beim zweiten Durchgang im Bundestag oder nach einem Einspruch des Bundesrates keine Mehrheit finden: Sie werden nicht von sich aus zurücktreten?

BRANDT: Ich weiß nicht, was Sie mit dem Zurücktreten haben. Im übrigen darf sich der Politiker, anders als der Zeitungsmann -- jedenfalls in dem. was er nach außen sagt -, beschränken auf das, was er will, was er für wahrscheinlich oder sicher hält, und braucht nach außen nicht zu sagen, was er sonst machen würde.

SPIEGEL: Eines wird er nicht machen: Willy Brandt wird nicht zurücktreten.

BRANDT: Nein, er wird nicht zurücktreten müssen.

SPIEGEL: Für die nächste Zukunft, Herr Bundeskanzler. gibt es theoretisch drei Möglichkeiten: Die Verträge werden mit der notwendigen Mehrheit ratifiziert. Die zweite Möglichkeit ist, Sie verbinden das Schicksal der Verträge mit dem Schicksal dieser Regierung, indem Sie Neuwahlen auf dem verfassungsmäßigen Wege anstreben. Die dritte Möglichkeit: Die Bundestagsopposition versucht, die Neuwahlen durch ein konstruktives Mißtrauensvotum zu unterlaufen. Trifft es zu, daß für Sie die dritte Möglichkeit, die des konstruktiven Mißtrauensvotums im Bundestag. die schmerzlichste Aussicht ist?

BRANDT: Wieso? Ich kann sogar nicht ausschließen, daß die Opposition noch in der Woche vor den Verträgen davon Gebrauch macht. Sie wird, was ja ihr gutes Recht ist, während der Haushaltsberatungen bei irgendeiner der vielen Abstimmungen versuchen, einmal eine Mehrheit zu bekommen. Ich gehe davon aus, es gelingt ihr nicht, denn es ist ihr bisher in rund 200 Fällen kontroverser Abstimmungen seit Ende 1969 nicht gelungen. Aber sie gibt die Hoffnung nicht auf. Damit kommt Herr Barzel unter Druck seiner Parteifreunde -- nicht aller, aber vieler-, die sagen: Nun mußt du dich hier zur Wahl stellen, denn konstruktives Mißtrauensvotum heißt ja der Versuch. einen neuen Bundeskanzler zu wählen. Meine Einschätzung ist nun weiter, daß, wenn Herr Barzel -- gezwungen, so etwas zu tun -- es versuchte, er dabei keinen Erfolg haben wird. Dann ginge man also mit noch größerer Ruhe als ohnehin in die Woche der Vertragsentscheidung.

SPIEGEL: Wenn, bevor der zweite Durchgang der Verträge fällig ist Anfang Mai, die Bundesregierung in der Abstimmung über einen Einzelplan des Haushalts in der Minderheit bleibt, wie werden Sie sich dann verhalten?

BRANDT: Alle Wahrscheinlichkeit und alle bisherigen Erfahrungen sprechen dagegen. Im übrigen, vom Rechtlichen her ist allein entscheidend die Schlußabstimmung, die dritte Lesung über den Bundeshaushalt 1972. Das heißt. wenn in der zweiten Lesung irgendeine Frage für die Regierung offenbleiben sollte, dann würde sie in der dritten Lesung wieder aufgegriffen werden.

SPIEGEL: Sie würden also eher in Kauf nehmen, daß Herr Barzel --

stärkt durch eine solche Abstimmungsniederlage der Koalition -- ein konstruktives Mißtrauensvotum versucht?

BRANDT: Ich habe vorhin gesagt: Wenn er damit scheitert, dann ist das gar keine schlechte Ausgangslage für die Vertragswoche. Dies ist etwas, was nichts damit zu tun hat, ob ich es gerne sehe oder nicht, sondern ich sage, hier haben wir es wahrscheinlich mit einem Automatismus zu tun, den ich mit Interesse, Barzel aber mit Sorge beobachtet.

SPIEGEL: Kann man daraus schließen, daß Sie meinen, Rainer Barzel ist nicht ganz frei darin, ob er die Möglichkeit eines konstruktiven Mißtrauensvotums ergreifen will oder nicht?

BRANDT: Er muß zögern; denn wenn er sich überlegt. wie es außenpolitisch aussieht und was sonst da ist, kann ihn eine etwaige Regierungsbeauftragung mit Hilfe von ein paar Überläuferstimmen auch nicht reizen, nicht retten. Außerdem läuft er Gefahr, daß ihn einige der eigenen Leute hängenlassen. Es wird geheim abgestimmt, das ist ein unsicheres Geschäft.

SPIEGEL: Müssen Sie sich nicht dennoch fragen lassen, ob in einer politischen Phase, in der das Kernstück Ihrer Politik, die Ratifizierung der Ostverträge, zur Debatte steht, irgendeine Form von Eskapismus des Bundeskanzlers völlig ausgeschlossen ist?

BRANDT: Ich werde den Deubel tun und mich auf irgendeine Weise des Verhaltens gegenüber hypothetischen Entwicklungen festlegen oder festlegen lassen. Ich sage nur als eine Erwägung für den Bundeskanzler in solchen Fragen, er muß sich prüfen: Will ich die Möglichkeit ausschließen, daß, wenn es zum Schwur kommt, auch ein CDU-Kollege, der sein Gewissen geprüft hat, für die Verträge stimmt? Oder will ich ihm das Alibi geben, zu Hause oder beim DGB oder in der evangelischen Kirche oder wo er sonst ist, sagen zu können: Dies hätte ich ja an sich gerne gewollt; aber das könnt ihr nun nicht von mir verlangen, zu gleicher Zeit für die Verträge und für den sozialdemokratischen Bundeskanzler zu stimmen. Dieses sei einem CDU-Abgeordneten nicht zuzumuten.

SPIEGEL: Unsere Frage, Herr Bundeskanzler, war allgemeiner gefaßt. Wir haben nicht gefragt, ob Sie die Abstimmung über die Verträge gegenüber CDU- und CSU-Abgeordneten damit erschweren und belasten wollen, daß Sie sie mit der Vertrauensfrage für diese Regierung verbinden, sondern wir hatten allgemeiner gefragt, ob der Bundeskanzler Brandt sich in einer Phase, in der das Kernstück seiner Politik in dieser Legislaturperiode zur Debatte steht. irgendeine Form von Eskapismus leisten kann.

BRANDT: Ich hoffe nicht, daß Sie das Gespräch mit den Wählern und den Weg zu ihnen für Eskapismus halten. Es unterliegt überhaupt keinem Zweifel. daß für den unwahrscheinlichen Fall des Scheiterns der Verträge der Wahlkampf an dem Abend des Tages beginnen würde, an dem es zu einer solchen Fehlentscheidung käme.

SPIEGEL: Dies heißt: Ein Scheitern der Verträge wäre nicht verbunden mit der Resignation des Politikers Willy Brandt ...

BRANDT: Ich denke überhaupt nicht an Resignation. Überdies: Wollen wir wetten, daß wir, wenn wir uns wiedertreffen in drei Wochen, miteinander der Meinung sind, daß Sie sich in unnötige geistige Unkosten gestürzt »haben?

SPIEGEL: Müßten Sie nicht auch Wahlen jetzt vorziehen? Solange die Verträge im Mittelpunkt stehen, gäbe es dafür eine solidere Mehrheit als später.

BRANDT: Erstens ist jetzt wichtiger, wegen der Stellung der Bundesrepublik in der Welt, daß die Verträge ratifiziert werden und daß das alles nicht noch mal in eine große Mühle hineinkommt. Und zweitens glaube ich, daß diejenigen unrecht haben, die sagen, im Herbst 1973 werde über ganz andere Dinge als jetzt entschieden.

SPIEGEL: Ist die Ostpolitik dann nicht längst vergessen?

BRANDT: Wenn die Verträge ratifiziert sind, geht es ja in gewisser Hinsicht erst richtig los. Dann werden sie verwirklicht. Dann kommt -- ganz abgesehen von den wichtigen Fragen der westeuropäischen Gipfelkonferenz im Oktober und der Erweiterung der EWG zur Jahreswende -- im Laufe der folgenden Monate zum erstenmal ein Vertrag mit der DDR hinzu, ein Vertrag, der der Zustimmung von Bundesrat und Bundestag bedürfen wird. Das wird ja, wenn sich nicht alles wendet, auch wieder kontrovers sein. Dann kommt vermutlich ein Vertrag mit der Tschechoslowakei hinzu. Dann kommen die diplomatischen Beziehungen mit Ungarn und Bulgarien, zusätzlich zu denen mit Polen und der Tschechoslowakei. Dann kommt die Vorbereitung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, die doch wahrscheinlich in der ersten Hälfte des nächsten Jahres stattfinden wird. Also, das Thema der Ost-West-Politik bleibt auf der Tagesordnung und wird die Menschen weiter interessieren.

SPIEGEL: Wäre es dann nicht um so eher verständlich, wenn Sie sich ·dafür jetzt ein breiteres Wählervotum holen würden?

BRANDT: Als ob ich das bestimmen könnte. Wenn ich mich in einer von mir selbst zu bestimmenden Landschaft bewegen könnte, hätte ich gegen Neuwahlen vor der Sommerpause 1972 gewiß nichts einzuwenden.

SPIEGEL: Sie haben eben gesagt, auch Ihnen sei am Ende eine Wahl zum vorgesehenen Zeitpunkt 1973 lieber als eine vorzeitige. Jetzt sagen Sie, eine vorzeitige vielleicht doch.

BRANDT: Nein, das sind zwei verschiedene Dinge. Das erste ist die Staatsräson. Die Staatsräson spricht dafür, daß das Grundgesetz in dem Sinne praktiziert wird, in dem es formuliert worden ist. Und das Grundgesetz will, daß von extremen Ausnahmefällen abgesehen, eine Legislaturperiode zu Ende gebracht wird. Das andere ist mehr etwas Subjektives, wenn ich sage: Ja, wenn ich mich freier bewegen könnte oder wenn es aus sonst irgendwelchen Gründen, die ich noch nicht sehe, dazu käme. dann bin ich sicher, Wahlen würden jetzt ganz gut ausgehen.

SPIEGEL: Wäre es Ihnen angenehm. wenn Sie sich mit dem Oppositionsführer Rainer Barzel verständigen könnten, vor oder nach dem zweiten Durchgang der Verträge Neuwahlen auszuschreiben?

BRANDT: Ich kann mit der Frage nichts anfangen. denn wenn ich mich nicht mit Herrn Barzel darüber verständigen kann, was schwarz auf weiß in einem Vertrag steht und was ich als Chef der Regierung dazu, gestützt auf die Verhandlungen, interpretierend sage, wie soll ich mich dann über diesen sehr weitreichenden Schritt mit ihm verständigen können?

SPIEGEL: Barzel hat selber gesagt. Neuwahlen seien auch für ihn die »sympathischste Lösung«, daran kann man ihn doch festhalten.

BRANDT: Das ist ein reiner Verbalismus. Im Bundestag steht nicht das Thema Neuwahlen an, sondern im Bundestag steht an: Erstens, daß der Haushalt verabschiedet wird, und in der Woche darauf, daß die Verträge verabschiedet werden.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, der baden-württembergische Wahlkampf hat Ihnen einen Vorgeschmack davon gegeben, was es heißt, trotz des ostpolitischen Rückenwindes Wahlen gegen die CDU/CSU zu gewinnen. Was hat Sie veranlaßt, trotz der wachsenden Polarisierung und der wachsenden Demagogie Schwächen zu zeigen -- etwa einzuräumen, daß der eine oder andere aus Ihrer Regierung Dinge versprochen hat, die er gar nicht halten kann?

BRANDT: Ich wüßte nicht, daß ich das im baden-württembergischen Wahlkampf gesagt hätte.

SPIEGEL: Sie haben beispielsweise zugegeben, Ihnen sei es durchaus nicht lieb, daß die Inflationsquote derzeit mehr als fünf Prozent betrage.

BRANDT: Ja. Aber die Wirtschaftslage sieht viel besser aus, als es die Opposition den Leuten vorerzählt hat. Wenn es danach ginge, was die Opposition gesagt hat, dann wären wir jetzt in einer Wirtschaftskrise mit Arbeitslosigkeit. Aber das ist etwas anderes als das Regierungsprogramm nicht erfüllen. Das Regierungsprogramm wird in allen wesentlichen Punkten erfüllt und auf einigen Gebieten übererfüllt.

SPIEGEL: Sie räumen im Wahlkampf weiter ein, daß es mit der Steuerreform nicht zum besten steht.

BRANDT: Nun gut. ich habe eine Panne zugegeben nicht in bezug auf die Materie, sondern in bezug auf unsere eigene Art, ein Thema zu präsentieren. Wir haben ein halbvolles Glas halbleer genannt. Wir haben von drei Teilen der Steuerreform zwei auf dem Tisch. Das erste Paket mit der Abgabenordnung und dem Steuerfluchtgesetz wird im Bundestag beraten. Das zweite mit allen einheitswertabhängigen Steuern liegt beim Bundesrat und ist auf dem Wege zum Bundestag. Und das dritte mit den übrigen Steuern kommt nach der Sommerpause. Jetzt wird man vielleicht nur einen Teil verabschieden. Das andere ist da, und ein nächster Bundestag wird es nicht erst mitten in der Legislaturperiode anpacken müssen.

SPIEGEL: Daß ein halbvolles Glas wie ein halbleeres erscheint, liegt das nicht unter anderem daran, daß in jener Woche, in der der Abgeordnete Hupka die SPD verließ, zusätzlich noch in Ihrem Kabinett die Steuerreformfrage so kontrovers diskutiert wurde? Erst aus dieser Summierung entstand der Eindruck von Krise, Regierungs- und Führungsschwäche.

BRANDT: Ja, da ist wohl was dran, daß das genügende Zusammenordnen von Regierungsaktivitäten ...

SPIEGEL: ... und kritischen Punkten ...

BRANDT: ... bei weitem nicht so gut entwickelt ist, wie es sein sollte. Das ist allerdings auch schwieriger, als es sich die meisten vorstellen.

SPIEGEL: Kann es denn sein, daß dem Bundeskanzler ein wenig die autoritäre Komponente in seinem Führungsstil fehlt?

BRANDT: Ich meine, ich bin da nicht derjenige. der das selbst richtig beantworten kann. Bitte, man ist auch immer mal in Lagen. in denen man sich selbst betrachtet. Aber jedenfalls kann man dies nicht objektiv tun. SPIEGEL: Tun Sie es subjektiv? BRANDT: Sie müssen lange nach einem suchen, bei dem alle für notwendig und wünschenswert gehaltenen Elemente gleichermaßen, und dann noch in der rechten Relation zueinander, angelegt sind.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, das Verhältnis zwischen Regierung und Opposition ist in der Bundesrepublik nie gut gewesen, obwohl die jeweils Regierenden immer gerne das Gegenteil behauptet haben. Dennoch scheint es derzeit schlechter als jemals zuvor zu sein. BRANDT: Das muß ich bestreiten. SPIEGEL: Gut, wann war es dann also noch schlechter?

BRANDT: Das weiß ich nicht. Ich bin hier ja nicht so lange in Bonn. Sehen Sie mal, ich lese dort in Zeitungen Meldungen, nun wäre Herr Barzel am Mittwochabend bei mir gewesen, nach vielen Monaten, in denen er mich nicht gesehen hat. Das stimmt ja alles nicht. Natürlich, wir haben keine durch Kommuniques angekündigten Treffs gehabt, aber wir sind einander bei anderen Gelegenheiten begegnet. Wenn mich Herr Barzel darum bittet, dann kann er immer kommen, wenn er was hat. Wir haben, von gesellschaftlichen Anlässen abgesehen, im Laufe von anderthalb Jahren an die 20 Begegnungen zwischen dem Bundeskanzler und dem Oppositionsführer registriert.

SPIEGEL: Das waren aber zufällige Treffen.

BRANDT. Nein, nein, das waren alles gewollte.

SPIEGEL: Es ist ein politisches Faktum, daß allgemein gesagt wird, so schlecht war es noch nie. Warum ist das so?

BRANDT: Das hängt natürlich damit zusammen, daß es eine Opposition ist, die erst lernen muß, Opposition zu sein, die es immer noch nicht ganz verwunden hat, daß sie es ist.

SPIEGEL: Ist es nicht auch so, daß dieses nicht gute Verhältnis zwischen Regierung und Opposition auch darauf zurückzuführen ist, daß auch die Regierung lernen muß, wie es ist, mit einer knappen Mehrheit zu regieren, und lernen muß, mit einer starken Opposition umzugehen?

BRANDT: In vielen Ländern Europas gibt es heute das Problem der knappen Regierungsmehrheiten, unabhängig davon, ob man ein Verhältnis- oder ein Mehrheitswahlrecht hat. Das scheint heutzutage in Demokratien häufig der Fall zu sein. Es ist sicher richtig, man soll nicht der Opposition arrogant gegenübertreten. Ich glaube, wir haben das auch nie getan. Und wenn es einmal geschehen sein sollte, würde ich das bedauern.

SPIEGEL: Lage es nicht nahe, daß die Regierung gerade bei der Ratifizierung der Ostverträge ein gutes Beispiel für Zusammenarbeit mit der Opposition gäbe und dem CDU/CSU-Wunsch nachkäme, die Abstimmung über die Ostverträge um mindestens vier Wochen zu verschieben?

BRANDT: Erstens glaube ich wirklich nicht an den Wunsch der Opposition, noch mal Zeit zu bekommen, um sich mit der Materie zusätzlich vertraut zu machen. Das kann ja schon nicht stimmen; denn die Herren von der Opposition waren sich doch über ihr Nein schon im klaren, als sie immer noch sagten, sie möchten gerne irgendwelchen Einblick in irgendwelche Unterlagen haben. Deshalb ist auch die Forderung nach Einsicht in Aktenvermerke und Niederschriften nicht überzeugend, abgesehen davon, daß sie internationaler Übung völlig widerspricht, zumal wir jede denkbare Auskunft gegeben haben und weiterhin geben werden. Die Herren von der Opposition müssen doch schon ihrer Sache sicher genug gewesen sein. Sonst wäre es doch unverantwortlich gewesen, nein zu sagen. Sie hätten sonst sagen müssen: nein, es sei denn. die und die und die Fragen werden noch geklärt.

SPIEGEL: Sie fordern den Aufschub doch nicht wegen ungenügender Unterrichtung, sondern weil sie noch Nachbesserungen von der Regierung erwarten.

BRANDT: Wenn ich mich an Rainer Barzel halte, moniert er drei Punkte. Wenn diese drei Punkte Herrn Barzels auch das mit decken, was Herr Marx und Herr Windelen -- von anderen zu schweigen -- vorgebracht haben, oder Herr Schröder, der ja übrigens viel radikaler als Herr Strauß gesprochen und sich in Inhalt und Form auf ein viel schrofferes Nein festgelegt hat als Herr Barzel, dann kann ich nicht gut glauben, daß die Barzelschen Punkte eigentlich das decken, was die Union will. Ich muß sie für taktische Positionen halten. Aber wenn ich sie jetzt auch nicht für taktische hielte, sondern für die, um die es wirklich ginge, dann frage ich mich: Was bleibt davon?

SPIEGEL: Was bleibt von den Barzel-Forderungen nach Anerkennung der EWG durch die Sowjet-Union. nach Aufnahme des Selbstbestimmungsrechtes in das Vertragswerk und nach stufenweisen innerdeutschen Erleichterungen?

BRANDT: Da ist erst mal die etwas gekünstelte Geschichte mit der EWG, nicht so gefährlich für meine Begriffe; denn wenn die Regierung die Russen zur Anerkennung aufgefordert hätte, dann hätten unsere Partner in der EWG gesagt: Seit wann seid ihr Deutschen dazu da, für die EWG Außenpolitik zu machen?

SPIEGEL: Nun, der EWG-Einwand ist ja inzwischen durch die Breschnew-Erklärung von der EWG als »Realität« vom Tisch.

BRANDT: Ich denke, was immer da gewesen sein mag, das ist jetzt kein Thema. Und zur Selbstbestimmung: Daß die sowjetische Regierung dem Obersten Sowjet von dem Brief zur deutschen Einheit Kenntnis gegeben hat, was ich dem Auswärtigen Ausschuß vor Wochen angekündigt habe. ändert an der politischen Beurteilung für mich nicht viel, an der rechtlichen schon gar nichts. Denn rechtlich ist der Brief ein deutsches Vertragsinstrument, unabhängig davon, wie die sowjetische Seite diesen Punkt behandelt. Das ist unbestritten nach der Wiener Vertragskonvention. Aber es hilft politisch-psychologisch, daß dies auch dort nicht unter den Teppich gekehrt wird, sondern gesagt wird: Die Deutschen haben dazu in Verbindung mit der Vertragsunterzeichnung ihre Auffassung zu der Frage dargelegt.

SPIEGEL: Aber die Opposition will auch das Selbstbestimmungsrecht ins Vertragswerk aufgenommen haben.

BRANDT: Da sehe ich also nicht, was das soll, es sei denn, man wolle wieder eine Verbalverkleisterung hineinbringen. Dies hielte ich für geradezu gefährlich. 1954 haben Adenauer und Bulganin gesagt. sie seien für einen einheitlichen, deutschen, demokratischen Staat. Und jedermann wußte, damit meinte Bulganin so einen ähnlichen Staat wie die DDR und Adenauer so einen ähnlichen wie die Bundesrepublik. Das hat nicht weitergeholfen. Es ist ehrlicher, hier selber zu sagen, was man will und dies die andere Seite wissen zu lassen, anstatt irgend etwas aufzuschreiben und zu glauben, damit habe man die deutsche Einheit. Man hat sie damit natürlich überhaupt nicht.

SPIEGEL: Bleibt der dritte Punkt. den Herr Barzel Freizügigkeit nennt.

BRANDT: Das ist ein etwas überzogenes Wort, glaube ich. Die meisten in unserem Land wissen, daß er es auch nicht so wörtlich meint. Es kann nicht um Freizügigkeit gehen, so wie in der EWG, wo man von einem Land zum anderen umziehen kann, wo man auch in dem anderen Lande in die Sozialversicherung automatisch hineinkommt. Das ist ja auch nicht unter den kommunistischen Staaten üblich und nicht zu erwarten, jedenfalls nicht auf kurze Sicht. Also geht es um etwas, was mit dem Ziel der Freizügigkeit zur Erleichterung für die Menschen führt. Und das ist jetzt eine Methodenfrage. Wir sagen, wir haben durch die sachliche Verbindung zwischen Moskau-Vertrag und Berlin-Abkommen, wie wir es über Ostern durch den Vorgriff auf das Inkrafttreten gesehen haben, für einen bestimmten Bereich mehr Erleichterungen erlangt, als ich sie zu meiner Zeit als Berliner Bürgermeister für möglich gehalten hätte. Dann haben wir in Verbindung mit dem Polen-Vertrag die Möglichkeit der Familienzusammenführung. Dann haben wir durch den Verkehrsvertrag mit der DDR die Chance, zu besseren Besuchs- und Reisemöglichkeiten zu kommen. Wenn Herr Barzel allerdings meinen sollte, man müsse noch mal nach Moskau gehen, um dort aufgeschrieben zu beikommen, was er einen Stufenplan nennt, dann wäre die; nicht realistisch.

SPIEGEL: Wir fürchten, daß er das meint, und haben den Verdacht, daß er darauf baut, daß die nachgeschobenen Zugeständnisse der Sowjet-Union ihn in der öffentlichen Meinung nur bestätigen in seiner Forderung, auf solche Nachbesserungen zu dringen.

BRANDT: Ich habe überhaupt nichts dagegen, wenn Herr Barzel und seine Freunde das Gefühl haben, daß sie hier und da mitgeholfen hätten. Da bin ich ganz frei von Kleinlichkeiten. Bitte, da will ich Herrn Barzel die Freude am Geschäft nicht nehmen. Nur geht es da ja nicht um die eigentliche Substanz.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, empfindet es die Bundesregierung nicht vielleicht geradezu als peinlich, was die Sowjet-Union derzeit an Gesten tut?

BRANDT: Das möchte ich nicht sagen. Aber Sie müssen davon ausgehen. daß die Sowjet-Union bei all ihrer politischen Erfahrung im übrigen natürlich mit den Gepflogenheiten einer parlamentarischen Demokratie nicht so vertraut ist.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, der Politiker hat keinen einklagbaren Anspruch darauf, daß er recht behält. Wenn diese Regierung über die Ostverträge dennoch fällt, würde der Politiker Willy Brandt als Oppositionsführer weiter für diese Ostverträge streiten?

BRANDT: Wissen Sie, was Sie Oppositionsführer nennen, will ich natürlich überhaupt nicht in der Qualität reduzieren. Es ist immer eine wichtige Rolle in einem Staat. Für mich steht

auf welche Seite der innerstaatlichen Barrikade bezogen auch immer -- an erster Stelle der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Er hat sich diese Sache vorgenommen und wird sie durchsetzen oder dafür werben, daß er dafür noch mehr Unterstützung bekommt.

SPIEGEL: Und wenn er das nicht als Bundeskanzler machen kann, macht er es dann als Oppositionsführer oder als Vorsitzender?

BRANDT: Dann macht er es. Im übrigen werden mir andere Bürden erspart werden, weil ich Bundeskanzler bleibe und 1973 darum ringen werde, es wieder zu werden.

SPIEGEL: Und wenn er doch nicht durchkommt mit seinen Verträgen, wenn er nicht mehr Kanzler ist, ist Willy Brandt dann ein bißchen auf dem Wege zu sagen: Ihr könnt mich ...

BRANDT: Ich denke nicht daran, dieses zu sagen und mich dann danach entsprechend zu verhalten. Ich behalte mir vor, es vielleicht einmal zu sagen und dann doch zutun, was ich als meine Pflicht empfinde.

SPIEGEL: Herr Bundeskanzler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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