Titel Nackt unter Freunden
Wer ist mein drittbester Freund, wer nur mein siebtbester? Und wird Lisa, die Schnepfe, es mir je verzeihen, wenn sie auf Platz 14 landet?
Für Jugendliche sind das heutzutage sehr heikle Fragen. Nie würden sie ihre Freunde in Ranglisten einsortieren, und schon gar nicht vor deren Augen.
Es gibt aber einen Ort, wo sie genau das tun müssen.
Die Adresse: MySpace.com, eine riesige Freundeszentrale im Internet, beliebt bei Millionen jungen Netzwerkern.
Die US-Sozialforscherin Danah Boyd hat sich dort umgesehen; sie spricht von einem »sozialen Schlachtfeld«.
Die Mitglieder dürfen bei dem Online-Netzwerk ihre Freunde und Freundesfreunde um sich scharen; schnell entstehen da Kreise von hundert, zweihundert Leuten. Und dann heißt es, unerbittlich die »Top Friends« aufzulisten. Das geht selten gut.
Boyd befragte Jugendliche, wie sie mit den Ranglisten zurechtkommen. »Das ist so ein Stress«, erzählte ihr Jordan, 15. »Wenn du bei andern auf der Liste bist, fühlst du dich schlecht, wenn sie nicht auf deiner sind.« Selbst um einzelne Rangplätze wird oft bitter gerungen, berichtete Anindita, 17: »Dann heißt es, warum bin ich Nummer zwei? Du bist doch Nummer eins auf meiner Seite!«
Das sind Konflikte! War es früher entscheidend, wer auf welche Party eingeladen wurde, plagen sich heute Millionen Jugendliche, den Wert ihrer Freunde zu beziffern. Warum tun sie sich das an? Die Begeisterung für die neuartigen Freundesnetze muss wahrlich überwältigend sein.
Ein anderer Fall, ein anderes Netzwerk: Sarah, 20, verträgt eine Menge Alkohol, wie jeder sehen kann. Ein Foto zeigt sie mit dem Kopf auf einem Tisch liegend, vor sich gut drei Dutzend leere Jägermeister-Flaschen, ein paar Biere und ein voller Aschenbecher. Sarah sieht etwas angeschlagen aus.
Die Party ist heute längst verrauscht, der Kater überstanden, aber das Bild ist noch immer öffentlich im Internet ausgestellt: beim Netzwerk StudiVZ, auf der Seite, wo Sarah, Studentin der Theaterwissenschaft, sich gemütlich eingerichtet hat.
Solche Freizügigkeit ist weit verbreitet in dem Studentennetzwerk. Die Mitglieder präsentieren Abertausende Fotos, die keiner sich in sein Zimmer hängen würde - es könnte ja der Paketbote hereinkommen: tätowierte Schambeine, blanke Hinterteile, gebleckte Zungen, delirös verdrehte Augen. »Jaja ich bin mal wie immer voll!!!!«, schreibt Christian aus Pinneberg unter ein Fetenfoto, das keinen Zweifel daran lässt, wie voll er ist.
Es mag schwer zu glauben sein, aber offenbar ist StudiVZ für viele Mitglieder ein privaterer Ort als das eigene Zuhause. Sie erleben das Netzwerk als eine Stätte, an der man ganz unter sich ist und sich für nichts auf der Welt genieren muss.
Woher kommt die bezwingende Macht dieser Freundesnetze? Wie bewirken sie, dass ihre Teilnehmer bedenkenlos in kurioses Verhalten verfallen? Und warum bringen sich die einen mit dem Austüfteln von Freundesranglisten um den Schlaf, während die anderen ein riesiges Forum mitten im Internet mit einer Eckkneipe verwechseln?
Der Kreis der Betroffenen reicht diesmal weit über die üblichen Internet-Begeisterten hinaus. In kurzer Zeit konnten die sozialen Netzwerke große Teile der Bevölkerung an sich binden: an die sechs Millionen bei StudiVZ, fast fünf Millionen bei SchülerVZ, fünfeinhalb Millionen beim überraschend erfolgreichen Aufsteiger »Wer-kennt-wen«, der auf dem besten Weg zum Volksnetzwerk ist.
Und die Rede ist nicht, wie sonst oft, von Karteileichen: Die meisten Mitglieder sind regelmäßig online anzutreffen. Bei den Jugendlichen in Deutschland ist schon mehr als die Hälfte mehrmals die Woche in einem sozialen Netzwerk aktiv.
Die Besiedlung der Freundeszentralen vollzieht sich mit einem Tempo, als wäre das Internet gerade dafür erfunden worden. Der Pionier Facebook hat in nicht einmal fünf Jahren weltweit über 175 Millionen Mitglieder angelockt.
Wie der Unternehmensgründer Mark Zuckerberg, 24, Ende Januar auf einer Tagung in München verkündete, sind inzwischen auch mehr als zwei Millionen Deutsche bei Facebook registriert.
Die Marktforschungsfirma IDC hat jüngst ermittelt, dass gut die Hälfte der US-Bürger mit Internet-Zugang ein soziales Netzwerk nutzen; von denen kommt die deutliche Mehrheit mindestens einmal am Tag vorbei und bleibt mindestens eine halbe Stunde. In Europa ist eine ähnliche Tendenz zu beobachten.
Freilich weiß noch niemand, wie sich mit den Volksmassen Geld verdienen lässt. Mit gewöhnlichen Anzeigen geht es kaum. Denn wer sich in diesen Netzen herumtreibt, ist auf Geselligkeit und Austausch gestimmt; Werbung verärgert da nur, bestenfalls wird sie gar nicht wahrgenommen.
Als der RTL-Konzern kürzlich das Netzwerk »Wer-kennt-wen« zu 100 Prozent übernahm, waren für die fehlenden 51 Prozent wohl weniger als 10 Millionen Euro fällig - dem Holtzbrinck-Verlag war StudiVZ Anfang 2007 noch rund 85 Millionen wert. Der Preisverfall spiegelt den Kummer mit den Einnahmen wider. Für RTL hat die Übernahme denn auch eine eher strategische Bedeutung: Die Firma schart im Internet ein Millionenpublikum um sich, das sich womöglich für interaktive Angebote zu Kochshows und Brautschauen begeistern lässt, wenn eines Tages das traditionelle Fernsehen nicht mehr so zieht.
Für Werbeeinnahmen jedoch gibt es nur eine verheißungsvolle Quelle, und das ist die arglose Auskunftsfreude der Neubürger: Kaum angekommen, beeilen die sich, ausführliche Selbstbeschreibungen, genannt Profile, auszufüllen. Darin geben sie Auskunft über Vorlieben, Telefonnummern und Ehestand, ergänzt um möglichst originelle oder verruchte Fotos aus dem privaten Album. Und kaum haben sie sich eingerichtet im Kreis der Freunde, vergessen sie, wo sie sind. Sie betrachten das neue Refugium als ausgelagerten Stützpunkt des Privatlebens im Virtuellen - ein großer Irrtum.
Die Macher der Netze, die immer dringlicher auf Einnahmen aus sind, haben nun einmal nichts Lukrativeres als die Profile der Mitglieder. Diese stecken voller Hinweise auf Bildungsniveau und Berufsbild, Lebensstil und Geschmack. Sie wecken den alten Traum vom gläsernen Kunden, der mit zielgenauer Werbung eingedeckt werden kann, weil er selbst alles über sich verrät.
Die Betreiber würden diese Profile gern an die Werbewirtschaft verkaufen, müssen allerdings vorsichtig sein. Noch ist das Risiko zu groß, dass ein allzu offener Schacher die Mitglieder verschreckt.
Den wenigsten ist klar, dass kaum ein Ort so wenig privat ist wie das Internet. Die sozialen Netzwerke stehen sogar unter besonderer Beobachtung. Neben den Betreibern selbst interessieren sich Datensammler aller Art und Gesinnung für das Treiben. Auch die Wissenschaft ist schon hinter den Profilen her, angelockt von einer Fülle von Daten, an denen sich etwa studieren lässt, wie Freundschaften entstehen oder Trends sich auf dem Ansteckungsweg verbreiten - die Forscher kommen erstaunlich leicht an privates Material heran; wer will, kann sich mit wenig Aufwand Millionen Profile beschaffen.
