Zur Ausgabe
Artikel 35 / 64

Nachts, wenn die Ratten kommen

aus DER SPIEGEL 10/1978

In New Orleans wohnte ich bei einem schwarzen Mörder, der Neu hieß. Genau wie die anderen Mörder, die ich kennengelernt oder bei denen ich gewohnt habe, war er ein ganz gewöhnlicher Durchschnittsbürger, der nur durch Zufall zum Mörder geworden war -- oder, richtiger gesagt, aufgrund seines sozialen Hintergrundes.

Es dauerte natürlich einige Zeit, bis er mir aus seiner Vergangenheit berichtete, denn er war aus einem Gefängnis in Nevada geflohen, und man suchte ihn; aber genau wie andere Kriminelle hatte er natürlich das Bedürfnis, das, was ihn bedrückte, anderen Menschen, auf die er sich verlassen konnte, mitzuteilen. Niemand kann mit so einem schweren Schicksal allein leben.

Wir wohnten mit einigen anderen Menschen draußen im östlichen Teil von New Orleans zusammen, und Nell versuchte intensiv, ein normales bürgerliches Leben zu führen, soweit es die Umstände zuließen. Da er wußte, daß er lebenslänglich ins Gefängnis zurückgeschickt würde, sobald er in eine krumme Sache verwickelt wurde, versuchte er, sich von Kriminalität soweit wie möglich fernzuhalten, und lebte hauptsächlich vom Blutspenden.

Ich hielt seine Chancen, für den Rest seines Lebens auf freiem Fuß zu bleiben, nicht für groß; aber ich versuchte, so gut ich es vermochte, ihm diese Atempause der Freiheit so fröhlich und aufmunternd wie möglich zu gestalten.

Meiner Meinung nach war er schon, bevor er sein Verbrechen beging, bestraft genug mit der Armut und Demütigung, denen die Gesellschaft ihn seit seiner Kindheit ausgesetzt hatte. Als ich ihm während eines unserer nächtlichen Gespräche diese meine Auffassung näherbrachte, vertraute er mir

* Jacob Holdt: »Bilder aus Amerika«. 272 Seiten mit 750 Photos; 36 Mark. Deutsche Rechte © S. Fischer Verlag, Frankfurt 1978.

sein Verbrechen an, und seitdem waren wir noch stärker miteinander verbunden.

Wir gingen oft zusammen durch die Straßen oder zum Blutspenden. Meistens ernährten wir uns ausschließlich davon, daß wir uns zweimal in der Woche Blut abnehmen ließen, denn die Blutbanken in New Orleans bezahlten zu diesem Zeitpunkt in den USA den höchsten Satz, nämlich sechs Dollar und zehn Cent pro Blutspende. Ich war nur selten gezwungen, Käse oder ähnliche Kleinigkeiten in den Supermärkten zu stehlen, um satt zu werden.

Ich wollte nicht, daß Nell das erledigte, denn er riskierte immerhin lebenslängliches Gefängnis, während ich wußte, daß ich mich selbst aus so einer peinlichen Situation durch Reden mit dem Personal befreien konnte, falls ich geschnappt wurde. So wurde Nell eigentlich dauernd von seinem Schicksal verfolgt. Aber das wurde mir niemals so deutlich wie an dem Abend, als ich ihn zuletzt sah.

Wir hatten die Dummheit begangen, gemeinsam durch die Straßen unseres schwarzen Viertels, wo wir wohnten, zu gehen, und zogen dadurch die Aufmerksamkeit der Polizei auf uns. Es ist eine Todsünde für einen Weißen und einen Schwarzen, gemeinsam in einem schwarzen Viertel aufzutreten, da man sofort als Rauschgifthändler angesehen wird. Aber wir unterhielten uns eifrig, als wir in das Viertel einbogen, und vergaßen, uns zu trennen.

Es dauerte nicht lange, bis ein Polizeiauto neben uns hielt -- im Dunkeln einer der nur wenig beleuchteten Straßen im Ostgetto. Die Beamten gehörten zu dem schnellen jovialen Typus, eigentlich wollten sie uns nur erschrecken; sie sagten deshalb, sie ließen uns laufen, wenn wir ihnen sofort unsere Marihuanazigaretten übergeben würden. Viele Male vorher hatte ich beobachtet, daß die Polizei diese Methode in den schwarzen Vierteln anwendete, da sie dann keine Berichte zu schreiben brauchte und das beschlagnahmte »Gras« selbst rauchen konnte.

Ich selber hatte nichts bei mir, wußte aber, daß Nell einen oder zwei »Joints« bei sich hatte. Doch plötzlich wurde Nell von der Wahnwelt seines Schicksals ergriffen -- dieser Paranoia, diesem Mißtrauen gegenüber den Mitmenschen, das fast alle auszeichnet, die seinen sozialen Hintergrund haben -, und er weigerte sich, seine Joints auszuhändigen.

Ich selbst hätte keinen Augenblick lang überlegt. Ich hatte volles Vertrauen zu den Beamten. Nells Mißtrauen gegenüber der Polizei ließ ihn völlig überschnappen und irrational handeln. Die Polizei ist darauf trainiert, diese Art der Reaktion bei Kriminellen zu vermuten, und die beiden Beamten stiegen sofort aus und machten eine Leibesvisitation. Sie fanden nur zwei kleine Joints und sein Messer, aber weil er keinen Ausweis bei sich hatte, nahmen sie ihn mit zur Polizeistation um seine Fingerabdrücke zu überprüfen.

