Nachrüstung: »Ohne historische Parallele«
In der Wesermarsch ist Bombenstimmung.
Achthundert Meter vor dem Bremer Hauptbahnhof stoppt ein rotes Signal einen Munitionszug der US-Army, Dutzende junger Leute sitzen auf den Gleisen, von weither strömt Volk zusammen, alarmiert vom illegalen Sender »Radio Zebra«.
Im Stadtteil Hemelingen versperren brennende Autoreifen dem Militärtransport den Weg. In Nordenham blockiert ein Nahverkehrszug, durch Notbremsung zum Halten gezwungen, den nachfolgenden amerikanischen Bombenkonvoi.
Im Süden umzingeln derweil Zehntausende von Demonstranten die europäische Kommandozentrale der US-Army (Eucom) in Stuttgart und die Neu-Ulmer Wiley-Barracks - einen der vier bundesdeutschen Standorte, an denen die neue Atomrakete »Pershing 2« stationiert werden soll. Beide Blockade-Objekte verbindet eine hundert Kilometer lange Menschenkette.
Aktionen allerorten: In der Eifel, dem künftigen Quartier der Cruise Missiles, und in Frankfurt wird zum »Fasten für den Frieden« aufgerufen; Rathäuser und Provinz-Parlamente werden von Protestierern »besucht«; Kasernen und Waffendepots sind die Ziele »antimilitaristischer Spaziergänger«.
So könnte es kommen im Herbst. Sitzstreiks und Sabotageakte, »Latsch-Demos« und »direkte Konfrontationen«, friedfertige Willensbekundungen und provokative Gesetzesverstöße sind von Nachrüstungsgegnern für den westdeutschen Widerstandsherbst angesagt.
»Mehr als eine Million Menschen«, schätzen Organisatoren der Friedensbewegung, »werden auf den Beinen sein": Christlich geprägte Pazifisten, Gewerkschafter und Feministinnen, Grüne, Sozialdemokraten und Kommunisten, Umweltschützer, Kernkraftgegner, Hausbesetzer, viele auch, die einfach nur leben wollen, ohne anti-amerikanische oder pro-sowjetische Gebärde.
Neben traditionsreichen Verbänden wie etwa der »Aktion Sühnezeichen Friedensdienste«, die sich satzungsgemäß _(Beim Evangelischen Kirchentag in ) _(Hannover, mit Kirchentagspräsident ) _(Erhard Eppler (r.). )
um Verständigung unter den Nationen bemühen, oder den Gruppen der Ostermarsch-Veteranen aus den sechziger Jahren, die sich im »Komitee für Grundrechte und Demokratie« zusammengeschlossen haben, sprießen allerorten frische Friedensinitiativen.
Der sich anbahnende Protest reicht weit in die Parteien hinein. Vor allem die Sozialdemokraten, deren einstiger Kanzler Helmut Schmidt 1979 den sogenannten Nachrüstungsbeschluß mit entworfen hat, scheinen sich nun, in der Opposition, auf die pazifistischen Traditionen ihrer Partei zu besinnen.
SPD-Chef und Friedensnobelpreisträger Willy Brandt rief letzte Woche dazu auf, einer »Verselbständigung der Zerstörungsmechanismen« Einhalt zu gebieten. Die Bundestagsfraktion der SPD hat angekündigt, die Entscheidung über die Raketenaufstellung ins Parlament zu bringen, wo alle Abgeordneten in namentlicher Abstimmung Farbe bekennen sollen. In den Parteigliederungen mehren sich Beschlüsse wie der Aufruf, »gewaltfreien Widerstand gegen die nukleare Aufrüstung« zu leisten (SPD-Unterbezirk Bremen-Ost).
Die Grünen im Bonner Parlament sind übereingekommen, einer Anregung des Bundesverfassungsrichters Helmut Simon zu folgen: Die Alternativen wollen nächste Woche im Bundestag einen Gesetzentwurf für eine »konsultative Volksbefragung« einbringen, bei der sich »das Volk« am 25. September »klar und eindeutig mit Ja oder Nein« zur Stationierungsfrage äußern soll.