Neben solch leidlich seriösen Interessenten strolchen auch noch, nicht minder animiert, die Finsterlinge der Online-Welt durch die neuen Jagdgründe. Pädophilen ist es ein Leichtes, Kinder auszuspähen. Manche Übeltäter melden sich nicht einmal unter falschem Namen an - MySpace übergab US-Staatsanwälten kürzlich auf deren Verlangen hin eine Liste von 90 000 verurteilten Sexualstraftätern, die die Firma aufgestöbert hatte. Deren Mitgliederseiten wurden gelöscht.
Auch Spammer sind vielfach zu einer Plage geworden. Sie stellen etwa gefälschte Profile attraktiver Frauen ins Netz, und wer darauf hereinfällt und sie als »Freunde« in seinen Kreis aufnimmt, wird mit Werbemüll eingedeckt.
Einer 26-jährigen Engländerin wurde zum Verhängnis, dass sie in Facebook ihren Status von »Verheiratet« auf »Single« änderte. Daraufhin drehte ihr 41-jähriger Ehemann durch und erstach sie.
Die meisten Nutzer nehmen die neuartigen Risiken bedenkenlos in Kauf. Was für sie zählt, ist die Gegenwart mit ihren Verheißungen: umstandslose Geselligkeit, immer jemand in Rufweite. Die Leute können spaßige Rundmails an die Gruppe schicken, die Fotos von der Weihnachtsfeier kommentieren oder in den Selbstbeschreibungen der anderen herumblättern. So kreisen die Cliquen gemütlich um sich selbst; viele Mitglieder brauchen darüber hinaus gar nicht viel mehr vom Internet. Manche lassen sogar das Schreiben von E-Mails bleiben, es gibt ja die eingebaute Nachrichtenfunktion.
Problemlos verwaltet der moderne Netzwerker auf diese Weise enorme Freundeskreise im dreistelligen Bereich - mit ungewissen Folgen für die altmodische menschliche Bindung. Kann sie überhaupt noch gedeihen im digitalen Milieu der Oberflächlichkeiten und des flüchtigen Bescheidwissens?
Der Bedarf nach computergestützter Geselligkeit jedenfalls scheint noch längst nicht gestillt. Vor zwei Jahren waren die großen Netze weitgehend unter sich. Heute belebt sich die Szene zusehends mit Neugründungen. Es gibt gutbesuchte Netzwerke für Computerspieler und Hochzeitspaare.
Die Jugendrotkreuzler treffen sich bei jrk-vz.de, die Alten gehen zum seniorentreff.de (wo die Beiträge bei Bedarf von einer angenehmen Computerstimme vorgelesen werden). Für Hundefreunde stehen Portale wie stadthunde.com bereit, wo Bello und Trixi schon schwanzwedelnd warten ("Ich suche eine Spielgefährtin, wuffwuff!").
Praktisch jede soziale Gruppe hat inzwischen mindestens ein Netzwerk zur Wahl. Selbst die Freier können sich nun bei poppen.de (angeblich 1,8 Millionen Mitglieder und 783 000 Fotos) zu Freundesgruppen zusammentun.
Der Wunsch nach Freundschaft und Austausch bricht sich Bahn in aller Breite, er entdeckt das Internet als große Sozialmaschine. Von Anfang an gründeten Menschen im Netz mit großem Eifer Gemeinschaften, sehr wundersame darunter - von Rollenspielergilden bis hin zur Internationale der Emu-Züchter. Nun aber geht es über das bloße Diskutieren gemeinsamer Interessen hinaus. Es geht um die Freundschaft selbst, das Verbundensein an sich, den Kern des Sozialen.
Der Nutzen ist vielfältig. Moderne Berufsnomaden können jetzt über mehrere Umzüge hinweg die Verbindung zu alten Freunden halten, die sonst unterwegs verlorengehen: den Kumpeln aus der Hauptschule, den Kommilitonen vom Auslandssemester in Australien.
Wer will, kann auch nach neuen Menschen fischen. Maja Koch, 27, zog vor einem Jahr für ihren ersten Job nach Düsseldorf. Sie kannte keine Menschenseele, und so blieb es auch eine Weile. »Man denkt, jetzt fängt das große Leben an, aber dann sitzt man auf der Couch, und nichts passiert.« Ihr Glück, dass sie bei MeinVZ die Gruppe »Neu in Düsseldorf« fand. »Da gibt es für jeden Abend der Woche Leute, die sich verabreden, zum Sport, ins Kino, zum Essengehen.«
So knüpfte Maja Koch die ersten Kontakte und baute einen ganz neuen Freundeskreis auf. Nun führt sie ein typisches Beraterleben: Wohnung in Düsseldorf, Kunde in München, montags hin, freitags zurück. An den Werktagen dazwischen sieht sie jeden Morgen, jeden Abend bei MeinVZ nach ihren Freunden zu Hause.
Wer bislang ein Studium begann, war in der Regel ebenfalls zunächst allein. Heutige Erstsemester hingegen klicken längst routiniert in den Profilen der Mitstudenten herum: Gut zu wissen, dass im Proseminar zwei weitere Yoga-Anfänger sitzen, das erleichtert den Erstkontakt.
Aber auch die gezielte Partnerpirsch gewinnt an Zielschärfe, wenn dafür mächtige Datenbanken offenstehen. Sehr ausgefeilte Fahndungswerkzeuge bietet das Netzwerk lokalisten.de. Dort ist es ein Leichtes, aus dem Fundus der Mitgliederprofile alle Snowboarderinnen aus dem Münchner Raum herauszufiltern, die derzeit Single sind und auch gern in die »Registratur« tanzen gehen (73 Treffer).
Besonders Wagemutige nutzen spezielle Netzwerke, um sich für ein, zwei Tage gänzlich fremde Leute ins Haus zu holen, Übernachtung inklusive. Unter der Adresse couchsurfing.com etwa findet sich ein globaler Zirkel der Gastlichkeit. Die Mitglieder tauschen Schlafplätze untereinander, diskutieren ihre Erfahrungen und befestigen neu entsprossene Freundschaften. Das Angebot an kostenlosen Unterkünften umfasst inzwischen knapp 700 000 Betten auf allen Kontinenten.
In Frankfurt erfreut sich das Sofa von Sebastian Heise großen Zuspruchs. Zuletzt nächtigte hier im Schnitt alle 14 Tage ein Gast von irgendwo. Seit ein paar Wochen aber ist Heise selbst unterwegs; er reist durch Neuseeland, von einem Sofa zum anderen. Ein Jahr lang will Heise auf Achse bleiben. Die Idee sei, sagt er, »das eigene soziale Netz auszubauen, nicht bloß kostenlos irgendwo zu pennen«.
Heise verabredet sich deshalb mit seinen Gastgebern auch gern zum Ausgehen, oder er bittet sie, ihm ihre Stadt zu zeigen. 83 Couchsurfing-Kontakte hat er bislang in seinem Profil. Die Zahl dürfte in den kommenden Monaten erheblich steigen.
Die Nutzer der gewöhnlichen Netzwerke sind freilich nicht so sehr auf Abenteuer aus. Ihnen genügen zumeist die Leute, die sie schon aus dem echten Leben kennen. Selbst die Jüngeren streben selten über ihre Cliquen hinaus. Für sie sind die Netze ein Mittel, sich noch enger zusammenzuschließen, eine eigene Welt zu etablieren, in der sie unter sich sind - eine garantiert erwachsenenfreie Zone.
Das hat die bislang gründlichste Feldstudie unter Jugendlichen ergeben, die gerade in den Vereinigten Staaten zu Ende gegangen ist. Bezahlt von der MacArthur Foundation, schwärmten 28 Forscher von zwei kalifornischen Universitäten aus in die Jugendkultur. Sie gingen dabei so sorgsam vor wie Ethnologen, die Sitten und Gebräuche eines unbekannten Volks erkunden. 800 Jugendliche wurden befragt und gefilmt, gut 10 000 Profile bei MySpace, Facebook und anderen Diensten ausgewertet.
