»NACHTS SCHRECKE ICH IMMER NOCH HOCH«
Eine üppige Hecke aus blühenden Bougainvilleas schützt das »Centre Familiale« in Ben Aknoun, am Stadtrand von Algier, vor Einsicht von der Straße. Nur gedämpft dringt gelegentlich der Lärm eines vorbeiratternden Lastwagens bis zu den stillen Wegen auf den Parkhügeln. Kleine Katzen spielen in der Sonne und verschwinden im Gebüsch, sobald sich Schritte nähern.
Hier machen sonst, in dreiwöchigem Turnus, jeweils 50 mittellose algerische Familien Ferien vom Elend des Arme-Leute-Alltags.
Jetzt sind andere Gäste einquartiert, die einen schlimmeren Alltag zu vergessen haben: die 40 Widerstandskämpfer, die Brasiliens Militärregime im Austausch gegen den von Guerrilleros entführten deutschen Botschafter Ehrenfried von Holleben vorigen Monat aus dem Gefängnis ins algerische Exil entließ.
Sie haben begonnen, sich in der Freiheit einzurichten: Man steht früh auf -- das gemeinsame Frühstück ist schon um sieben -, dann machen die ersten ihren täglichen Besuch beim Arzt. Fast alle brauchen noch ständige medizinische Behandlung. Wer morgens früh nicht zum Arzt muß, räumt die kleinen Pavillons auf, in denen die Befreiten zu viert oder zu fünft untergebracht sind.
Später am Vormittag gibt es Gymnastik-Stunden -- die algerischen Gastgeber haben für jeden ein Paar Turnschuhe angeschafft -, und nach dem gemeinsamen Mittagessen bekommen alle eine Stunde Französisch-Unterricht; gelehrt wird nach der audio-visuellen Methode.
»Wir gehen stundenlang hier unter den Bäumen spazieren, einfach aus Spaß am Bewegen«, erzählt Ieda dos Reis Chaves, eine 24jährige Lehrerin, deren zwei Jahre alter Sohn bei ihren Eltern in Brasilien bleiben mußte. »Und dann reden wir miteinander; oft diskutieren wir viele Stunden. Wir genießen dies neue Gefühl: daß man miteinander reden kann, ohne Angst haben zu müssen, von der Polizei überrascht zu werden.«
Doch das neue Gefühl hat die alte Angst noch nicht verdrängt, die freundliche Routine von Ben Aknoun ist noch nicht selbstverständlich geworden.
»Nachts schrecke ich noch immer hoch und denke, sie holen mich zum Verhör«, sagt Aderval Alves Coqueiro, ein Metallarbeiter aus Säo Paulo, der fast genau ein Jahr im Gefängnis gesessen hat.
Was es bedeutete, zum Verhör geholt zu werden, wissen alle. Denn bis auf ganz wenige Ausnahmen wie die 55jährige Tercina, eine weißhaarige Großmutter, sind alle gefoltert worden.
»Ich hatte langes Haar bis auf die Schultern und trug es mit einem Band aus der Stirn gebunden«, berichtet die Lehrerin Ieda, deren rötliche Locken jetzt kurz gestutzt sind. »Sie haben mir das Band um den Hals gebunden und mich gewürgt, bis meine Zunge aus dem Mund quoll. Dann haben sie mich an den Haaren über den Fußboden geschleift. Ein anderes Mal bekam ich ein dickes Tuch über den Kopf, so daß ich nichts sehen konnte, und mußte im Kreis laufen. Sie stellten mir ein Bein, ich fiel hin, mußte weiterlaufen, fiel hin und so weiter, bis ich mich kaum mehr bewegen konnte.« Polizisten versetzten Ieda Karateschläge gegen Hals und Unterleib.
Marco António Meyer, 25, mußte während eines 14stündigen Verhörs im Gebäude der Politischen Polizei (DOPS) von Rio mit ausgestreckten Armen schwere Gewichte halten, bis er ohnmächtig wurde. Seine Peiniger trieben ihm ein Holzscheit in den After und hieben mit einem Paar Handschellen auf Hals, Gesicht, Brust und Geschlechtsteile ein.
Angelo Pezzuti da Silva wurde im Einbruchsdezernat von Belo Horizonte gleichzeitig von vier Polizisten gefoltert, während er gefesselt, mit dem Kopf nach unten, an einer Eisenstange hing: Einer ließ ihm Wasser in die Nase laufen, bis er keine Luft mehr bekam; einer hieb mit einer Gummirute auf seine Fußsohlen; die beiden anderen gaben ihm Elektroschocks.
