JUDEN Nach innen
Der Vierspalter auf Seite eins der »Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung« trug die Überschrift »Jüdische Familie in Deutschland« und hätte vom Propheten Jeremias stammen können, so schwarz malte er.
»Die steigende Zahl von Mischehen«, mahnte Leitartikler Gerrard Breitbart, bedrohe »die Überlebensfähigkeit der Gemeinden in Deutschland überhaupt«. Die »Voraussetzung für eine Überlebensstrategie« sei deshalb »die kontinuierliche Gründung jüdischer Familien, nicht zuletzt zur Erhaltung der mengenmäßigen Substanz«.
Nach 140 Zeilen Vorrede kam der Autor zum eigentlichen Punkt: Das Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland, das höchste jüdische Exekutivorgan, habe eine »Empfehlung« verabschiedet. Darin werde den Gemeinden nahegelegt, künftig keine mit Nichtjuden verheirateten Gemeindeglieder mehr in das Direktorium des Zentralrats zu entsenden. Überdies sollten Juden, die in sogenannten Mischehen leben und ihre Kinder nichtjüdisch erziehen, keine Führungspositionen mehr in jüdischen Gemeinden und Landesverbänden erhalten.
Was da, fast versteckt, deutschen Juden in ihrem Hausblatt (verkaufte Auflage pro Woche: etwa 18 000 Exemplare) erstmals gedruckt vorgetragen wurde, ist nach dem Urteil von Kennern die einschneidendste Direktive jüdischer Führungsorgane in der Bundesrepublik - und womöglich eine verhängnisvolle dazu.
Immerhin leben derzeit fünfzig Prozent aller verheirateten Juden in Deutschland (wie auch anderswo) mit einem nichtjüdischen Partner. Und deren Zahl wächst: Unter den 163 Ehen, die jüdische Männer im Jahre 1983 eingingen, waren nur 51 Ehen mit einer jüdischen Frau, mehr als zwei Drittel dagegen Mischehen.
Der Bann war vom Direktorium des Zentralrats bereits ein Jahr zuvor in aller Stille beschlossen und im Dezember 1984 den Delegierten des Zentralrats vorgestellt worden. »Die jüdische Gemeinschaft kann weder in der Politik noch im gesellschaftlichen Leben etwas erreichen«, begründete Direktoriumsvorsitzender Werner Nachmann den Erlaß, »wenn sie nicht ihre jüdische Identität sicherstellt.« Jüdische Identität bedeute »jüdische Familie und jüdisches Familienleben«, nicht aber »christlich-jüdische Gemeinschaft«.
Nachmann hatte kaum geendet, da brach unter den jungen Delegierten des Zentralrates Unmut aus. »Will das Direktorium nach dem Trauschein entscheiden, wer jüdische Verantwortung übernimmt?« empörte sich Stefan Rohrbacher, der dem Vorstand des Bundesverbandes Jüdischer Studenten in Deutschland (BJSD) angehört und mit einer Christin verheiratet ist. Viele Mitglieder, die sich »jüdisch engagieren«, habe das Direktorium damit »zu Mitgliedern zweiter Klasse degradiert«.
Dem Protest schloß sich wenige Tage später der gesamte Vorstandsbeirat des BJSD an: »So kommt diese Empfehlung in letzter Konsequenz einem Ausschluß aus der Gemeinschaft gleich.« Nicht mit formalen, sondern nur mit »inhaltlichen Alternativen« lasse sich das »Überleben als jüdische Gemeinschaft sichern«.
Noch schärfer reagierte Alphons Silbermann, 76, ehemaliger Kölner Soziologieprofessor und Antisemitismusforscher, der die Mischehen-Empfehlung »eine ungeheuerliche Arroganz des Direktoriums« nennt, »die zwar keine Mischehen verhindert, aber dafür die Versöhnung innerhalb des Judentums untergräbt«. Die Mitglieder des Direktoriums ließen es, so Silbermann, »zwar an geistiger Führung fehlen, aber dafür spielen sie sich ohne jedes Mandat wie die Herren der Judenheit auf«.
Die Verdammung der sogenannten Mischehe beleuchtet nicht nur die Denkart der Führungsgarde, sondern auch die Lage der Juden in Deutschland. Ihre Zahl nimmt »hierzulande von Jahr zu Jahr ab«, klagt Heinz Galinski, der Vorstandsvorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Das Durchschnittsalter
der rund 30 000 Juden in der Bundesrepublik liegt bei 45 Jahren, in manchen Gemeinden gar zwischen 50 und 60.
Mehr Sorge als der zahlenmäßige Rückgang macht Werner Nachmann »die Existenz des Judentums nach innen«. Für die 60 Gemeinden stehen nur acht Rabbiner zur Verfügung. Die überwiegende Mehrheit der Juden nimmt am jüdischen Leben nicht mehr oder nur noch an den Hochfesten teil.
Wo immer man Juden begegne, klagen Zentralratsmitglieder, treffe man auf »mangelndes Wissen«, zuwenig »jüdische Substanz« und zuwenig »Jüdischkeit«. Rund 85 Prozent der Kinder aus Mischehen werden nach den Erfahrungen aus dem Zentralrat nicht mehr jüdisch erzogen. Der badische Landesrabbiner Nathan Peter Levinson fordert die Gemeindeglieder denn auch zu einer Art innerer Mission auf: Die »nichtjüdischen Partner« müßten davon überzeugt werden, »daß es notwendig ist, zum Judentum überzutreten«.
Unterstützung für ihre Rückkehr zu den orthodoxen Positionen finden die Führungsgremien bei den Konservativen, die an der Gemeindebasis mittlerweile stark vertreten sind. Die neue Struktur wie auch die Überalterung haben mit dazu beigetragen, daß heute in jüdischen Gemeinden vielfach als suspekt gilt, was das deutsche Judentum seit Beginn des 19. Jahrhunderts für die jüdische Intelligenz attraktiv gemacht hatte: Toleranz und Reformgeist.
Bereits 1812 plädierte David Friedländer, der erste jüdische Stadtrat in Berlin, dafür, daß sich die Juden vom Hebräischen als Gebetssprache und von allen Gebetstexten lösen sollten, die auf eine nationaljüdische Vergangenheit pochen.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts gingen jüdische Religionsreformer an den Kern. Rabbiner Abrahahm Geiger hielt eine Wiedergeburt des Judentums nur auf dem Boden des wissenschaftlichen Denkens und der freien Kritik für möglich; jüdische Theologie müsse von Land und Volk gelöst werden. Jude sei man primär durch seine religiöse Auffassung und nicht durch Blutsbande.
Mit dieser Öffnung setzte auch der Trend zur Mischehe ein. Im Deutschland der zwanziger Jahre kletterte der Anteil der Mischehen auf rund 21 Prozent. Überragende und gleichzeitig überzeugte Juden wie Moses Hess und Martin Buber heirateten Nichtjüdinnen, Leo Löwenthal, der Mitbegründer der »Frankfurter Schule«, gleich drei hintereinander.
Wie verpönt solche Offenheit heute in jüdischen Gemeinden ist, zeigt das Beispiel des Duisburger Politik- und Geschichtsprofessors Julius H. Schoeps, 43, der sich als »säkularer Jude« bezeichnet und sich »zu den humanistischen Traditionen des Judentums« bekennt. Dem Autor zahlreicher Bücher über deutschjüdische Geschichte und Mitherausgeber der Briefe und Tagebücher von Theodor Herzl, dem Gründer der zionistischen Bewegung, legte der Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Düsseldorf nahe, seinen Sitz im Gemeinderat niederzulegen. Schoeps folgte dem Rat.
Sein Vergehen: Schoeps hatte im Jahre 1982 eine »Libanon-Erklärung von Juden aus NRW« befürwortet und später unterzeichnet. »Wir sind bestürzt über den Einmarsch der israelischen Armee im Libanon«, hieß es in dem Text: »Die emotionale Bindung an Israel bei vielen von uns wird auf das empfindlichste verletzt.«
Bevor Schoeps sein Mandat im Gemeinderat niederlegte, erklärte er den Räten, »daß Kritik an der Regierungspolitik des Staates Israel oft besser und notwendiger ist, als Israel immer vorbehaltlos in Schutz zu nehmen. Die Interessen des Diaspora-Judentums sind häufig nicht identisch mit den Interessen des Staates Israel«.
Fortan galt Schoeps als »Nestbeschmutzer« und »PLO-Sympathisant«. Alexander Ginsburg, Generalsekretär des Zentralrats, war sich gar »sicher, daß die Kommunisten Schoeps mißbrauchen«. Mit dem Auszug aus dem Gemeinderat verlor Schoeps zugleich seinen Posten als Delegierter zur Ratsversammlung des Zentralrats.
Die Mischehen-Empfehlung hält der Historiker, der selber seit zehn Jahren in einer Mischehe lebt, nicht nur für eine »Diskriminierung der bürgerlichen Ehe«, sondern für »einen Rückfall vor die Aufklärung« und für eine Art »Selbstgettoisierung«.
Der Erlaß, so Schoeps, sei »die Bankrotterklärung eines Judentums, das dabei ist, seine liberalen Traditionen zu verraten«.