Kaum eine gesellschaftliche Großgruppierung, in der derzeit nicht das Grauen davor wächst, daß Deutschland »als nukleares Schlachtfeld verplant« wird (Flugblatt-Text): *___DGB-Chef Ernst Breit schloß letzte Woche zwar einen ____Generalstreik gegen die Raketenstationierung aus, will ____aber seine 7,85 Millionen Gewerkschafter zur Teilnahme ____an gewaltfreien Demonstrationen gegen die Nachrüstung ____aufrufen; *___zwei Drittel der über 130 000 Besucher des ____Evangelischen Kirchentags demonstrierten vorige Woche ____in Hannover mit violetten Tüchern »für ein Nein ohne ____jedes Ja zu Massenvernichtungswaffen« ____(Tuch-Aufschrift); *___Richter und Staatsanwälte - ein Berufsstand, der im ____Dritten Reich unbesehen Unrecht vollstreckte - ____schließen sich scharenweise der Protestbewegung an und ____werfen den Regierenden, einmalig in der deutschen ____Justizgeschichte, Verfassungsbruch vor; *___ein Großteil der naturwissenschaftlichen Forscher-Elite ____der Nation kommt aus dem Elfenbeinturm und will den ____"gesammelten Sachverstand in die Raketen-Diskussion ____einbringen«; zu Tausenden machen auch Ärzte, die zuvor ____allenfalls mal für standespolitische Interessen auf die ____Barrikaden gingen, Front gegen die Stationierung neuer ____Raketen; *___mobil macht das breite Spektrum der ____außerparlamentarischen Roten, Grünen und Bunten aller ____Schattierungen, von alternativen Aussteigern über ____pazifistische Radikalverweigerer bis hin zu ____K-Gruppen-Sektierern; *___selbst Kommunalpolitiker - sei es im lauenburgischen ____Klein-Pampau, sei es im bayrischen Eching - geben der ____Friedensbewegung Auftrieb, indem sie ihre Kommunen zu ____"atomwaffenfreien Zonen« proklamieren.
Kein Zweifel: Kaum ein Thema im Nachkriegsdeutschland hat bei den Bürgern so viele Emotionen geschürt, so viele Ängste geweckt wie die geplante Bestückung der Bundesrepublik mit 108 Pershing 2 und 96 Cruise Missiles, die angeblich nur dem Schutz des Landes dienen - und gleichwohl von großen Teilen der Bevölkerung als lebensbedrohend abgelehnt werden: Nach einer Sinus-Studie sind 61 Prozent der Westdeutschen zumindest für eine Verschiebung der Raketen-Aufstellung; 49 Prozent glauben, daß durch die neuen US-Waffen das Kriegsrisiko größer wird; nur 24 Prozent meinen, die Raketen machten den Frieden sicherer.
Nie zuvor auch ist die Gefahr einer gewaltsamen Eskalation so groß gewesen wie im Vorfeld der Stationierung. Denn wenn es Protestlern gelingt, die Sicherheitszäune von US-Militärarealen zu durchbrechen, stehen ihnen - anders als einst bei der Springer-Blockade in Berlin oder bei den Anti-Kernkraft-Demonstrationen in Brokdorf - nicht Polizisten mit Wasserwerfern und Knüppeln gegenüber, sondern US-Soldaten mit dem Befehl, auf jeden Eindringling ohne Warnung das Feuer zu eröffnen.
Weder der Aufbau einer neuen westdeutschen Armee (1952) noch die Diskussion um eine Atombewaffnung der Bundeswehr (1957), weder die Debatte um die Notstandsgesetze (1968) noch der Bau von Kernkraftwerken (seit Mitte der siebziger Jahre) haben einen derart breitgefächerten Widerspruch ausgelöst - eine Protestbewegung, für die es, wie die Deutsche Friedensgesellschaft/Vereinigte Kriegsdienstgegner triumphiert, »keine historische Parallele gibt«.
Selbst die Volkszählungsboykott-Aktionen, die im Frühjahr dieses Jahres wie
ein Flächenbrand auch gutbürgerliche Kreise erfaßt haben, werden von der Breite der Friedenskampagne noch übertroffen. Nur eines haben die Volkszählungsgegner den Nachrüstungsverweigerern bislang voraus: einen Erfolg beim Karlsruher Bundesverfassungsgericht, das den Zensus einstweilen aussetzte.
Die Chance einer Verfassungsbeschwerde hatte vorletzte Woche der BGH-Richter Heinz Recken in einem Rundfunk-Interview erörtert. Durch die Nachrüstung sei »unsere Existenz unmittelbar bedroht«; dafür gebe es »keinerlei gesetzliche Legitimation«. Mithin sei die Entscheidung über die Stationierung der neuen Mittelstreckenraketen nicht allein Sache der Bonner Regierung, sondern müsse ausdrücklich von Bundestag und Bundesrat beschlossen werden.
Am Samstag nach Reckens Vorstoß versammelten sich in Bonn rund 450 Richter und Staatsanwälte, die meisten von ihnen in der Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV) organisiert, zu einem »Forum für den Frieden« und sangen, entgegen sonstigem Komment, Friedenslieder: »Die ganze Menschheit stimmt mit uns ein: Wir wollen frei von Atomwaffen sein.«
Massiv appellierten die Juristen an die Abgeordneten des Bundestages, »irreparablen Schaden vom deutschen Volk und seiner Rechtsordnung abzuwenden«. Kernsätze: *___"Die geplante Stationierung ist mit dem in Artikel 2 ____Absatz 2 Grundgesetz verankerten Schutz des Lebens und ____der körperlichen Unversehrtheit unvereinbar.« *___"Die geplante Stationierung ist unvereinbar mit dem in ____der Präambel des Grundgesetzes, in Artikel 1 Absatz 2, ____Artikel 9 Absatz 2 und vor allem Artikel 26 Grundgesetz ____niedergelegten Verfassungsgebot der ____Friedensstaatlichkeit.« *___"Weiter bedeutet es eine durch Artikel 24 Grundgesetz ____nicht gedeckte, unerträgliche Preisgabe der ____Souveränität unseres Staates, daß die Entscheidung über ____den Einsatz der auf unserem Boden stationierten ____Massenvernichtungswaffen allein dem amerikanischen ____Präsidenten anvertraut wird.«
Das Friedensforum forderte die Anhörung betroffener Bürger wie beim Bau von Atomkraftwerken und regte an, Vorschläge für eine konsultative Volksbefragung zu prüfen. Denn: »Auf dem Spiel steht nicht nur unsere Verfassungs- und Rechtsordnung, sondern die physische Existenz unseres Volkes.«
Den Aufbruch unter Juristen hat vor allem der Bremer Rechtsprofessor Wolfgang Däubler mit seiner Studie »Stationierung und Grundgesetz« beflügelt. _(Wolfgang Däubler: »Stationierung und ) _(Grundgesetz«. rororo aktuell 5018; ) _(Rowohlt-Verlag, Reinbek; 222 Seiten; ) _(8,80 Mark. )
Däubler dreht und wendet erschöpfend alle völker- und verfassungsrechtlichen Fragen, die Pershing und Cruise Missiles aufwerfen. Däublers Fazit: Rechtsbruch auf der ganzen Linie. »Man muß fast annehmen, daß du recht hast«, sagte der ehemalige Bundesverfassungsrichter Martin Hirsch auf der Bonner Tagung; niemand habe in der Fachliteratur widersprochen.
Zum Schutz gegen »die Völkerrechts- und Verfassungswidrigkeit der Stationierung von Massenvernichtungswaffen« verweist Däubler auf verschiedene Rechtswege. Staatsorgane und Bundesländer könnten das Bundesverfassungsgericht anrufen, zumindest betroffene Bürger dort Verfassungsbeschwerde erheben - wie sie beispielsweise der Hamburger Rechtsprofessor Norman Paech für die Bürger der Gemeinde Klein-Pampau vorbereitet und drei Liberale Demokraten in Heidelberg und Mannheim bereits eingereicht haben.
Dennoch, um ein reines Rechtsproblem handele es sich nicht. Däubler: »Ein Durchbruch läßt sich auch dort nicht allein mit juristischen Argumenten, sondern nur dann erreichen, wenn eine mächtige soziale Bewegung existiert, die sich mit den geplanten Maßnahmen nicht abfinden will.«
Für den »alltäglichen Widerstand« haben sich Friedensfreunde teils Praktisches, teils Phantastisches ausgedacht: »Rüstungssteuerboykott«, dem sich schon Hunderte in der Bundesrepublik angeschlossen haben; Graffiti an Häuserfassaden ("Kohl liebt dich: Nato"); Zielgruppenarbeit ("Hausarzt fragen, ob er sich an der Aktion ''Ärzte gegen den Atomkrieg'' beteiligt, und gegebenenfalls Arztwechsel"); eigene Radiosender, die den Friedensanhang auf dem laufenden halten sollen.