Ich wußte sofort, daß ich Nell niemals wiedersehen würde. Er war aufgrund der unglücklichen Paranoia und des Schuldgefühls, das alle armen Neger haben, unabhängig davon, ob sie ein Verbrechen begangen haben oder nicht, erwischt worden.

Es war dieselbe Paranoia, die ihn damals zum Mörder gemacht hatte. Nachdem Nell aus »dieser Welt« verschwunden war, wirkte New Orleans auf mich plötzlich wie eine Geisterstadt, und ich konnte auch nicht länger in dem Hause wohnen bleiben. Ich wollte raus aus der Stadt ...

Die Zahl der heute noch lebenden Sklaven ist nicht groß; aber in Florida begegnete ich einem, der außerdem der älteste Bürger in den USA ist -- dem 134jährigen Charlie Smith, der mir berichtete, wie er in Afrika gefangengenommen worden war:

»Ich kam in die USA, als ich zwölf Jahre alt war.«

»Bist du als Sklave in die USA verkauft worden?«

»Ja, warte. Laß mich dir erzählen, wie das geschah. Als ich in die USA kam, wurden die Leute verkauft. Das war während der Sklaverei. Die Weißen haben mich von Afrika rübergebracht. Ich fragte meine Mutter, ob ich nach unten gehen dürfe, um mir das Schiff der Weißen anzusehen. Sie sagte ja, und seitdem habe ich Mama nicht wiedergesehen. Nachdem der Kapitän es geschafft hatte, uns alle an Bord zu kriegen -- Männer, Frauen und Kinder -, lockte er uns ins Innere des Schiffes, um uns »Zuckerbäume« zu zeigen. Wir bemerkten, daß sich das Schiff bewegte, aber glaubten, das komme vom Wind. Wir kamen niemals zurück.

Im Staat Louisiana: 257 000 Analphabeten.

»Zuckerbäume haben wir niemals zu sehen bekommen, auch dann nicht, als wir nach New Orleans kamen, um verkauft zu werden. Auf der Fahrt versuchten die Neger, mich über Bord zu werfen. Ich erinnere mich daran, als ob es gestern gewesen ist. Es war Legree, der weiße Kapitän, der sie daran hinderte, mich über Bord zu werfen. Nach der Ankunft hier wurden wir auf den Block geworfen und auf der Auktion zum höchsten Angebot verkauft.«

Charlie Smith wurde von einem Rancher aus Texas gekauft, dessen Namen er seitdem angenommen hat. Er kam 1853 in die USA; bei der Aufhebung der Sklaverei, zwölf Jahre später, war er 25 Jahre alt. Charlie Smith hatte Glück. Als Afrikaner war er niemals zum Sklaven erzogen worden, deshalb fühlt er sich heute auch anders als andere Neger, auf die er praktisch heruntersieht.

Unter anderem begreift er nicht, warum die erwachsenen Afrikaner ihn über Bord werfen wollten während der Überfahrt; aber das war nach Ansicht neuzeitlicher Historiker allgemeine Praxis in der Absicht, die Kinder vor Sklaverei zu bewahren.

Die tiefere Ursache dafür, daß Charlie Smith und spätere Afrikaner den amerikanischen Neger von heute nicht verstehen, beruht auf ihrem mangelnden Verständnis dafür, daß eine über zwei Jahrhunderte andauernde Sklaverei deren Verhalten geprägt hat. Und solange man das nicht begreift, kann man nicht verstehen, warum die Aufhebung der Sklaverei nicht gleichbedeutend ist mit Freiheit.

Mehr als hundert Jahre mußten verstreichen, bis die Neger ihre Freiheit erhielten, und es erhebt sich wirklich die Frage, ob sie sie heute haben. Formal wurden die USA erst vor zehn Jahren eine Demokratie, als alle ihre Bürger endlich das Stimmrecht erhielten. Aber handelt es sich wirklich um eine Demokratie? Im Staate Louisiana gibt es zum Beispiel 257 000 Analphabeten. Ist es nicht Pflicht einer Demokratie, für die Bildung ihrer Bürger zu sorgen?

In den letzten zehn Jahren hat sich vieles geändert. Aber sitzen Sklavensöhne und Sklavenhaltersöhne heute in Georgia gemeinsam an einem Tisch? Haben die Rassisten in Alabama aufgehört, böswillig zu sein? Das waren einige der Fragen, auf die ich während meiner Reise eine Antwort gesucht habe. Nein, meine sehr tragischen und bitteren Erlebnisse haben mir ein anderes Bild vermittelt.

Die weiße Tyrannei hat kaum irgendwo so konkrete Formen angenommen wie in den Baumwollplantagen der Weißen. Während der gesamten Geschichte der Baumwolle und der Sklaverei hat die bürgerliche Propaganda die Sklaven und die späteren Baumwollpflücker lachend und glücklich, ja geradezu kindlich fröhlich dargestellt.

Es kostete mich viel Zeit, ihre Feindschaft oder Angst vor mir als Weißem zu überwinden. Zuletzt gelang es mir, bei ihnen wohnen zu dürfen, aber als Entgelt mußte ich ihnen die gesamte Baumwolle geben, die ich selbst gepflückt hatte. Obwohl ich von morgens bis abends schuftete und mir mein ganzer Körper weh tat, gelang es mir nicht, für mehr als zwölf Mark am Tag Baumwolle zu pflücken. Die anderen waren trainiert und kamen auf über 15 Mark am Tag.

Wir arbeiteten im Akkord und erhielten vier Cent pro Pfund. Der weiße Plantagenbesitzer verkaufte die Baumwolle auf dem Markt für 72 Cent pro Pfund. Selbst wenn man die Ausgaben für Düngemittel und alles andere abzieht, beginnt man bald zu begreifen, warum der Plantagenbesitzer in der Lage ist, in einem Plantagenhaus zu wohnen, während seine schwarzen Pflücker in »shacks"* untergebracht sind.

Gegen Abend kam der Sohn des Plantagenbesitzers, um die Baumwolle zu wiegen und uns an Ort und Stelle auszuzahlen. Wir waren müde und erschöpft, niemand freute sich, wenn er den Lohn entgegennahm, für den man vielleicht gerade das Petroleum für die Lampe daheim in der Hütte kaufen konnte, einer Hütte, die kaum größer oder besser war als diejenigen, in denen damals die Sklaven gewohnt hatten. Wie kann man diese Menschen als frei bezeichnen, wenn alles um sie herum sie an die alten Herren-Sklaven-Verhältnisse erinnert?

Auch in den Tabakanbaugebieten besitzt und entscheidet der weiße Mann

* shack = Hütte, Baracke, elende Behausung.

alles, während die Neger vollkommen abhängig sind -- sowohl im Frühjahr, wenn der Tabak gepflanzt wird und ihre Frauen arbeitslos sind, in ihren shacks sitzen und zusehen, als auch im August, wenn der Tabak gepflückt wird. Das ist richtige Niggerarbeit, sagen die Weißen, denn sie sind ja schon schwarz, deshalb bleibt der Teer an ihnen nicht so gut kleben wie an den Weißen,

Gesetzlich ist ihnen ein Mindestlohn zugesichert, der zur Zeit etwa sechs Mark pro Stunde beträgt. Aber es handelt sich um Saisonarbeit, und außerhalb der Tabakzeit gibt es nicht viel Arbeit. Dadurch ist der Arbeitslohn pro Jahr sehr niedrig.

Danach wird der Tabak getrocknet und auf Auktionen verkauft. Es gibt nicht viele Orte, an denen das Herren-Sklaven-Verhältnis so stark in das Bewußtsein des Negers eingebrannt wird wie hier. Vorweg gehen die weißen Aufkäufer der Tabakgesellschaften und geben mit erhobenem Zeigefinger diskrete Signale, während die Neger so schnell, wie sie können, hinterherlaufen und die Tabakbündel einpacken.

Der Weiße fährt mit seinem großen teuren Schlitten direkt hinein in die Auktionshalle, und mittags werden reihenweise tellergroße Steaks verzehrt, während die Neger ihre mitgebrachten Brotpakete an einem anderen Platz auspacken müssen.

Wie können wir es zulassen, daß diese Menschen, die nicht im mindesten weniger arbeiten müssen als die Weißen, Gesichter haben, wie nur Sklaven sie haben, wenn sie doch Gleichheit und Freiheit erreichen könnten, wenn wir nur ein paar Cent mehr für eine Packung Zigaretten ausgeben würden. »Diese Menschen kann man nur als Sklaven bezeichnen.«

Doch selbst denen, die weiterhin behaupten wollen, es gäbe auf North Carolinas Tabakfeldern, theoretisch gesehen, keine Sklaverei, dürfte es schwerfallen, das Herren-Sklaven-Verhältnis in den Zuckerrohrplantagen Louisianas zu leugnen.

Hier herrschen rein feudale Zustände. Den weißen Besitzern gehören nicht nur die Böden der Zuckerrohrplantagen, sondern auch die Häuser, in denen die schwarzen Arbeiter wohnen; in der Regel sind sie um die großen Plantagenvillen herum gruppiert, genauso wie damals zur Zeit der Sklaverei.

Hinzu kommt, daß den Plantagenbesitzern praktisch auch alles andere in den kleinen Dörfern gehört, unter anderem der einzige Laden im Dorf, der deshalb »The Company Store« genannt wird. In diesem Laden liegen die Preise oft zwanzig Prozent über den Preisen in den größeren Städten, aber da es den armen Zuckerrohrarbeitern an Geld und Gelegenheit mangelt, um in den größeren Städten einzukaufen, sind sie gezwungen, die Preise der Plantagenbesitzer zu zahlen.

Der durchschnittliche Lohn dieser Arbeiter beträgt etwa 8000 Mark jährlich.

Das ist weniger, als eine Familie von sechs bis zehn Personen jährlich allein schon für Nahrungsmittel braucht. Um zu überleben, leihen sich die Arbeiter Geld von den Plantagenbesitzern und werden so bald zu deren Dauerschuldnern. Im Laden bezahlen sie häufig nicht mit Geld, sondern erhalten weiteren Kredit, wodurch sie in wirtschaftlicher Hinsicht nach und nach völlig vereinnahmt werden.

Menschen, die für ihre Arbeit keinen Lohn erhalten, sondern lediglich Essen und Unterkunft, kann man meiner Ansicht nach kaum anders denn als Sklaven bezeichnen, denn sobald sie dieser Kreislauf erst einmal gefangengenommen hat, sind sie praktisch Besitz des Plantagenbesitzers. Sie erhalten nämlich keine Erlaubnis, die Plantage zu verlassen, bevor sie ihre Schulden beglichen haben, und das könnte nur durch ein Wunder geschehen.

Es war nicht leicht für mich, bei den Zuckerrohrarbeitern zu wohnen, denn sie befürchteten Maßnahmen der Weißen. Einmal war ich bereits zu Bett gegangen, als plötzlich -- das Gerücht über mich mußte sich wie ein Lauffeuer verbreitet haben -- die Tür aufgerissen wurde und ein Neger mir eine Gewehrmündung in den Magen preßte und mich hinaus in die kalte Nacht jagte.

»Wie Vieh ins Arbeitslager transportiert.«

Spät in der Nacht erbarmte sich eine arme Witwe meiner, Virginia Pate, und ich erhielt die Erlaubnis, in ihrer Hütte draußen in den Sümpfen ein Bett mit ihren fünf Kindern zu teilen. Es wird immer kalt, wenn der Morgen herannaht und der Kachelofen ausgeht, und da die Kinder die Decke zu sich zogen, mußte ich in der ersten Nacht frieren.

Am nächsten Morgen flickte sie deshalb alte Wattedecken für mich. Ich werde sie nie vergessen. Sie war bereit, der von den Weißen drohenden Gefahr zu trotzen, wagte es aber auf der anderen Seite auf keinen Fall, mit mir unter einem Dach zu schlafen. Sie schlief im shack ihrer Schwester.

Gemeinsam mit ihrem ältesten Sohn ging ich in den Sümpfen auf Jagd nach Gürteltieren und anderem Eßbaren, damit wir nicht mehr hungern mußten, als es unbedingt notwendig war. Das Trinkwasser stammte aus der Dachrinne. Nun gut, ich will es den juristischen Experten überlassen, darüber zu entscheiden, inwieweit man in den Zuckerrohrplantagen Louisianas von Sklaverei reden kann.

Allerdings besteht kein Zweifel daran, daß so etwas in Florida existiert. In Florida hat sogar der Justizminister die Besitzer der Plantagen beschuldigt, Sklaverei zu betreiben, ohne daß sich jedoch dadurch irgend etwas an den Verhältnissen geändert hat.

Der Zucker wird hier noch immer mit der Machete geschlagen, und nach der ermüdenden Arbeit des Tages wird man wie Vieh nicht nach Hause in die eigene Behausung, sondern in ein Sklavenlager gefahren, wo oft mehr als hundert Menschen in ein und demselben Raum zusammengepfercht werden.

Nicht einmal den größten Fernsehgesellschaften der USA ist es geglückt, in diese Lager hineinzukommen. Mit den Lagern ist es gelungen, die schwarzen Familien genauso wie zur Zeit der Sklaverei auseinanderzureißen und sie schließlich zu zerstören, da Frauen nicht in die Lager kommen dürfen.

Es gibt allerdings auch andere Formen von Arbeitslagern, in denen die ganze Familie zusammen wohnen darf. Es muß jedoch bezweifelt werden, ob die Situation dieser Familien wesentlich besser ist, da hier alle derartig aufeinander angewiesen sind, daß sie es sich nicht erlauben können, ihre Kinder zur Schule zu schicken.

Um zu überleben, ist es oft notwendig, jedes einzelne Familienmitglied mit hinaus aufs Feld zu nehmen. Das gilt unter anderem für Obst- und Landarbeiter.

Während die Kinder in Louisiana kaum eine einzige Apfelsine im Jahr bekommen, ertrinken die Kinder in Florida geradezu in Apfelsinen. Die USA sind das einzige reiche kapitalistische Land, in dem die Kinderarbeit immer noch erlaubt ist, obwohl sie formal schon 1911 abgeschafft wurde -- wenigstens die Fabrik- und Grubenarbeit. Noch heute wird ein Viertel der gesamten Obsternte in den USA von Kindern unter 16 Jahren gepflückt.

Für mich war es eine freudige Überraschung, einer armen Weißen zu begegnen, die auch nicht indirekt den Negern die Schuld an ihrem eigenen Unglück gab, während es sonst unter den armen Weißen ganz normal ist, die Neger zum Sündenbock zu machen. Ihre Stadt Immokalee besaß mehr Sklavenlager als irgendeine andere Stadt, und gerade hier waren vor kurzem mehrere weiße Besitzer der Sklavenlager ins Gefängnis geworfen worden.

Aber die Verhältnisse sind noch immer die gleichen, und die Lager haben jetzt bewaffnete Wachen bekommen, die auf jeden schießen, der versucht hineinzukommen. Als eine der großen Fernsehgesellschaften, die NBC, in die Stadt kam, wurden die Fernsehleute verprügelt und beschossen, und es gelang ihnen nicht, irgend etwas Wesentliches aufzunehmen.

Selbst weiße »rednecks"* des gewalttätigen Typs, die dafür bekannt sind, daß sie schnell zuschlagen, warnten mich davor, in die Stadt zu gehen, und wollten mich auch nicht bei Tageslicht hinfahren. Nur eine Woche lang wohnte ich dort bei armen Landarbeitern.

Auf irgendeine Weise gelang es mir, mit einem der schwarzen bewaffneten Wächter, der mir ständig in einigem Abstand auf den Straßen folgte, um mich zu »beschützen«, Freundschaft zu schließen. Sowohl er als auch der Polizeichef berichteten mir, daß im letzten halben Jahr -- in einem Ort von 3000 Einwohnern -- auf den Straßen 25 Leichen gefunden worden seien. Jede Nacht konnte ich Schießereien hören. Ich habe dort mehr Blut als irgendwo sonst in Amerika gesehen.

Jeden Morgen stand dort eine Reihe von Menschen, die in der Nacht zuvor niedergeschlagen und ausgeraubt worden waren und versuchten, aus der Stadt zu gelangen. Aber viele kommen niemals raus aus diesen Sklavenlagern.

Arme weiße Farmer der Südstaaten.

Es verging nur wenig Zeit, bis man mich immer stärker bedrohte wegen meines Photographierens, das ich sonst zu verbergen versucht hatte. Ich beschloß daher, außerhalb der Stadt bei den Indianern meine Zuflucht zu suchen. Ich wohnte dort bei einem jungen Mädchen aus dem Seminole-Stamm.

Für mich war es sehr romantisch, in einer Palmenblatthütte zu wohnen, aber die Romantik währte nicht lange. Nach nur wenigen Tagen wußte man in der Stadt, wo ich war, und eines Nachts rief man mich, ich solle aus der Hütte kommen.

Ich hatte keine andere Wahl und trat hinaus in das Licht der Scheinwerfer eines Pick-up truck, auf dem einige mit Gewehren bewaffnete Männer saßen, die mir zuriefen: »Vor Sonnenaufgang hast du die Stadt verlassen. Wenn nicht, siehst du keinen Sonnenaufgang mehr.«

Da wußte ich, daß es tödlicher Ernst war, und ich verschwand aus der Stadt wie ein Schatten.

Ich habe bei ähnlichen Anlässen noch oft bei Indianern gewohnt, sie aber niemals bewußt aufgesucht, da ich mich immer schuldig fühlte, wenn ich bei ihnen war. Sie werden geradezu überrannt von Anthropologen und Ethnologen. Trotzdem beschloß ich, mit ihnen gemeinsam zu kämpfen, als sie in Wounded Knee einen bewaffneten Aufstand gegen die Regierung veranstalteten.

Wounded Knee wurde für mich der Wendepunkt. Die Linke in den USA hatte die ganze Zeit die Waffengewalt romantisiert. Viele von uns waren der Demonstrationen müde, und der Sprung zum bewaffneten Aufruhr war deshalb nicht weit. Aber Wounded Knee war ein deprimierendes Erlebnis.

In unserer romantischen Berauschtheit hatten wir über all die psychischen Probleme nicht nachgedacht, denen man begegnet, wenn man wochenlang in Schnee und Matsch in Schützengräben liegt. Ich habe so viel Zank und Streit zwischen den Indianern gesehen, daß ich darüber nicht reden mag. Sie hielten sogar uns weiße Helfer nahezu wie Sklaven.

Auf dem Sarg von Clear Water die Friedenspfeife ausgeklopft.

Ich half ihnen dabei, nachts Waffen und Munition hereinzuschmuggeln -- eine Operation, die viele Stunden in Anspruch nahm, da das FRI die ganze Zeit Leuchtkugeln abschoß.

Einer der Führer in Wounded Knee, ein Sioux-Indianer, den ich hier X nennen möchte, wurde ein sehr guter Freund von mir. Ich war mit ihm und einem weißen Rechtsanwalt aus Rapid City hergefahren. Als wir zum Reservat kamen, hielt das Auto nicht an und wurde deshalb von der »goon squad« beschossen. Ich war erschrocken, erfuhr aber später, daß wir im Kofferraum einen Waffentransport mit uns führten.

Der Rechtsanwalt stieg beim Lager aus, wo man dabei war, mit Washington zu verhandeln, um die inzwischen bald halb verweste Leiche des ersten Indianers, der in Wounded Knee getötet worden war, ausgeliefert zu bekommen.

Wir fuhren dann zum Rosebud-Reservat, und X schlug vor, bei seiner Tante zu übernachten. Wir bekamen die Erlaubnis, in ihrer Küche auf einer Matratze zu schlafen, und ich begann, eine Decke auf dem Boden auszubreiten, um mich darauf zu legen, während X die schmale Matratze bekommen sollte. Aber er sagte, wir sollten uns die Matratze teilen, und erklärte mir lang und breit, daß es nach indianischer Sitte unhöflich sei, eine Einladung auszuschlagen.

Als wir auf der Matratze lagen, erzählte er mir flüsternd und geheimnisvoll von den Geistern der Vorväter, während der Präriewind um die Dachtraufe heulte und dem Ganzen eine besondere Stimmung verlieh. Nach und nach kam er in Ekstase und konnte überhaupt nicht begreifen, daß ich die Geister in der Dunkelheit nicht zu sehen vermochte.

Er begann am ganzen Körper zu zittern und hielt mich immer fester. Schließlich ließ das Zittern allmählich nach, und er begann mich zu küssen -- lange, feuchte Küsse. Erst jetzt begriff ich, daß er homosexuell war, aber es war eine Art von Homosexualität, der ich niemals vorher begegnet war.

Am nächsten Tag nahm er mich mit in das Versorgungslager, wo wir die ganze folgende Woche verbrachten. Hier entdeckte ich bei ihm eine ganz andere Seite: den Leiter des Lagers. Er behandelte mich besser als die anderen Weißen, und als sein Freund bekam ich bald besondere Aufgaben zugeteilt. Schließlich waren er und ich es, die das Auto mit dem Sarg von Clear Water und mit Morning Star, der hochschwangeren Witwe von Clear Water, fahren sollten.

Aufgrund der vielen Telegramme, die aus der ganzen Welt zusammenströmten, hatten wir die ganze Zeit über das Gefühl, inmitten wichtiger historischer Vorgänge zu stehen. Aber als wir dann am nächsten Tag draußen auf den öden Hügeln mit ihren wenigen Tannen standen und den Sarg in die Grube senkten, fühlten wir uns trotzdem merkwürdig verlassen. Ich verspürte eine große Leere, und der ganze historische Zusammenhang verschwand einen Augenblick.

Mein Blick fiel auf ein Mädchen der Tipoix-Indianer, das von Minnesota aus in roten Holzschuhen per Anhalter nach Wounded Knee gekommen war, um hier zu kämpfen. Sie war sehr schön, und wir verliebten uns heftig ineinander, während sich unsere Augen über den Sarg hinweg trafen. Kaum hatten wir alle die Friedenspfeife miteinander geraucht und die Reste über dem Sarg ausgeklopft, wie es der Brauch ist, als Bobby und ich schon begannen, unsere gesamte Zeit gemeinsam zu verbringen.

Wir versuchten unsere Beziehung geheimzuhalten, da es nicht besonders populär war, ein rotes Mädchen zusammen mit einem weißen Mann zu sehen. Trotzdem bekam X es bald heraus und wurde rasend vor Wut. Da er unheimlich eifersüchtig auf Bobby war, bekam ich die Order, in Zukunft zusammen mit ihm selbst und Morning Star, die in Trauer ging, im Ehrenzelt zu schlafen.

Ich war tief beeindruckt, daß ich das Zelt mit der Witwe des ersten Indianers teilen sollte, der während des ersten Indianeraufruhrs in neuerer Zeit getötet worden war. Mit diesem historischen Bewußtsein angesichts meiner eigenen neuen Situation war ich allerdings überhaupt nicht auf das vorbereitet, was dann in diesem Zelt geschah.

Morning Star lag in dem einzigen Bett des Zeltes und schwatzte mit mir im Schein der Lampe, während ich auf dem Boden lag. Sie wirkte immer lebhafter und redete immer stärker auf mich ein. Plötzlich fragte sie mich, ob sie sich zu mir legen dürfe. Ich war vollkommen überrascht, und bevor ich antworten konnte, war sie zu mir heruntergekrabbelt und dicht zu mir in den Schlafsack geschlüpft.

Ich wußte weder aus noch ein und lag vollständig steif da. Ähnlichen Situationen war ich oft ausgeliefert gewesen, aber dies hier war etwas ganz anderes, und für mich war es vollkommen ausgeschlossen, an Sex zu denken. Immerhin waren nur zwei Tage seit dem Begräbnis ihres Mannes vergangen -- des Mannes, mit dessen Kind sie dort gegen meinen Bauch gedrückt lag. Ich war erschüttert, schockiert. Alle meine romantischen und revolutionären Ideale brachen zusammen.

Ich dachte an die Kondolenztelegramme, die aus der ganzen Welt eingetroffen waren, aber weiß nicht, wie ich zurechtgekommen wäre, wenn nicht X in diesem Augenblick von einem Treffen ins Zelt zurückgekommen wäre. X wurde mein Retter. Als wir ihn kommen hörten, legte sich Morning Star wieder hinauf in ihr Bett.

Wenige Tage später schlichen sich die Krieger aus Wounded Knee davon, und der Aufruhr war beendet -- aber nicht für mich. Viele Waffen wurden auf den Hügeln um das Lager herum vergraben, und anschließend flüchteten die Indianer und verstreuten sich über die USA und über Kanada. Zwei von ihnen stahlen das ganze Geld im Lager von Crow Dog und machten sich damit nach Oklahoma davon.

Ich habe nicht die Absicht, mich viel mit den anderen Minoritätsgruppen der USA zu beschäftigen, möchte aber doch die Chicanos (Mexikaner) nennen. Ihr Durchschnittseinkommen ist noch niedriger als das der Neger, und die Diskriminierung und Unterdrückung, der sie im Laufe der Zeit ausgesetzt gewesen sind, gleicht der, unter der die Indianer und Neger gelitten haben. Bei einem reichen Bankier in Alabama.

Für mich ist es keine Entschuldigung, daß sie aus einer Gesellschaft kommen, die noch primitiver und sozial rückständiger ist als die amerikanische. Sie sind vor dem Hunger, dem Elend und dem Faschismus in Mexiko über die Grenze in die USA geflüchtet, scharenweise. Trotzdem werden sie nicht als politische Flüchtlinge anerkannt, weil sie arm sind und aus einem Land kommen, das mit den USA alliiert ist. Deswegen ist es ihnen so schwergefallen, Gewerkschaften zu gründen; viele Versuche wurden mit harter Hand zerschlagen.

Nach jahrelanger unermüdlicher Arbeit ist es Cesar Chavez mit Hilfe linksgerichteter Studenten in den ganzen USA schließlich aber doch gelungen, eine Gewerkschaft zu gründen: die United Farm Workers' Union. Niemals, glaube ich, bin ich einem Menschen begegnet, der einen so starken Eindruck auf mich gemacht hat wie Chavez -- diese revolutionäre Persönlichkeit, von der gleichen tiefen Bescheidenheit und der gleichen persönlichen Mäßigung geprägt wie Ho Tschi-minh ...

In Alabama, wo ich bei einem reichen Inhaber verschiedener Banken wohnte, der sie selbst gebaut oder gekauft hatte, erhielt ich einen Eindruck, warum Menschen im Süden hungern müssen. Dieser Bankmensch gehörte zu den Liberaleren in Alabama und beschäftigte in seinen Banken Farbige, die er selbst nicht Nigger, sondern Neger nannte, wenn er sich gemeinsam mit ihnen beliebt machen wollte.

Auf meiner Reise bekam ich -- armer Landstreicher, der ich war -- zeitweise starke Lust, eine Ausbildung zu beginnen, Karriere zu machen und an die Spitze der Gesellschaft zu gelangen. Aber jedesmal, wenn ich, wie hier, kurze Zeit dieses sogenannte gute Leben an der Spitze lebte, drohte ich daran zu ersticken und flüchtete so schnell wie möglich wieder hinaus auf die Landstraße.