Angelo war auch dabei, als in den Kasernen der Militärpolizei von Rio, in der Rua Barao de Mesquita, rund hundert Militärs Unterricht im Foltern erhielten. »Das war am Jahrestag des Todes von Che Guevara, am 8. Oktober 1969, nachmittags gegen vier Uhr«, erklärt mir Angelos Freund Mauricio Vieira da Paiva, der die Lektion ebenfalls miterlebte. »Leutnant Haylton, der den Unterricht leitete, zeigte erst Dias, die bei Folterverhören aufgenommen worden waren. Dann erklärte er die verschiedenen Methoden und Techniken, wie man die Apparate bedient und dergleichen. Und schließlich demonstrierte er am lebenden Objekt.«
Als Anschauungsmaterial dienten sieben Gefangene -- von denen drei jetzt in Ben Aknoun sind: Einer mußte mit bloßen Füßen auf den scharfen Kanten geöffneter Konservendosen stehen, einer bekam Schläge auf Fußsohlen und Handflächen, bis sie anschwollen. »An mir«, sagt Mauricio, »haben sie die Elektroschocks vorgeführt.«
»Das Regime perfektioniert die Technik der Unterdrückung«, konstatiert Maria de Brito, die Witwe von Juarez Guimaraes de Brito, nach dem die Holleben-Entführer ihr Guerilla-Kommando benannten. »Früher waren sie einfach bloß brutal; sie unterdrückten blindlings, ungezielt. Aber jetzt entwickeln sie System. Und wenn wir sie wirkungsvoll bekämpfen wollen, dann müssen auch wir unsere Technik perfektionieren.
»Die Guerilla muß ohne Romantizismus durchgeführt werden«, mahnt ein hektographiertes Flugblatt der größten brasilianischen Widerstandsorganisation, der Vanguarda Popular Revolucionária (VPR), zu deren Führungsstab auch Maria gehört. Und: »Wichtig ist nicht, Guerilla-Helden zu züchten, sondern eine Kampftechnik zu entwickeln, die sich jeder beliebige aneignen kann.«
So trainieren Brasiliens revolutionäre Widerstandsgruppen jetzt jeden neuen Genossen für die Stadtguerilla sechs bis acht Monate, bevor sie ihn in den Kampf lassen. Auf dem Lande, versichert der Ex-Unteroffizier Darci Rodrigues, hat man mit der Errichtung geheimer Trainingslager begonnen. Darei Rodrigues war einst zusammen mit einem der heutigen Guerilla-Führer, Hauptmann Carlos Lamarca, und einem Wagen voller Waffen aus dem Heer desertiert.
Neulinge des militanten Widerstands müssen in langen Diskussionen ihre politische Zuverlässigkeit unter Beweis stellen; ihr Lebenslauf wird vom Führungsstab der Guerilla bis ins kleinste Detail überprüft. Erst wenn sie auch noch verschiedene Testaufgaben bestanden haben, werden sie als Mitglieder einer Guerilla-Gruppe akzeptiert.
Innerhalb eines Kommandos freilich -das mindestens drei, meistens zwischen fünf und zehn Guerrilleros umfaßt -- kennt einer vom anderen nur den Tarnnamen. »Was man nicht weiß«, sagt Darci Rodrigues, »das kann man auch in der Folter nicht verraten.«
Aus dem gleichen Grunde kennt im allgemeinen jede Gruppe nur ihre eigene Spezialaufgabe und weiß nur selten etwas über die Aktivitäten anderer Gruppen. Kidnapping-Kommandos sind kaum je über bevorstehende Banküberfälle orientiert; Propaganda-Trupps, die Flugblätter fabrizieren und verteilen, wissen nicht, wo ihre Kameraden Waffen lagern.
Die einzigen, die alles wissen, sind die Guerrilleros im geheimen Oberkommando -- sie planen auch in großen Zügen alle Aktionen. Die Einzelheiten der Ausführung dagegen -- Zeitpunkt, Ablauf und Teilnehmer einer Aktion -- werden gemeinhin per Diskussion und Abstimmung in den betroffenen Kommandos festgelegt.
Denn: »Wenn man einen Krieg führt«, meint Leda. »müssen die Soldaten mitbestimmen können, wie gekämpft wird.«
Der Krieg gegen die härteste Diktatur Lateinamerikas wird lange dauern, mindestens zehn oder zwanzig Jahre, glauben die 40 in Ben Aknoun. Und zwar »nicht nur wegen der Überlegenheit des Feindes«, so der Student Carlos Minc Baumfeld, sondern vor allem, weil die Massen des brasilianischen Volkes sich noch »auf einem sehr niedrigen Niveau politischen Bewußtseins« befinden.
»Noch bekommen wir keinerlei aktive Unterstützung von ihnen, wir können uns nicht in ihrem Schutz bewegen wie die Tupamaros in Uruguay«, klagt Darci Rodrigues.