Zur ersten großen Konfrontation zwischen Peace und Power könnte es noch diesen Monat in Krefeld kommen; US-Vizepräsident George Bush und Kanzler Kohl wollen am 25. Juni anläßlich einer Jubiläumsfete ("300 Jahre Deutsche in Amerika") den Namen der Stadt, der verknüpft ist mit dem von über drei Millionen Raketengegnern unterzeichneten »Krefelder Appell«, zu einem Symbol ungetrübter deutsch-amerikanischer Gemeinsamkeit umwidmen.
Rund 20 000 Friedensbewegte ("Kein Tusch für Bush") werden von den Organisatoren einer Gegenveranstaltung erwartet, mit der die »Provokation des Bush-Besuchs« beantwortet werden soll. Höhepunkt: Die Protestierer umschließen als »Lebenswall« die Innenstadt (siehe Seite 128). In Bottrop, wo der »Circus Bush & Kohl« danach gastiert, sollen die Akteure nach dem Plan der lokalen Friedensinitiative durch eine »Schweigegasse«, ein Spalier friedfertiger Demonstranten, einziehen.
In Mutlangen bei Schwäbisch Gmünd, neben Neu-Ulm, Neckarsulm und Heilbronn vierter Pershing-Standort der Amerikaner, wollen sich örtliche Aktionsgruppen und prominente Rüstungsgegner verbünden. Anfang September, zum »Anti-Kriegs-Tag« der Gewerkschaften, setzen sich Namhafte wie Heinrich Böll und Barbara Rütting, Walter Jens und Horst-Eberhard Richter gemeinsam mit Namenlosen aus der Friedensbewegung auf die Zufahrtswege zum Militärcamp. »Wir wollen«, sagt Klaus Vack von der Gruppe »Friedensmanifest«, »das Risiko des gewaltfreien Widerstands nicht den jungen Leuten allein überlassen.«
Die Kampagne gipfelt in einer »Aktionswoche« vom 15. bis 22. Oktober. Der Sonntag, »Widerstandstag der Kirchen«, wird mit ökumenischen Gottesdiensten oder auch der »Liturgie der Indianer« begangen. Am Mittwoch, dem _(Ausschnitt aus dem BBU- »Umweltmagazin« ) _(("Zum Hinfahren, Angucken, Blockieren"), ) _(das die Standorte von Pershing 1 und ) _(Pershing 2 veröffentlichte. )
»Widerstandstag der Arbeiter, Betriebe, sozialen Einrichtungen und Landwirte«, sollen Rüstungsfabriken bestreikt und »Manöverschäden in der Landwirtschaft« diskutiert werden. Wehrkundeerlaß, »Berufsverbote für Friedenshetzer« und »Schweigen für den Frieden« stehen am Donnerstag, dem »Widerstandstag der Schulen«, auf dem Programm.
Zum furiosen Finale der bundesweiten Spektakel sollen dann am Samstag alle auf den Beinen sein, die den atomaren Holocaust fürchten: »Jede Menge Blockaden« von Kernwaffenlagern, Startrampen und Kasernen in allen Winkeln der Republik, Kundgebungen ("Volksversammlungen") in Bonn, Hamburg, Stuttgart und Neu-Ulm sind geplant.
Allein an der »Menschenkette« quer über die Schwäbische Alb müßten sich, soll sie eindrucksvoll sein, 100 000 Menschen beteiligen. Die Veranstalter sind zuversichtlich: »Was gilt die Wette, wir schaffen die Kette!« Willi Hoss, Stuttgarter Grünen-MdB, findet, wenn dies nicht gelinge, »dann können wir den Kampf gegen die Nachrüstung gleich an den Nagel hängen«.
Rechnen können die Veranstalter jedenfalls mit vielen Mitstreitern aus der SPD, in der sich selbst führende Genossen mehr und mehr düpiert fühlen von »Ton und Politik der neuen amerikanischen Administration«, die zu einem »Klima zunehmender Konfrontation« zwischen Ost und West beigetragen hätten (Fraktionsvize Horst Ehmke).
Die potentielle Stationierung - so heißt es in einer von Ehmke verfaßten »Handreichung der SPD-Bundestagsfraktion zur Politik des westlichen Bündnisses, zur Strategie-Debatte und zu den Genfer Verhandlungen« - sei »unter sehr anderen politischen Bedingungen beschlossen worden«.
Die Sozialdemokraten zeigen sich wie viele andere Bundesbürger irritiert durch einen radikalen Schwenk der amerikanischen Außenpolitik: Die einstigen Verteidigungsstrategien des Pentagon sind weitgehend abgelöst worden durch Überlegungen über einen »gewinnbaren Atomkrieg«, die auch einen sogenannten Präventivschlag einkalkulieren. Als neue Leitlinie formulierte das Pentagon 1982 die »Enthauptung« ("decapitation") des Gegners mittels vernichtender Hiebe »gegen die politische und militärische Führung und gegen die Kommunikationszentren der Sowjet-Union«.
Beim derzeitigen Stand der Genfer Verhandlungen, schätzt SPD-Sicherheitsexperte Egon Bahr, würde bei einer Abstimmung das ablehnende Votum der Sozialdemokraten zur Nachrüstung »die 90 Prozent wohl übersteigen« - von den Parteilinken Erhard Eppler und Oskar Lafontaine bis zu alten Atlantikern wie Hans Apel und vielleicht sogar Helmut Schmidt.
Dabei hatte Schmidt noch am Tag seiner Abwahl, am 1. Oktober vorigen Jahres, die Stationierung verlangt, wenn die Verhandlungen »trotz größter Anstrengungen unserer amerikanischen Freunde« erfolglos blieben. An deren ernsthaftem Verhandlungswillen jedoch zeigt neuerdings selbst der Ex-Kanzler »Zweifel« (siehe Seite 21).
Um nicht in den Ruf zu geraten, die Genfer Verhandlungen zu torpedieren, will die SPD-Führung ihre Entscheidung bis zum Parteitag Anfang November offenhalten. Dann freilich ist laut Stationierungsfahrplan der Zug schon abgefahren - Schmidt im vergangenen Jahr: »Wenn es bis September 1983 kein Verhandlungsergebnis gibt, kommt im Dezember 1983 die Stationierung.« Willy Brandt hält es denn auch für »besser, man verhandelte noch eine Runde weiter, wenn es sich zeigt, daß es sich lohnt zu verhandeln, als einfach auf den Kalender zu gucken«.
Auf jeden Fall soll, so Fraktionschef Hans-Jochen Vogel, das Parlament zur Stationierung »klipp und klar Stellung« nehmen. Zwar haben die Abgeordneten schon einmal, im Mai 1981, der »konsequenten und zeitgerechten Verwirklichung des Beschlusses der Nato vom 12. Dezember 1979 in seinen beiden Teilen« zugestimmt. Aber, argumentieren die Sozialdemokraten, weil der Verhandlungspart bislang nicht erfüllt sei, entfalle auch die Geschäftsgrundlage für den Raketenaufbau. »Wir bleiben«, betont Bahr, »den von uns selbst aufgestellten Kriterien treu.«
Helmut Kohl indes will sich weder von parlamentarischem Einspruch noch von außerparlamentarischen Aktionen oder von verfassungsjuristischen Einwänden beeindrucken lassen. Die Regierung werde nicht erlauben, kündigt der Kanzler an, daß »Minderheiten darüber entscheiden, was rechtlich und moralisch ist«.
Soviel Selbstgerechtigkeit wiederum provoziert die außerparlamentarische Opposition. Gegen eine »Entwicklung zur Katastrophe hin«, erklärt etwa Günter Graß, »kann nur noch Widerstand helfen«. Als mögliche Maßnahmen nennt er »die Verweigerung des Befehls, den permanenten und einfallsreichen Protest, den das Völkermordpotential verdammenden Einspruch der Kirchen und schließlich den Generalstreik«.
Der christliche Zweig der Friedensbewegung hat schon Generalappell gehalten. Elf ökumenische Friedensorganisationen, zumeist Dachverbände wie die überwiegend protestantische Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden (AGDF) oder die katholische Initiative Kirche von Unten, hatten ihre weit über 100 Mitgliedsverbände zur »Friedenskampagne« auf den Evangelischen Kirchentag nach Hannover getrommelt.
Dort steckten die Organisatoren der Kampagne, zumeist Angestellte der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste, den Rahmen für den Raketenherbst ab: Appelle zu unterschreiben oder in einer Demonstration mitzuziehen reicht ihnen »zur Zeit nicht mehr aus« (Pfarrer Wolfgang Raupach), weshalb sie für den Herbst zu »Aktionen des zivilen Ungehorsams« aufrufen, »absolut gewaltfrei, versteht sich« (Kampagne-Sprecher Andreas Zumach).
Was die Christen-Gruppen tun können - vom öffentlichen Fasten über Diskussionen mit Polizei und Militär bis zu Sitzstreik und Kirchenbesetzung -, findet sich erstmals in einer Antikriegsfibel für christliche Protestler ("Gewaltfreies Handeln in der Bewährung"), herausgegeben von der AGDF. Im Anhang stehen Adressen und Telephonnummern von 102 Anwaltskanzleien - weil die Aktionen »ein beträchtliches Risiko für den einzelnen mit sich bringen und harte
Reaktionen der Gegenseite auslösen können«.
Daß Christen-Kampagnen im Konzert bundesdeutscher Nachrüstungsgegner eine erhebliche Rolle spielen, belegt die Beteiligung kirchlicher Gruppen an der geplanten Aktionswoche im Oktober: Von den 26 Mitgliedsorganisationen des Bonner Koordinierungsausschusses sind immerhin sechs christlich orientiert.
Allerdings: Daß Protestanten und Katholiken in einer Schlachtreihe mit den Ökopaxen vom Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), den sozialdemokratischen »Falken« und der DKP-nahen Sozialistischen Deutschen Arbeiterjugend marschieren, paßt dem kirchlichen Establishment noch immer nicht ins Konzept.
Zwar haben sich in Stellungnahmen katholischer wie protestantischer Kirchenführungen die Akzente teilweise erheblich zuungunsten der Nachrüstung verschoben. Viele Kirchenführer aber sind gegenüber der Friedenskampagne noch immer auf Distanz bedacht. Der Bischof der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe, Joachim Heubach, etwa empfand die Friedensaktionen der violetten Front auf dem hannoverschen Kirchentag als »selbstgerechte und unevangelische Gewissensnötigung«.
Ebenso harsch lehnen Gewerkschaftsbosse ab, was ihnen Teile ihrer Basis zumuten wollen: »Kundgebungen während der Arbeitszeit, notfalls auch Streiks bis hin zum Generalstreik« (so ein Beschluß des hessischen Landesbezirks der IG Druck und Papier).
Der DGB rief seine Mitglieder zur Teilnahme an den Großdemonstrationen am 22. Oktober auf, schränkte aber ein, daß zwei Bedingungen erfüllt sein müßten: DGB-Sprecher sollen die »gewerkschaftliche Position zu Frieden und Abrüstung« (Breit) vortragen dürfen, »Anwendung von Gewalt in jeder Form« müsse ausgeschlossen sein.
Doch just die Frage, wie sie es mit der Gewaltfreiheit halte, bedroht die Einheit der Friedensbewegung. So wurde bei zwei Regionalkonferenzen der vereinigten Friedensgruppen am vorletzten Wochenende in Ulm und Hannover sichtbar, daß, wie ein norddeutscher Delegierter sagte, die Bewegung »in zwei Strömen auseinanderdriftet": *___Die einen sind für »Verbreiterung des Widerstands« ____durch medienwirksame Massendemonstrationen nach dem ____Vorbild der Bonner Großkundgebung im Oktober 1981, als ____sich 300 000 Menschen versammelten; die Verfechter ____dieser Strategie halten sich strikt an Recht und ____Ordnung, rekrutieren sich aus Linksparteien und ____Gewerkschaften und werben um bürgerliche Fußtruppen bis ____hin zu den Kriegsopferverbänden. *___Die anderen sind für »Verschärfung des Widerstands« ____durch dezentrale »direkte Aktionen« vor einer Vielzahl ____von Militärobjekten; sie verstehen sich als »jener Teil ____der Friedensbewegung, der unabhängig von traditionellen ____oder parteipolitischen Organisationen autonome ____Friedensarbeit an der Basis macht«, und bekennen sich ____zu »zivilem Ungehorsam als neuer Qualität des ____Widerstands«.
Wie schwer die beiden Lager zusammenfinden, zeigte sich in Hannover: Nachdem sich die Autonomen, etwa ein Viertel der tausend Delegierten, gegen das, wie sie es nennen, »DKP/SPD-Spektrum« nicht hatten durchsetzen können, zogen sie aus der Versammlung aus - sie wollen nun, »um aus diesem Dilemma einen Ausweg zu finden«, gesondert beratschlagen, ob sie doch noch mit der Mehrheit in Hamburg demonstrieren, ob sie in Bremerhaven »Formenmix« praktizieren »oder was sonst«.
Bei der Ulmer Parallel-Veranstaltung fanden die konträren Gruppierungen gerade noch den rettenden Kompromiß - eine Verknüpfung beider Widerstandsformen. Gleichwohl hegte ein Friedensfreund Zweifel, »wie viele solcher Konferenzen die Friedensbewegung noch aushält«.
Für diejenigen, deren Vorbild etwa Mahatma Gandhi ist, würde, so Wolfgang Sternstein vom BBU, die Ökologie- und Friedensbewegung »unglaubwürdig«, wenn sie »Leben verletzte oder zerstörte«. Darüber hinaus sei es »unsinnig, mit Steinen und Mollies gegen einen Gegner anzutreten, der über nahezu unbegrenzte Machtmittel« verfüge.
Die Gegner des gewaltfreien Widerstandes hingegen lehnen eine Festlegung auf Gewaltfreiheit als »ideologisch« ab. Die Gewalt gehe schließlich von denen aus, die neue Raketen stationieren wollen; Gewalt von seiten der Friedensbewegung sei daher »eine notwendige und legitime Notwehrmaßnahme«.
In Trainingscamps machen sich die Anhänger der Gewaltfreiheit derweil für den »Ernstfall« fit. Mit »Aktionsrollenspielen« üben sie, Aggressionen unter Kontrolle zu halten: Einige mimen, mit Papprohren und Motorradhelmen bewehrt, Polizisten; die Demonstranten-Darsteller lassen sich auf dem Boden nieder und blockieren ein fiktives Tor; eine dritte Gruppe spielt die Rolle von Provokateuren, die den Sitzstreik zur Randale aufzuheizen versuchen.
Eine Auslegungsfrage ist es indes, wie Gewaltfreiheit definiert wird. »Die Sperrung eines amerikanischen Arsenals« etwa ist für Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann »schon ein Akt von Gewalt«.
Der Unionschrist sieht das Land bereits vor dem Chaos: »Sollten die illegalen ''direkten gewaltfreien Aktionen'' und der ''zivile Ungehorsam'' auch nur annähernd das von ihren Propagandisten gewünschte Ausmaß erlangen«, analysiert ein Bericht des Ministeriums (Titel: »Linksextremistischer Einfluß und sicherheitsgefährdende Tendenzen in der Kampagne gegen die Nato-Nachrüstungs-Aktionsplanung 1983"), »so könnte die innere und eventuell auch die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zumindest zeitweise beeinträchtigt werden.«
Zudem müsse damit gerechnet werden, »daß militante Gruppen größere Konfrontationen für gewalttätige Aktionen nutzen werden«. Für diesen Fall will sich Zimmermann mit einem verschärften Demonstrationsstrafrecht wappnen: Nach dem Prinzip »Mitgehangen, mitgefangen« könnten, wenn es zu Ausschreitungen kommt, neben Randalierern auch friedliebende Demonstranten einkassiert werden.
Die Protestierer sollen nach Zimmermanns Konzept freilich keine Chancen haben, bis in unmittelbare Nähe von Camps und Kasernen vorzudringen. Polizei und Bundesgrenzschutz schirmen die Standorte weiträumig ab.
Allerdings: Wenn es den Demonstranten doch gelänge, die Absperrungen und Sicherheitszäune zu durchbrechen und in den Sperrbezirk vorzustoßen, dann mag der Innenminister »nicht ausschließen«, daß es zu Zusammenstößen zwischen Militanten und Militär kommen kann.
Zimmermann: »Auch darauf muß man sich vorbereiten.«
Beim Evangelischen Kirchentag in Hannover, mit KirchentagspräsidentErhard Eppler (r.).Wolfgang Däubler: »Stationierung und Grundgesetz«. rororo aktuell5018; Rowohlt-Verlag, Reinbek; 222 Seiten; 8,80 Mark.Ausschnitt aus dem BBU- »Umweltmagazin« ("Zum Hinfahren, Angucken,Blockieren"), das die Standorte von Pershing 1 und Pershing 2veröffentlichte.