Woher stammte all dies Gold, das er für seine Luxusvilla draußen vor der Stadt brauchte? Er erzählte mir, daß er sein Vermögen unter anderem damit geschaffen hatte, daß er Darlehen an arme schwarze Pachtbauern vergab, die sich damit ein Maultier kaufen konnten oder aus ihren wasserdurchlässigen shacks in einen flotten Wohnwagen des Typs umziehen konnten, in dem nun dreißig Millionen arme Amerikaner wohnen -- das sogenannte Plastikproletariat.

Philosophie des Systems: Wer hungert, ist selber schuld.

Aber viele Pachtbauern im Süden haben nicht einmal Mittel genug für diese billige Lösung, sondern zahlen statt dessen ihr Maultier ab und haben tatsächlich dauernd Schulden. Diese Pachtbauern müssen beinahe ihren gesamten Ernte-Ertrag an die weißen Gutsbesitzer abgeben, denen der Grund und Boden gehört, genauso wie die Bauern in den Frondienstzeiten in Dänemark ihren Herren und der Kirche Ernteabgaben entrichten mußten.

Hinzu kommt, daß er in der Schuld der Bank steht, die sein Maultier besitzt. Dieser Bankmensch in Alabama hatte so viel gescheffelt, daß er seine eigenen Flugzeuge besaß und mich mit auf einen Flug nahm, um die Nigger ein wenig von oben anzusehen.

Die herrschende Philosophie des Systems sagt, wenn Menschen hungern, so sei es ihre eigene Schuld, weil sie nicht arbeiten wollten. Aber wie ist es möglich, daß viele der hungernden Arbeiter härter und länger als diejenigen arbeiten, deren Schuld es ist, daß sie hungern?

Dies ist einer der Pachtbauern, die in der Nähe des Bankiers wohnten: Er und seine Frau waren beide 78 Jahre alt, in Dänemark hätten sie bereits vor 13 Jahren aufhören können zu arbeiten und Volkspension erhalten. »Ich bin gezwungen, so lange zu arbeiten, bis ich umfalle«, sagte er mir. »Letztes Jahr bekam meine Frau eine Herzkrankheit, und nun muß ich allein arbeiten.«

Ein anderer Pachtbauer erzählte mir über seine Kindheit: »Manchmal kamen Leute und gaben uns Brot, yes, Sir, sowohl Weiße als auch Schwarze. Aber oft hatten wir nichts und mußten hungrig zu Bett. Manchmal versuchten wir, auf die Jagd zu gehen, aber wir fingen nichts. Wir waren durch den Hunger zu sehr geschwächt. Yes, Sir. Wir sind tausendmal hungrig zu Bett gegangen. Manchmal hatten sogar unsere Maultiere nichts ...«

Zweimal im Jahr ging er zu dem kleinen Laden am Ort, um Zucker und ein bißchen Mehl zu kaufen. Das war alles, was er überhaupt kaufte. Ich fragte ihn, was er morgens esse. Er antwortete: »Ein Glas Tee und ein paar Rübenblätter.« Und was zu Mittag, fragte ich ihn. »Nur Rübenblätter«, antwortete er. Und was zum Abendbrot? »Meistens Rübenblätter«, lautete die Antwort. Vor vier Monaten waren ihm die letzten Kartoffeln ausgegangen, und jetzt hatte er nur noch Rübenblätter.

Sich zu erheben und sich der weißen Oberherrschaft zu widersetzen, ist im Süden nicht alltäglich, und viele Neger sind immer noch ängstlich gegenüber den Weißen. Ich fragte eine Frau in Alabama:

»Habt ihr Angst vor den Weißen hier?« Sie antwortete:

»Mensch, natürlich, wir haben von den Weißen nichts zu erwarten.« »Was ist mit den Weißen?« »Die Weißen nehmen uns das Leben, brennen unsere Häuser ab, nehmen uns unsere Männer, zerstören unsere Männer und tun alles mögliche, was falsch ist ... Ich spreche von den Weißen in dieser Gegend.«

Im allgemeinen glaubte ich immer, daß die Neger übertrieben, wenn sie mir solche Dinge berichteten. Ich habe immer einen etwas naiven Glauben an das Gute im Menschen gehabt und kam im allgemeinen gut mit den Weißen des Südens zurecht, die ich in vielerlei Hinsicht lieber mochte als die liberaleren, aber menschlich kühleren Weißen des Nordens.

Die bittere Wahrheit erfuhr ich allerdings bei einer bestimmten Gelegenheit. Ich wohnte bei einer alleinstehenden Mutter, Mary« weit draußen an einer einsamen Straße in Alabama in einem shack ohne Wasser und Toilette, aber wenigstens mit Elektrizität, einem Fernseher, der oft in Betrieb war, und einem alten Kühlschrank, der sich an der Pappkartonwand der Hütte gut ausnahm.

Sowohl Mary als auch ich romantisierten unser Verhältnis mitten im südlichen Rassismus Alabamas. Sie hatte drei Pistolen und ein Gewehr, um sich damit zu verteidigen, falls etwas passieren sollte. Es waren glückliche und erholsame Tage, die ich dort mit ihr und ihrem Sohn John verlebte.

Viele Neger stimmten für den Rassisten Wallace.

Mir schien es verwunderlich, daß Mary genauso wie viele andere Neger in Alabama für den Rassisten George Wallace gestimmt hatte, aber die massive bürgerliche Propaganda ist offenbar so stark, daß sie die Leute oft dazu bringt, gegen ihre eigenen tieferen Interessen zu stimmen.

Als ich eine Zeitlang verreisen mußte, gab mir Mary ein Silberkreuz mit, das mich auf der Reise beschützen sollte. Später zeigte es sich, daß Mary dieses Kreuz dringender gebraucht hätte als ich.

