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»Nach Harrisburg hat sich die Welt verändert«

Wie Bonn auf den Reaktorunfall in den Vereinigten Staaten reagierte
aus DER SPIEGEL 15/1979

Kaum hatte Helmut Schmidt am Mittwoch letzter Woche in Brasilia seine Gespräche mit dem Vorsitzenden der brasilianischen Bischofskonferenz, Kardinal Aloisio Lorscheider, beendet, ließ er sich mit Bonn verbinden. Der Kanzler wollte von Staatsminister Hans-Jürgen Wischnewski wissen, ob es daheim Krach zwischen seinen Ministern gegeben habe. Wischnewski bestätigte die Befürchtung seines Chefs.

Am selben Tag, an dem Schmidt zu einer ausgedehnten Lateinamerika-Tournee abreiste, gerieten in Bonn Ökonomen und Ökologen über die Reaktorkatastrophe von Harrisburg aneinander. Auf der einen Seite der für Umweltschutz und Reaktorsicherheit verantwortliche FDP-Innenminister Gerhart Baum, auf der anderen -- von SPD-Kollegen tatkräftig unterstützt -- der liberale Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff, zuständig für die Energieversorgung der Bundesrepublik.

Doch Wischnewski konnte den Kanzler beruhigen: Die Runde habe sich bereits geeinigt, der Friede sei wiederhergestellt. Schmidt verließ sich auf den Bescheid ("Wischnewski hat ein sicheres Gefühl dafür, was politisch zählt") und widmete sich wieder seinen Gastgebern -- vielleicht vorschnell.

Was sich in der vorletzten Woche auf der kleinen Insel im Susquehanna River bei Harrisburg ereignet hatte und was zunächst der Welt als ein harmloser Defekt an einer Wasserpumpe in einem der vielen amerikanischen Kernkraftwerke verkauft worden war, verwirrte mit einem Schlag auch die politische Szene in der Bundesrepublik. Die Wasserstoffblase im Reaktordruckgefäß schaffte, was keiner Bürgerinitiative, was weder »Grünen« noch »Roten« gelungen war. In der Bonner Regierung stand plötzlich ernsthaft zur Debatte, was bislang undenkbar schien: ob die Bundesrepublik nicht doch ohne Kernenergie auskommen müsse.

Gut drei Wochen vor den wichtigen Landtagswahlen in Schleswig-Holstein, wo SPD und FDP -- zum großen Ärger ihrer Parteioberen in Bonn -- ihre härtesten innerparteilichen Atomgegner stehen haben, schien ein Kurswechsel in der Energiepolitik nicht mehr ausgeschlossen. Baum: »Das ist eine neue Position« (siehe SPIEGEL-Interview Seite 22).

Die bislang allenfalls in der Theorie durchgespielten Gefahren der Atomenergie waren erstmals konkret sichtbar geworden -- und sofort verloren

* Mit VW-Chef Toni Schmücker am vergangenen Mittwoch in Brasilin.

die alten Lehrsätze ihre dogmatische Gültigkeit, daß

* die Kernenergie »unerläßlich« zur Sicherung der Vollbeschäftigung sei, wie es im Energieprogramm der Bundesregierung geschrieben steht; > die Nukleartechnologie »Flaggschiff-Funktion« für den deutschen Industrie-Export habe, wie SPD-Forschungsminister Volker Hauff behauptet hatte.

Selbst wachstumsgläubige Sozialdemokraten wie Kanzleramtschef Manfred Schüler, der bislang immer nur über Kernenergie im Zusammenhang mit Kosten und Beschäftigung zu reden bereit war, mahnten: »Man ist sicher gut beraten, wenn man die Sache ernst nimmt und nicht so tut, als sei nichts geschehen.«

Noch härter urteilte NRW-Arbeitsminister Friedhelm Farthmann, schon immer ein Mahner gegen allzu leichtfertiges Vertrauen in den Segen der Kernkraft: »Nach Harrisburg, daran besteht für mich kein Zweifel, hat sich die Welt verändert.«

Als erster mußte sich Innenminister Baum umstellen. Schon am Sonntag vergangener Woche war er von seinem Reaktorexperten Wilhelm Sahl gewarnt worden, daß Harrisburg auch in der Bundesrepublik passieren könne. Von seiner Kölner Wohnung aus bestellte Baum seine Kabinettskollegen für Dienstag zum Krisenrat ins Ministerium.

Am Montag gestand überdies der Vorsitzende der Reaktorsicherheits-Kommission beim Innenministerium, Professor Adolf Birkhofer, seinem Dienstherrn, daß deutsche Reaktoren gegen Störfälle à la Harrisburg mit allen möglichen Folgen nicht unbedingt gefeit seien. Birkhofer düster: »Wir stehen an einem Abgrund.«

Dem gelernten Juristen Baum, der sich bislang vor allem um den liberalen Rechtsstaat gesorgt hat, wurde bewußt, daß er sich wohl oder über noch um anderes kümmern muß, Nur widerwillig hatte er sich bisher mit den Details der komplizierten Reaktorsicherheit befaßt und sich stets darauf verlassen, daß seine Experten ihn schon richtig beraten würden. In der vorigen Woche mußte er einsehen: »Diese Verantwortung nimmt mir keiner ab, ich bin der Minister für die Reaktorsicherheit.«

Noch beeindruckt von Birkhofers finsteren Prophezeiungen, eröffnete Baum anderntags die von ihm einberufene Versammlung von Ministern und Ministerialen mit einer Warnung: »Meine Herren, ich bin nicht bereit, den Fall Harrisburg zu verharmlosen.« Mit dieser Reaktion des Innenministers hatte ein anderer Liberaler gerechnet. »Pardon«, parierte sofort Otto Graf Lambsdorff, »das haben wir auch gar nicht vor.«

Der Wirtschaftsminister befürchtete, sein Parteifreund Baum könne sich von der allgemeinen Atom-Angst nach Harrisburg mitreißen lassen und das Energiekonzept der Regierung in Frage stellen.

Dieses Programm sieht, wie der frühere Wirtschafts-Staatssekretär und heutige Hoesch-Vorstand Detlev Karsten Rohwedder als letzte Amtshandlung zum Jahresende in einer internen Expertise festgeschrieben hat, einen zügigen Ausbau der Kernkraftkapazität

Auf der unseren Uhr im Lagezentrum des Ministeriums läßt sich die Zeit des jeweiligen Krisenortes einstellen.

von gegenwärtig knapp 9000 Megawatt (MW) auf 75 000 MW im Jahre 2000 vor. Rohwedder geht dabei von einem Wirtschaftswachstum zwischen drei und vier Prozent jährlich und einer Stromerzeugungskapazität von insgesamt 175 000 MW aus.

Energisch fuhr Lambsdorff, assistiert von Schüler und dem für Urlauber Hauff erschienenen Parlamentarischen Staatssekretär Erwin Sahl, Baum in die Parade, als der Innenminister ins Kommuniqué schreiben wollte: »Der Unfall in Harrisburg hat in die Nähe von Gefahren geführt, die jenseits der Sicherheitsauslegungen lagen.

Dieser Satz, so der Graf, könnte als Affront gegen die Amerikaner gedeutet werden. Denn er lasse die Interpretation zu, daß US-Meiler besonders unsicher seien. Baum korrigierte listig, der Unfall in Harrisburg habe »In die Nähe von Gefahren geführt, gegen die Kernkraftwerke weltweit nicht ausgelegt sind«.

Doch darauf mochten sich die Widersacher noch weniger einlassen, denn damit hätten sie sich auch von den westdeutschen Reaktorbauern und ihren staatlichen Aufpassern in den Behörden distanziert. Ein Teilnehmer der Runde beschrieb die neue Strategie: »Von nun an ging's nicht mehr darum, ob das sachlich stimmt, was Baum formuliert hatte, sondern ob man das auch sagen darf.«

Baum durfte nicht. Das kanzlerlose Kabinett einigte sich am nächsten Tag auf die laue Formel, »daß der Unfall in die Nähe von bisher nicht zutage getretenen Risiken geführt hat«.

Kein Wort darüber, daß auch die deutschen Konstrukteure bislang Fehlerketten und so ungewöhnliche Reaktionen wie die Bildung einer explosiven Gasblase nach Harrisburger Art für äußerst unwahrscheinlich gehalten haben und ihre Kraftwerke darauf nicht gerüstet sind.

Und schon gar nicht hatte sich das Kabinett für eine Sicherheitsdebatte präpariert. Beim Tagesordnungspunkt »Harrisburg« wurden die gleichen Fragen gestellt wie draußen im Land an den Stammtischen -- Volkshochschule unter Leitung von Egon Franke, Senior für Innerdeutsches, der als dienstältester Minister den Kanzler und dessen kranken Vize Hans-Dietrich Genscher vertrat.

Ernährungsminister Josef Ertl vom Tegernsee wollte unbedingt wissen, ob man nicht ein Gehäuse bauen könne, das solch einer » Knallgasexplosion« standhalte. Atom-Experte Wilhelm Sahl vom Innenministerium: »Nein.«

Wie es denn mit dem »Berstschutz« stehe, wollte Justizstaatssekretär Hans de With wissen, und wie er es sich vorzustellen habe, wenn ein Reaktorkern schmelze. Experte Sahl wurde volkstümlich: »Verstehen Sie es bitte nicht als Verniedlichung. Aber das ist wie ein Bündel Tauchsieder in einem Kessel -- und plötzlich ist das Wasser aus dem Topf«

Nach vielen Stunden einigte sich die Runde schließlich auf eine Palette von Ankündigungen und Auflagen, aus denen kritische Bürger lernen sollten, wie ernst Bonn das neue Sicherheitsrisiko nehme.

Unterirdische Reaktoren, bislang immer als zu teuer abgetan, wurden zur »realistischen Alternative« (Baum) aufgewertet. Kernkraftwerke sollen schärfer als bisher überprüft, bei Mängeln die Meiler schneller abgeschaltet werden. Schließlich darf der nach Harrisburger Muster ausgelegte Reaktor in Mülheim-Kärlich -- der einzige deutsche dieses Typs -- erst weitergebaut werden, wenn's mit der Kühlung stimmt.

Daß vom Kabinett nichts beschlossen wurde, was dem fernen Kanzler als Beleg für einen generellen Bonner Gesinnungswandel in der Atompolitik vorgehalten werden könnte, dafür sorgten FDP-Lambsdorff und SPD-Wischnewski. Der Kanzleramtsminister stimmte den Text der Bonner Harrisburg-Erklärung Wort für Wort mit seinem Vorgesetzten in Brasilia ab.

Zwar ging Schmidt zunächst sogar die entschärfte Fassung zu weit; er vermutete -- zu Recht -- Baum als Initiator der kritischen Untertöne. Doch dann »ließ er Leine« (ein Kanzler-Berater), schließlich passe eine gewisse kritische Linie ganz gut ins Wahlkampfkonzept der Sozialliberalen für Schleswig-Holstein.

Der Innenminister mochte sich damit nicht begnügen. Im Innenausschuß des Bundestages legte Baum am vergangenen Donnerstag eine umfangreiche »Materialsammlung« über Harrisburg vor. Im Vorwort brachte er unter, was ihm die Kollegen aus dem Kabinetts-Votum gestrichen hatten, daß nämlich Kernkraftwerke »weltweit« nicht auf Unfälle wie in Harrisburg vorbereitet sind.

Daher, so Baums Schlußfolgerung, dürfe man der Frage nicht ausweichen, »ob die Nutzung der Kernenergie unverzichtbar ist«.

Mit dieser Frage hat der Einzelgänger freilich die Grenze verletzt, die der Kanzler seinen Ministern gezogen hat. In Südamerika verkündete Schmidt, daß er auch nach der Katastrophe von Harrisburg den Atomstrom weltweit für unverzichtbar hält.

»Allen Regierungen in der ganzen Welt«, so dozierte er am vorigen Donnerstag in Sao Paulo' »ist klar, daß Energie aus Kohle, Wasser, Erdgas oder Öl in der Quantität begrenzt ist. Wir sehen eine schnelle Vervielfachung des Ölpreises mit katastrophalen Konsequenzen für die Zahlungsbilanzen in einer Reihe von Ländern. Es liegt klar auf der Hand, daß sie sich anderen Energie-Quellen zuwenden müssen« -- vor allem der Kernenergie.

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