Schuld an der mangelnden Unterstützung aus dem Volk sind wohl zum Teil die Linken selbst, denn »sie haben sich«, wie Darci Rodrigues eingesteht, »zu lange zu wenig um das Bewußtsein der Massen bemüht«.
Erst seit kurzem versucht Brasiliens junge Linke, alte Versäumnisse nachzuholen. So führte etwa ein Kommando der VPR einen Monat lang unter den Bewohnern des Armeleute-Viertels Vila Kennedy in Rio de Janeiro eine systematische Politisierungskampagne durch -- bis Polizisten das Experiment beendeten.
Dutzende wurden verhaftet, viele gefoltert; doch mehrere Guerrilleros entgingen der Verhaftung: Sie waren von Bewohnern der Vila Kennedy rechtzeitig gewarnt worden. Und so konnten die Revolutionäre, wie sie versichern, »zumindest eine passive Sympathie« (Minc Baumfeld) registrieren. Wo vorher nur Apathie war, erscheint das schon wie ein erster Sieg.
Eine andere Guerilla-Gruppe überfiel vor etwa einem Vierteljahr einen Supermarkt in Rio und verteilte die Waren an umstehende Arme -- zusammen mit einer Erläuterung über die Absicht des Raubes.
Nur durch solche begrenzten und gezielten Aktionen läßt sich nach Meinung der militanten Gegner des Regimes in der Masse der Elenden das Bewußtsein für die eigene Situation wecken. »Wir haben erkannt, daß wir mit den traditionellen Formen des Kampfes brechen mußten«, sagt Darci Rodrigues, »für große Massenbewegungen, Streiks und umfassende Protestaktionen gibt es in Brasilien im Moment keine Basis.«
Daß sie auch in der »guerilha prolongada«, dem langen Guerilla-Krieg, nur dann Siegeschancen haben, wenn sie einig sind, haben sie ebenfalls erkannt.
»Die Divergenzen der alten Linksparteien«, behauptet der Lehrer Ladislas Dowbor, der an der Entführung des japanischen Generalkonsuls Okuchi im vergangenen März beteiligt war, »haben für uns keine Bedeutung mehr. In unserer Bewegung sind Leute mit verschiedenem ideologischen Hintergrund, aber wir arbeiten zusammen. Ob jemand Maoist, Trotzkist oder Castroist ist, interessiert uns nicht.«
So weigern sie sich auch, für das neue Brasilien, von dem sie träumen, eines der bestehenden Modelle sozialistischer Staaten als Vorbild anzunehmen »Was für ein Staat Brasilien einmal sein wird, das wird das brasilianische Volk entscheiden müssen, nicht wir«, sagt Dowbor. »Wir sind sozusagen nur die Initialzündung für die Revolution.«
Doch der Funke der Revolution ist noch stets vom Erlöschen bedroht. »Wir sind schwächer als wir scheinen«, erklärt Maria de Brito, »und die andere Seite hat mehr Erfahrung und mehr Mittel als wir.« Eben deshalb wollen fast alle Geretteten von Ben Akoun heimlich wieder in die Heimat zurückkehren.
Einstweilen freilich ist für sie die eigene, nicht von ihnen selbst, sondern vom Zufall geformte Gruppe die Heimat.
Ein wenig ungewohnt erscheint sie ihnen noch, die neue Gemeinschaft. So als wollten sie sich vergewissern, daß das alles kein Tagtraum ist, suchen sie im Gespräch die Hände des Partners, legen sie ihm die Hand auf die Schulter. Und sie diskutieren, schnell, leidenschaftlich, ausdauernd, als ob sie fürchteten, jeden Augenblick könne der unverhofften Freiheit wieder ein Ende gemacht werden.,, Das ist eine besondere Beziehung, die hier entstanden ist«, sagt Jeda.
Keiner hat bislang das Lager ohne die anderen verlassen, und das vermutlich nicht nur, weil noch niemand im Besitz gültiger Papiere ist. Sie fahren gemeinsam zum Arzt und an den nahen Strand, sie haben ein vierköpfiges Lagerkomitee gewählt, das alle nach außen hin vertreten soll, niemand von ihnen verspürte bisher das Bedürfnis, ohne die anderen zu sein.
Sogar die ersten Briefe aus Brasilien, von Angehörigen, die meist erst durch Zeitungen oder Rundfunk von der Reise ins Exil erfahren hatten. sind Gemeinschaftsgut, wandern von Hand zu Hand; auch die Photos von Frau und Kindern eines Guerrilleros. die nach Kuba fliehen konnten.
Ihrem Gastland auf Zeit, das sich selbst als revolutionäre Vorhut der arabischen Welt fühlt, bringen sie dankbare Neugier entgegen. Maria de Brito übt sich sogar im Arabischen. Ihre erste Vokabel: »Nationale Befreiungsfront.