Offenbar ohne einen anderen Grund als den, daß sie einen weißen Mann bei sich im Hause hatte wohnen lassen, warfen drei Weiße eines Nachts eine Brandbombe in ihre Küche, und im Verlauf von Sekunden stand das ganze Haus in Flammen. Ihr selbst und John gelang es, aus dem Haus zu eilen, aber ihr Bruder, der drinnen schlief, verbrannte; alles, was man später von ihm fand, waren seine Zähne.

Später berichtete Mary mir von dem Unglück: »Mein Hund ist auch gestorben.«

»Du sagtest, das Feuer sei in der Küche ausgebrochen und daß jemand eine Benzinbombe hineingeworfen habe?«

»Ja, das ist doch egal ... Ja, das haben sie getan.«

»Was geschah, als du draußen auf der Straße standest?«

»Ich versuchte dreimal hineinzugelangen, um meinen Bruder zu retten -- es ging nicht, alles brannte.«

»Wer fand die Reste deines Bruders?«

»Leute, die später herüberkamen ...«

»Was fanden sie?«

»Ich weiß nicht, was sie fanden. Ich stand immer noch unter Schock.«

Für Mary war es ein hartes Jahr. Ihre Mutter starb an einer Krankheit, ihr Vater war ein Jahr zuvor an einer Krankheit gestorben. Und unmittelbar bevor ihr Bruder verbrannte, wurde ihre Schwester in Atlanta ermordet. Das Fernsehen beschließt jeden Abend sein Programm mit einem Bild von Lincoln, der die Sklaven befreit hat. Aber es ist die Frage, ob Mary wirklich in ihrem traurigen Dasein frei ist.

Linda wohnt ganz in der Nähe von Disney World, aber darüber sprechen wir nicht, denn sie hat niemals genügend Geld, um dorthin zu gehen. Ihre Leute waren so arm, daß sie noch niemals Licht gehabt hatten, bevor ich zu ihnen zog. Ich konnte ihnen Petroleum für eine alte Lampe kaufen, die sie besaßen. Für die Familie wurde es ein Freudentag.

Lindas Vater arbeitete vom frühen Morgen bis zum späten Abend und bewachte Kühe eines weißen Gutsbesitzers. Jeden Abend kam er gegen zehn Uhr die fünf Kilometer zu Fuß nach Hause gelaufen.

An diesem Abend wollten wir ihm mit einer Überraschung eine Freude machen, und als wir ihn in der Dunkelheit herankommen sahen, lief Linda hinaus, sprang ihm auf den Arm und rief: »Vater, Vater, wir haben ein Geschenk bekommen ... guck. Licht ... wir haben Licht bekommen.« Und danach tanzten Linda und ihr Bruder draußen im Schein der Lampe. Es herrschte große Begeisterung über dieses Licht, und sie wärmte mich unermeßlich, nachdem ich in einer Reihe kalter Millionärsvillen gewohnt hatte.

Sonst gab es nicht viel, worüber man sich in ihrer Stille freuen konnte. Das Essen mußte immer draußen vor der TUt über einem offenen Feuer zubereitet werden, und die Mutter konnte kaum etwas anderes tun, als unbeweglich zurückgelehnt im Stuhl zu sitzen, da sie aufgrund einer Krankheit unerträgliche Schmerzen hatte. Linda las im allgemeinen vor Sonnenuntergang in ihren Schulbüchern, aber einige Male sah ich sie auch im Mondschein lesen. Im unmenschlichen Dasein eine heile Familie.

Für mich war Linda ohne Zweifel das strahlendste und erfreulichste Erlebnis in den USA. Als ich in ihre Familie kam, war ich vollkommen niedergeschlagen; monatelang hatte ich die Armut der Schwarzen im Süden erlebt, die ich als zerstörender und dehumanisierender empfunden hatte als irgendeine andere Armut auf der Welt.

Ich beobachtete Linda und fragte mich, warum sie nicht genauso an Körper und Seele geknechtet war wie nahezu alle anderen armen schwarzen Kinder, denen ich im Süden begegnet war. Was brachte ihre Familie dazu, mitten in diesem unmenschlichen Dasein zusammenzuhalten?

Warum verspürten sie eine tiefere Liebe füreinander, als ich in irgendeiner anderen Familie in den USA angetroffen habe? Während die Armut überall in den USA häßlich ist und sowohl der Umgebung als auch dem Menschen ein häßliches Angesicht verleiht, hatte hier die Liebe zu überleben vermocht.

Menschen, die zum Mond wollen, fahren an Lindas shack vorbei. Nicht weit davon entfernt liegt ein anderes shack ohne Licht, Wasser, Toilette etc. Es ist Cape Kennedys unmittelbarer Nachbar, und hier stand ich eines Morgens und verfolgte durch die Risse im Haus den Abschuß einer Mondrakete.

Der alte schwarze Mann bemerkte überhaupt nicht, daß die Mondrakete sich langsam über seinem Haus erhob, denn er hatte kein Radio, das ihm hätte berichten können, wann dieses Milliardenprodukt in der Luft verrauchte. Und falls er es zu wissen bekommen hätte, wäre er wegen seiner Unterernährung doch zu krank gewesen, um den Kopf zu heben und nach der Rakete zu schauen. Im nächsten Heft

In Chicago sterben jährlich Hunderte von Kindern an Rattenbissen -- Bei den Heroinsüchtigen in Harlem -- Das graue Getto der Alten

Jacob Holdt
Zur Ausgabe
Artikel 35 / 64
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren