Zur Ausgabe
Artikel 26 / 50

MARSHALL Nach wie vor »Mr. General«

aus DER SPIEGEL 38/1950

George C. Marshall hält nichts von Memoiren. Kaum hatte er sich in seinem Haus in Pinehurst im Staate Nordkarolina von seiner schweren Nierenoperation erholt, da baten ihn auf einem Dinner in Washington die US-Auslandskorrespondenten, nun solle er sich an den Schreibtisch setzen und seine Erinnerungen schreiben. Wie alle anderen mehr oder weniger bedeutenden Größen der Zeitgeschichte. Mit der Weisheit des alten, charmanten Mannes weigerte sich der Generalstabschef und Außenminister a. D. Das war im Sommer 1949.

Heute fragt man in Washington: Ahnte der »Alte von Leesburg« - dort liegt sein sechs Morgen kleiner Ruhesitz - sein Comeback? Fühlt sich der 69jährige, der nur noch eine Niere hat und den man selten lachen sieht, noch zu jung, über sein Leben als Soldat und Diplomat schon abschließend zu berichten?

Schon als Präsident Harry S. Truman seine Erklärung über die Verstärkung der US-Truppen in Europa machte, kombinierte die »New York Times« orakelhaft, daß Eisenhower Chef der neuen Atlantikstreitkräfte werden würde. Da knallte Truman die Ernennung George C. Marshalls zum Verteidigungsminister heraus. Die geschwätzigsten Background-Erzähler waren überrascht. Die übrige westliche Welt nicht minder.

Es scheint das Schicksal dieses alten Karriere-Soldaten zu sein, als Zivilist seiner weltgeschichtlichen Gloriole den letzten Glanz zu geben. Schon 1946 zog er die Fünf-Sterne-Uniform aus und wurde Sonderbotschafter in China. Dort erkannte er bald, daß Mao Tse-tungs Sieg nicht aufzuhalten war. Als ihn Truman nach Washington zurückrief, wußte er als Außenminister den zivilen Evening-Dress mit Würde zu tragen. Seine Mitarbeiter nannten ihn nach wie vor mit respektvoller Distanz »Mr. General«.

Auch als Verteidigungsminister muß Marshall Zivilist sein. Die liberalen Staatsgründer in Englands einstigen nordamerikanischen Kolonien wollten 1789 die militärische Macht auf keinen Fall einem Soldaten in die Hand geben. Sie wollten jedem Ansatz zu einer Militärdiktatur vorbeugen. Zehn Jahre mindestens darf ein Verteidigungsminister nicht aktiver Soldat gewesen sein - so will es die Verfassung. Marshall nahm die Paragraphenhürden - eine Ausnahme in der USA-Geschichte.

»Wir haben auf militärischem Gebiet zu wenig Initiative.« Hanson W. Baldwin, Amerikas bedeutendster Militär-Kommentator, gab diese aggressive Parole aus. Aus demokratischer Parteidisziplin griff er Louis Johnson, den Advokaten-Chef des Pentagon, nicht mit der gleichen offenen Vehemenz an, wie es seit einem halben Jahr die Brüder Stewart und Joseph Alsop taten. Das Kreuzfeuer, das gegen Johnson losprasselte, war vor dem 25. Juni noch eine Sache des politischen Parketts in Washington.

Dann aber mußten die Pazifik-Transporter immer mehr GI's von den kalifornischen Häfen über den Stillen Ozean bringen. Immer härter wurden die Boys in den Reisfeldern Koreas von den T 34 bedrängt. Und nun fing die Kritik an Verteidigungsminister Louis Johnson an, zu einer Sache des Mannes auf der Straße, der Frauen, der Bräute und Freundinnen zu werden.

Das Flüstern wurde allmählich so laut. daß es auch der vielbeschäftigte Chef des Weißen Hauses nicht überhören konnte. Es erhob sich die Frage was Louis Johnson mit den fast 30 Milliarden Dollar in den letzten zwei Jahren eigentlich gemacht habe. Damit drückte der US-Volksmund das Mißverhältnis aus, das auf einmal zwischen der Stärke der industriellen Produktion und der Schwäche des militärischen Materials sichtbar wurde.

Bis dahin hatte der Präsident seinen Freund stets gedeckt Als Geldsammier der demokratischen Partei hatte Louis Johnson die Dollars zusammengekratzt, die für das Wahlrennen des schon aufgegebenen Truman notwendig waren. Die allgemeine Kritik an Johnson belastete nun aber auch Trumans Prestige.

Der Präsident, der zwar nervös und abgearbeitet ist, aber ein feines Ohr für die im Kriegs- und Wahljahr 1950 besonders wichtige Stimmung der Massen hat, brauchte in dieser kritischen Stunde den breiten Rücken der Autorität Marshalls. Nicht nur um das Vertrauen bei den GI's und ihren Vätern, Müttern und Bräuten wiederherzustellen - sondern um auch den formlosen Konturen der atlantischen Verteidigungsgemeinschaft feste Korsettstangen einzufügen.

Denn: Marshalls Name ist mit dem europäischen Wiederaufbau schon über die Blätter der Nachkriegsgeschichte hinaus verbunden. Seine Autorität in Sachen globaler Strategie wird, endlich auch - so hofft man im Weißen Haus - die widerstrebenden Interessen der Atlantikpaktanten unter einen Stahlhelm bringen. Mit Westdeutschland dazu.

Noch mehr aber braucht Truman das robuste Ansehen Marshalls für die Dollardimensionen, die er für die Aufrüstung benötigt. Johnson hatte zu viel Kredit verloren.

Nicht nur 30 Milliarden, sondern. 50 Milliarden Dollar werden nach den neuesten Schätzungen notwendig sein, bis ein einigermaßen schlagkräftiger Wehrapparat steht. Dazu kommen etwa sechs Milliarden für die Aufrüstung in Europa und zwei Milliarden für den Ausbau der Atombombenproduktion.

Der lange schwelende Kompetenzkrach zwischen Pentagon (Verteidigungsministerium) und Foggy Bottom (Außenministerium) hatte nicht nur zwischen Offizieren und Diplomaten schon zu persönlichen Gehässigkeiten geführt, sondern auch seine Schatten auf die US-Weltpolitik geworfen. Johnson und Acheson waren sich über die internationale Situation stets uneinig.

Nun soll Marshalls starke Hand die auseinandergaloppierenden Kompetenzreiter auf eine gemeinsame Marschroute bringen. Das ist nicht leicht. Aber wenn einer es schafft, dann er.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 26 / 50
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten