OBERLÄNDER Nachtigall in Lemberg
Der CDU-Ehrenrat, ein Fünf-Männer-Gremium der Bonner Staatspartei, ist jetzt die dritte Institution, die sich vorgenommen hat, die diffizile Frage zu prüfen, ob der Bundesvertriebenenminister Theodor Oberländer für sein hohes Amt weiterhin tragbar ist oder nicht. Die Entscheidung über die Frage soll nach dem Willen der CDU allein davon abhängen, ob der Minister kriminelle Handlungen begangen hat, als er mit einem 600 Mann starken ukrainischen Bataillon namens Nachtigall am 30. Juni 1941 in Lemberg einmarschierte.
Das erste Gremium, der »Internationale Untersuchungsausschuß Lemberg 1941«, der sich in Holland konstituierte, um Theodor Oberländers Lemberger Zeit zu überprüfen, hat sich inzwischen selbst derart diskreditiert, daß seinem Untersuchungsergebnis keine große Überzeugungskraft zugemessen werden kann.
Die Behörde des Oberstaatsanwalts in Bonn hat den Minister zu den Anschuldigungen gehört, die gegen ihn erhoben wurden.
Die dritte Institution ist nun der CDUEhrenrat. Es steht zu befürchten, daß angesichts solcher Zersplitterung die vielfältigen Zeugnisse über Oberländers Wirken beim Bataillon Nachtigall nirgendwo so komplett und lückenlos zusammenkommen, wie es zum Zwecke der Wahrheitsfindung dienlich wäre.
Eine lückenlose Dokumentation des Oberländer-Lebens wird zudem dadurch erschwert, daß sich große Teile der Personalakten des Professors aus brauner Zeit in der Hand der Sowjetzone befinden, weil sie im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung geführt worden sind. Bisher wurden nur jene Teile daraus von der DDR publiziert, die den Minister belasten. Feststeht, daß der Königsberger Professor Theodor Oberländer sich zumindest zeitweise hoher Gunst erfreute. Er wurde dann allerdings nach Greifswald versetzt, weil ihm - so sein Entnazifizierungs-Urteil 1947 - »das Fehlen geheimer Reichssachen zur Last gelegt« wurde.
Das Reichskriegsministerium verwendete sich energisch dafür, Oberländer nach Berlin zu holen. Vergebens. Dafür wurde der Leutnant der Reserve Oberländer immer wieder zu Übungen bei der Abwehr II einberufen, um seine unbestrittenen Ostkenntnisse in den Dienst der Wehrmacht zu stellen.
Nach Kriegsausbruch hatte die Abwehr für den Professor eine besondere Aufgabe. Bei der Zerschlagung Polens im September 1939 waren polnische Soldaten aus dem Raum Przemysl/Lemberg in deutsche Kriegsgefangenschaft gefallen, die ukrainischer Nationalität waren und aus denen die Abwehr eine Truppe zu rekrutieren gedachte, mit denen die Sowjet-Ukraine zersetzt werden könnte.
Im Winter 1940/41 wurde aus rund 600 dieser Männer und etwa 60 deutschen Unteroffizieren auf dem Truppenübungsplatz Neuhammer bei Liegnitz das Bataillon Nachtigall gebildet, und am 8. Mai 1941 stieß Oberländer als Dolmetscher, Ost-Sachverständiger und Ausbilder zu dieser Einheit, »die ihren Namen Nachtigall daher hatte, daß sie sehr gut singen konnte, sie konnte es mit jedem Don-Kosakenchor aufnehmen. Mit diesem Gesang sollte sie auch propagandistisch wirken"(Oberländer). Außer mit ihren Stimmen waren die Nachtigallen allerdings auch mit Handfeuerwaffen gesegnet. »Die Aufgabe war propagandistisch und natürlich militärisch, kämpferisch.«
Die militante Ausbildung der Ukrainer ging schnell vonstatten, weil die meisten auf ihren Erfahrungen in der polnischen Armee fußen konnten, und als Hitlers Angriff auf die Sowjet-Union begann, standen die Nachtigallen dicht an der deutsch-sowjetischen Demarkationslinie, nicht allzuweit vor dem sowjetisch besetzten Lemberg.
Es war Oberländers Meinung, daß Deutschland den europäischen Osten am sichersten beherrschen könne, wenn man den Völkern der Sowjet-Union nationale Ziele setze und sie menschenwürdig behandele, eine Idee, die - wenn man dem deutschen Volk schon eine Führungsrolle in Osteuropa zuerkennen wollte - an sich mehr Erfolg versprach als die amtliche NS-Ideologie vom bolschewistischen Untermenschen.
In diesem Geiste hatte Oberländer die Nachtigallen gedrillt. »Ich darf auch sagen, daß das Unteroffizierkorps wie die Mannschaft selbst erzogen war zu einer sehr guten Behandlung der Bevölkerung, abgesehen davon, daß ja diese Menschen in ihre eigene Heimat kamen und natürlich die Auffassung hatten, dort als Befreier aufzutreten.« Eins hatte Oberländer ihnen eingebleut, soweit das überhaupt noch nötig war: fanatischen Haß auf die Bolschewisten.
Am Morgen des 22. Juni 1941 - des Tages, an dem Hitler die Sowjet-Union angriff - warf die deutsche Luftwaffe Bomben auf Lemberg. In den Gefängnissen der Stadt waren antikommunistische Polen und Ukrainer zusammengepfercht, die von den Sowjets festgesetzt worden waren, nachdem Hitler das Gebiet 1939 seinem Paktpartner Stalin zugesprochen hatte.
Görings Flieger machten deutlich, daß die Wehrmacht vor den Toren stand. Sowjetische Stäbe und Dienststellen begannen hastig zu packen, und in diesem allgemeinen Durcheinander versuchten ukrainische Nationalisten am 25. Juni - drei Tage nach dem Luftangriff - sich gegen die abziehenden Sowjets zu erheben, um die politischen Gefangenen zu retten.
Der Aufstand mißlang, und die Sowjets liquidierten - am 27. und 28. Juni - etwa 2400 Häftlinge, die der Aufstand hatte befreien sollen, durch Genickschüsse.
Oberländers Bataillon »Nachtigall« war am 22. Juni über den San gesetzt, die deutsch-sowjetische Demarkationslinie, und stand am 29. Juni, vier Tage nach dem Ukrainer-Aufstand in Lemberg, acht Kilometer vor der Stadt, die gerade von den letzten Sowjets geräumt wurde.
Oberländer: Zum Gefechtsstand kamen Nachrichten, daß in Lemberg ein großer Teil der Zivilbevölkerung erschossen würde und daß es dringend nötig sei, sofort einzugreifen. Das ist der Grund dafür, warum wir damals am 30. früh - um 2 Uhr sind wir aufgebrochen -, etwa um 3.15 Uhr, ohne Kampfberührung mit dem Gegner in Lemberg eingezogen sind.« Das Bataillon »Nachtigall« machte seinem Namen Ehre und sang beim Einmarsch ein altes Kampflied der Ukrainer aus der Schlacht von Kamenez-Podolsk*.
Bald boten sich den Nachtigallen scheußliche Bilder, an die Oberländer sich noch deutlich erinnert: »Ein Gefängnis ist damals zugemauert gewesen und dann in den nächsten Tagen wieder geöffnet worden. Dort sahen wir, daß zwischen die Leichen Erde geschüttet worden war. Das Gefängnis war abgebrannt ... So wie der Einmarsch ein wirklich tiefgefühltes Glücksgefühl, ein erhebendes Erlebnis war, so war das, was wir in den Gefängnissen gesehen haben, wohl das Furchtbarste, was man in diesem Kriege erlebt hat.«
Die Maßnahmen der Oberländerschen Nachtigallen waren dazu angetan, den Haß der Ukrainer auf die Kommunisten unbändig zu steigern. Oberländer: »Unter den Gefängnisinsassen waren auch verschiedene Verwandte der Ukrainer bei der Einheit Nachtigall, zum Beispiel Brüder ... Wir haben die Leichen ausgelegt, um der Bevölkerung die Möglichkeit der Identifizierung zu geben, obwohl das nach einem Genickschuß außerordentlich schwer ist.«
Neutrale Journalisten wurden herangeschafft. Am 7. Juli berichtete »Stockholms Tidningen": »Die Russen hatten kurz vor ihrem Rückzug das 'Brigitte-Gefängnis' in Brand gesetzt. In den Kellern hatten die Kommunisten die Toten in Schichten aufgestapelt. Über jede Schicht war eine Lage Sand gestreut worden, damit man über sie gehen konnte. Und dann kam die nächste Schicht. Ich fand keine lebenden Gefangenen mehr vor.«
Der Ukrainer bemächtigte sich ein nationaler Rausch. Erinnert sich der Lemberger Jude Eliahu Jones, heute Rundfunkredakteur in Jerusalem: »Ich sah große Plakate von ukrainischen Nationalisten, die unter der Leitung von Stefan Bandera standen.«
Theodor Oberländer vor der Bundespressekonferenz: »Wir sind damals mit Blumen überschüttet worden.«
Eliahu Jones: »Es gab weiterhin Aufrufe und Hochrufe auf Bandera und Hitler. Man forderte auf zur Vernichtung von Juden und Kommunisten, damit endlich Ordnung in die Verhältnisse komme.«
Theodor Oberländer: »Da war damals eine große ukrainische Gruppe, die die National-Regierung ausrufen wollte und die auch zum Sender gegangen sind.«
So präzise Theodor Oberländers Gedächtnis arbeitet, wenn es um die Mordtaten der Sowjets und die nationale Begeisterung der Ukrainer geht - von dem, was als Rache für das kommunistische Blutbad geschah, hat sich in sein Gedächtnis nichts eingeschrieben.
Dabei hätten diese Ereignisse eindrucksvoll eine Erkenntnis bestätigt, die Pg. Oberländer schon 1937 bei einer Arbeitstagung des von ihm geleiteten »Bundes Deutscher Osten« in Stuttgart äußerte
»Eingehend sprach der Redner«, so berichtete danach der Stuttgarter »NSKurier«, »auch über die Judenfrage im gesamten osteuropäischen Raum. Er betonte hier, daß sich gerade das assimilierte Judentum, das im osteuropäischen Raum vorhanden sei, als der beste Propagandist des Bolschewismus erweise. Dagegen sei das echte Bauerntum in ganz Osteuropa antisemitisch eingestellt.«
In der Praxis hat diese Erkenntnis nach der »Ereignismeldung UdSSR Nr. 24« des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD folgendermaßen Ausdruck gefunden: »Die ukrainische Bevölkerung zeigte in den ersten Stunden nach dem Abrücken der Bolschewiken eine begrüßenswerte Aktivität gegen die Juden ... In Lemberg trieb die Bevölkerung etwa 1000 Juden unter Mißhandlungen zusammen und lieferte sie in das von der Wehrmacht besetzte GPUGefängnis ein.« Dieses Ereignis ist auf den 30. Juni zu datieren, jenen Tag, an dem Oberländer ein »wirklich tiefgefühltes Glücksgefühl« wegen des Einmarsches empfand.
»Ist Ihnen bekannt«, wurde Oberländer auf der Bundespressekonferenz gefragt, »daß außer Ihrer Einheit 'Nachtigall' noch andere ausländische Staatsangehörige dort in Uniform waren?«
Oberländer: »In den Tagen, in denen wir da waren, nicht. Wir waren bis 6. Juli abends da und sind am 7. früh ausgezogen.«
An das, was am 30. Juni geschah - an dem Oberländers Nachtigallen also die einzigen deutsch-uniformierten Ukrainer in Lemberg waren -, hat der israelische Staatsbürger Abraham Goldberg diese Erinnerung: »Am Montag, 30. Juni 1941, kam ukrainische Hilfspolizei in unsere Wohnung und nahm mich zur 'Arbeit', wie sie sagten. Aus demselben Haus nahmen sie noch vier Jungen ...
»Wir wurden auf die Lackiegostraße geführt, in ein Haus, das während der russischen Besetzung Lembergs (1939 bis 1941) als Gefängnis für politische Gefangene diente. Dort wurden wir Ukrainern in deutscher Uniform übergeben, die unter dem Befehl deutscher Offiziere standen, die auch anwesend waren. Im Hof dieses Hauses sahen wir ungefähr 100 Leichen von politischen Gefangenen, die die Russen vor ihrem Rückzug erschossen hatten. Wir mußten diese Leichen auf Lastautos aufladen.
»Nach dem Aufladen gab ein Offizier den Befehl zum ,Spießrutenlaufen'. Daraufhin stellten sich die Ukrainer in zwei Reihen auf, alle hatten Gewehre( und pflanzten die Bajonette auf. Wir mußten durch die Reihen laufen, während sie mit den Kolben auf uns einschlugen und stachen. Mit mir waren etwa 500 Juden dort, und fast alle wurden von den Ukrainern erschlagen, auch meine beiden Freunde. Ich entging dem Tode nur dadurch, daß ich mich fallen ließ und andere Juden auf mich fielen. Eine andere Gruppe von Juden wurde später gebracht, um uns aufzuladen auf Lastautos, und so konnte ich entkommen.«
Ein anderer Zeuge, der israelische Rundfunkredakteur Eliahu Jones, erinnert sich
- wie Theodor Oberländer - an die nationale Begeisterung der Ukrainer, aber auch an das abgebrannte Gefängnis, in dem die Sowjets vor dem Abmarsch ihre Häftlinge getötet hatten: »Am 30. Juni 1941 waren alle Geschäfte in der Stadt geschlossen. Ich erfuhr jedoch, daß es noch in einem Geschäft Brot geben sollte, und machte mich dorthin auf den Weg.
»Unterwegs wurde ich von einem ukrainischen Posten angehalten und aufgefordert, meinen Paß zu zeigen. Als er erfuhr, daß ich Jude bin, schlug er mich mit der Faust ins Gesicht. Der Posten verhaftete mich und führte mich in das Gefängnis Brigidki.
»Der Posten, der mich verhaftete, trug eine blaugelbe Armbinde. Auf dem Platz vor dem Gefängnis waren Tausende Juden zusammengetrieben. Immer mehr Juden wurden von den Ukrainern mit den blaugelben Armbinden herangeschleppt.
»Zusammen mit anderen Juden wurden wir vorbei an einem Spalier deutscher Soldaten in den Hof des abgebrannten - noch immer rauchenden - Gefängnisses getrieben, um Leichen abzutransportieren. Es wurden immer neue Juden herangeführt und erschossen.«
Aber nicht nur deutsch-uniformierte Ukrainer und Hilfspolizisten in Zivil mit blaugelber Armbinde beteiligten sich an den Pogromen. In der »Ereignismeldung UdSSR Nr. 24« des Chefs der Sicherheitspolizei und des SD heißt es über jene Tage in Lemberg auch noch: »Von der Sicherheitspolizei wurden 7000 Juden zur Vergeltung für die unmenschlichen Greueltaten (der Sowjets) zusammengetrieben und erschossen.«
Eine Einsatzgruppe der Gestapo verhaftete in der Nacht vom 3. auf den 4. Juli schließlich etwa 30 polnische Professoren der Universität Lemberg, die seitdem verschwunden sind.
Von allem hat Theodor Oberländer, Dolmetscher der einzigen in Lemberg anwesenden Wehrmacht-Einheit, nichts bemerkt, wie er heute sagt: »Ich kann sagen, daß in den sechs Tagen, in denen Nachtigall in Lemberg gewesen ist, kein Schuß gefallen ist und daß mir auch nicht ein einziger Fall irgendwelcher Gewalttätigkeit bekannt ist ... Ich habe in den ersten sechs Tagen dauernd die Wachen kontrollieren müssen, die zum Objektschutz von 'Nachtigall' ausgestellt worden waren. Ich bin in Lemberg dauernd unterwegs gewesen und kann Ihnen sagen, 'daß in Lemberg von ,Nachtigall' ... in diesen sechs Tagen nicht ein Schuß gefallen ist.«
Es hat bisher nicht an Versuchen gefehlt, die eklatanten Widersprüche aufzuklären, die zwischen der Erinnerung Theodor Oberländers einerseits und den amtlichen SD-Berichten sowie präzisen Schilderungen unverdächtiger Tatzeugen andererseits klafften. Manche meinen, der Minister habe damals tatsächlich nichts wahrnehmen können, weil die Ukrainer sich trotz des bolschewistischen Blutbads äußerster Zurückhaltung befleißigten ... Viele sind aber der Ansicht, daß des Ministers Zurückhaltung andere Ursachen hat. Er glaubt im Ernst, daß nicht erlaubt ist, irgend etwas zuzugeben, was seine alten Getreuen unter den National-Ukrainern belasten und damit der kommunistischen Propaganda Vorschub leisten könnte, denn die Völker der Sowjet-Union müßten den Bolschewismus »selbst besiegen und überwinden«, wie er immer wieder proklamiert.
Für die Richtigkeit dieser Kameraderie-Annahme sprechen des Ministers eigene Worte: »Ich glaube, daß ich das Recht und die Pflicht habe, sowohl meine Männer wie mich selbst zu dieser Frage zu verteidigen.«
* In den Türkenkriegen des 17. Jahrhunderts war die Burgfestung Kamenez-Podolsk lange Zeit heftig umkämpft. Am 22. November 1633 unterlagen die Türken in der Schlacht von Kamenez-Podolsk den Polen und Ukrainern.
Ostraum-Ideologe Oberländer vor der Bundespressekonferenz: Gedächtnislücke?
Die Welt
»Ich klebe nicht am Sessel, aber ... ich kann ihn jetzt nicht verlassen ...!«
Bataillon Nachtigall beim Marsch auf Lemberg: Nur gesungen?