Mehr als 5000 Beobachtungsstunden kamen zusammen, alle protokolliert. In dreijähriger Arbeit entstand so das Bild einer Generation, die sich im Internet ein zweites Zuhause eingerichtet hat.
Die Heranwachsenden nutzen das Netz vor allem, um rund um die Uhr in Verbindung mit ihren Kreisen zu bleiben. Tagaus, tagein wechseln sie dafür fast nahtlos die Kanäle: in der Pause mal eben zwei Mobiltelefonate mit dem Liebsten, unter der Schulbank noch ein paar SMS an die Busenfreundin, zu Hause am Computer eine Runde Chat oder Instant Messenger, und dann auf zu Facebook, wo die ganze Clique vertreten ist.
In der Online-Welt machen die jungen Netzwerker, was sie auch im Leben draußen vornehmlich tun: herumhängen. Sie klicken durch die Profilseiten der Freunde, sie lesen, was es Neues gibt, hinterlassen neckische Kommentare und la-
den Handyfotos vom Popkonzert hoch.
Wer im Internet nach neuen Bekanntschaften sucht, gilt zumindest unter jungen Menschen eher als wunderlich. Die Forscher stellten fest, dass fast nur Außenseiter, Homosexuelle beiderlei Geschlechts und andere Minderheiten häufig online nach zugänglichen Seelen forschen. Allerdings gibt es auch Rekordjäger, die aus purem Sammeltrieb ihre Freundeslisten auf Hunderte Köpfe erweitern. Vor allem Jungen veranstalten gern regelrechte Beutezüge. Es gewinnt, wer die meisten weiblichen Schönheiten auf seine Liste bugsieren konnte.
Im normalen Leben aber geht es nicht um Trophäen, sondern um Klatsch, Tratsch und Selbstdarstellung. Der eigene Auftritt im Netz wird oft sorgsam arrangiert: Jedes Foto soll etwas sagen, ein witziges Hintergrundbild ist nie verkehrt, und wenn im Gästebuch zu wenige Kommentare von Freunden stehen, ist das schlecht für den Status. Die magische Dauerpräsenz der Freunde und Altersgenossen macht den Ort zu einer Bühne, auf der man tunlichst seine Gelegenheit nicht verpatzt.
Damit erreicht die Herausbildung einer autonomen Jugendkultur, die sich von der Elternwelt abgrenzt, einen neuen Höhepunkt. Die Jugendlichen haben sich eigene Gemeinschaften geschaffen, in denen sie schier ununterbrochen inniglich zusammenstecken. Immer größere Bereiche des Lebens sind den oft ratlosen Eltern entzogen. Die US-Forscher sprechen von »fulltime intimate communities«, zu Deutsch etwa »Vollzeitkuschelgruppen«.
Die US-Soziologin C. J. Pascoe, die an der Studie beteiligt war, findet diese Obsession für die eigenen Kreise nicht weiter erstaunlich. »Unsere Jugend hat keine Macht und keine Aufgaben«, sagt Pascoe. »Wir halten sie viele Jahre lang von allem fern, was in der Gesellschaft wirklich zählt. Wie sollen sie etwas über sich herausfinden, wenn nicht durch ständigen Austausch mit ihresgleichen?« Der Triumph der Clique über die Erwachsenenwelt hat sich im Internet so rasch und gründlich vollzogen, als hätte eine ganze Generation nur darauf gewartet. Nun ist die Technik da, und die Jugendlichen genießen die vereinigende Magie des neuen Mediums.
Sie lernen aber auch, dass der Anschluss an ein Netz nie folgenlos ist. Das Medium formt den Umgang. Es kann Freundschaften vertiefen, aber auch vergiften.
An neuartigem Verdruss herrscht kein Mangel. Plötzlich entgleisen viele Streitigkeiten. Das kommt, weil ein Streit, der online geführt wird, rasch Kreise zieht. Auf dem Schulhof bleiben die Kontrahenten meist unter sich, und irgendwann erschöpft sich der Konflikt von selbst. Springt er aber ins Online-Medium über, sind die Auswirkungen ungleich heftiger: Die Zerstrittenen schreiben einander Bosheiten an die Anschlagbretter, veröffentlichen peinliche Fotos, verbreiten Gerüchte. Das geschieht vor aller Augen, und es ist oft nicht mehr zu tilgen.
Auch in Deutschland nimmt das Problem an Dringlichkeit zu. Beim Bremer Medienpädagogen Markus Gerstmann stapeln sich bereits die Fälle: Ein muslimisches Mädchen, das außer Haus stets Kopftuch trägt, feiert daheim Mädchenabend mit den Freundinnen. Die Stimmung ist ausgelassen, das Haar offen, es werden Fotos gemacht. Später gibt es Streit, und plötzlich landen die freizügigen Porträts im Internet. Kommentar: »Männergeile Schlampe!« Die Eltern des Mädchens sehen das und drehen durch.
Geschichten wie diese sind jetzt Alltag. Jeder vierte jugendliche Netzwerker hat einen Bekannten, der schon einmal »in einer Community fertiggemacht« wurde. Das hat die neueste »JIM«-Studie des Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest ergeben.
Weil die Jugendlichen rund um die Uhr mit ihrer Online-Welt verbunden sind, treffen die Angriffe sie umso vernichtender: Wer ehedem gemobbt wurde, fand immerhin nach Schulschluss zu Hause eine andere Welt vor, eine sichere Zone. Das ist vorbei. »Es gibt keinen Rückzugsraum mehr«, sagt Gerstmann. Schon auf dem Heimweg treffen fiese SMS auf dem Handy ein. Zu Hause gehen die Schmähattacken weiter im Internet-Chat, per E-Mail und natürlich in den diversen Online-Portalen wie SchülerVZ, lokalisten.de oder Twitter.
Zudem geht den Tätern online leicht die Beißhemmung verloren. Erstens erleben sie die Tränen und Nöte ihrer Opfer nicht mit. Und zweitens schlagen sie oft zu aus der Deckung der Anonymität. Es ist, als wären die Jugendlichen plötzlich in den Besitz großkalibriger Distanzwaffen geraten. Welchen Schaden sie damit anrichten, können sie noch kaum ermessen.
Das Internet stellt eine Öffentlichkeit her, die nie zu kalkulieren ist. Stets kann es zu jähen Kettenreaktionen kommen. Ein Streit zwischen zwei Schülern greift auf die halbe Schule über, ein peinliches Video landet bei YouTube und wird zum Gespött der ganzen Welt.
Das verstört nicht nur die Jugend. In Südkorea nahm sich im Oktober die überaus beliebte Schauspielerin Choi Jin Sil, 39, das Leben. Ein geisterhafter Lynchmob hatte sie im Internet mit Anschuldigungen verfolgt: Sie sei ein Kredithai und überdies schuldig am Selbstmord eines Freundes.
Die Grenzen zwischen öffentlich und privat, zwischen schnell getan und ewig bereut scheinen heillos zu verschwimmen. Ältere fallen zwar seltener als Aggressoren gegen andere auf; umso mehr erstaunt die Bedenkenlosigkeit, mit der sie sich selbst schaden. All die gruseligen Fotos von Besäufnissen, die öffentlich im Netz herumspuken, erlauben nur einen Schluss: Mitten im unendlichen Internet erliegen die Kumpel dem trügerischen Gefühl, im kleinsten Kreis zusammenzuhocken.
Anders ist auch das Phänomen der »Gruppen« nicht zu erklären. Die meisten Netzwerke bieten die Möglichkeit, beliebige Gruppen für Diskussionen zu gründen. Jeder Nutzer kann dann beitreten; in seinem Profil werden alle Mitgliedschaften aufgeführt. Das ist ein sehr populäres Mittel, unverwüstlichen Witz zu demonstrieren: »Nüchtern zu schüchtern, besoffen zu offen« heißt eine Gruppe, »Titten raus, Stimmung!« eine andere. Derbere Naturen trauen sich noch einen Schritt weiter: »Du willst Schmetterlinge im Bauch? Steck dir Raupen in den Arsch.«
Mit einem Wort: Wohl nirgendwo sind so viel herzhafte Peinlichkeit und fröhliche Entblößung zu finden wie in den sozialen Netzwerken des Internet. Die Spaßvögel sind wie verhext von der Illusion, ganz unter sich zu sein.
Denken sie nicht an den künftigen Chef, der bald genug vorbeigeklickt kommt, um den neuen Bewerber zu inspizieren? Oder, peinvoller noch, an den bezaubernden Kandidaten aus der Partnerbörse, der sich das alles mal ansehen könnte?
An Voyeuren und anderen Spähern fehlt es jedenfalls nicht. Die Vielfalt des Gewimmels in den sozialen Netzwerken ist so verlockend, dass auch ehrbare Wissenschaftler schon als Datensammler zugange sind. Es treibt sie die Aussicht, dass sie das Sozialleben erstmals mit wenig Aufwand im Großmaßstab erforschen können. Der entscheidende Vorteil: Hier liegt alles, anders als im echten Leben, in computerlesbarer Gestalt vor.
»Was Soziologen und andere Forscher begeistert, ist die Tatsache, dass jeder Klick im Internet Datenspuren hinterlässt, die sich sammeln und auswerten lassen«, sagt Urs Gasser, Professor für Informationsrecht an der Universität St. Gallen. Damit werde es zum Beispiel erstmals möglich, im Detail zu studieren, wie Freundschaften oder auch Moden entstehen und vergehen.
Forscher der Harvard University, darunter der Soziologe Nicholas Christakis, haben die neuen Quellen bereits angezapft. Seit fast drei Jahren untersuchen sie das soziale Geflecht von 1640 jungen Menschen, die gemeinsam ihr Studium begonnen haben. Fast alle haben bei Facebook ein Profil von sich angelegt. Die Forscher werten diese Daten nun aus - Vorlieben, Hobbys und Freundesbande inklusive.
So lässt sich etwa erkennen, inwiefern Freundschaften aus ähnlichen Interessen entstehen. Erstaunliche Unterschiede treten zutage. Menschen, die ähnliche Bücher als Lieblingslektüre angeben, haben sich sonst im Leben wenig zu sagen. Umgekehrt ist es mit dem Musikgeschmack: Jene, die etwa gern klassische Musik hören, finden überdurchschnittlich häufig zueinander.
Der Soziologe Christakis konnte zuvor schon nachweisen, dass sich Fettleibigkeit und der Entschluss, mit dem Rauchen aufzuhören, über soziale Kontakte ausbreiten. Gewohnheiten aller Art scheinen einfach von Freund zu Freund überzuspringen wie eine Grippe - selbst wenn die beiden Menschen weit voneinander entfernt leben und nur gelegentlich telefonieren. Es genügt, dass sie befreundet sind. Christakis schließt daraus, dass nicht die Verhaltensweise selbst auf dem Ansteckungsweg übertragen wird, sondern der moralische Maßstab, der sie verbietet oder gestattet: Werden einige Kumpel plötzlich dicker, lässt die eigene Selbstkontrolle ebenfalls nach.
Theoretisch müssten sich solche sozialen Infektionen auch über elektronisch geknüpfte Freundschaften ausbreiten. Und tatsächlich liefert die Facebook-Studie unter den Studenten erste Hinweise darauf: Die Forscher ermittelten für jedes Facebook-Profil, welche Freunde darauf mit Fotos vertreten waren. Dann untersuchten sie die Mimik auf den Bildern. Wer lächelte und wer nicht?
Das Ergebnis überrascht in seiner Eindeutigkeit: Die Griesgrame gesellen sich eher zu ihresgleichen; sie haben auch vergleichsweise wenig soziale Kontakte. Die Lächler dagegen sind überdurchschnittlich oft untereinander befreundet, und sie befinden sich eher im Zentrum der Gruppen.
Bei rund 15 Freunden liegt die Obergrenze, da ist sich die Sozialforschung weitgehend einig - enge Bindungen bedürfen nun mal einiger Zeit und Mühe. Befragt man Menschen nach der Zahl ihrer Freunde, kommt auch selten ein höherer Wert heraus. In den Netzwerken jedoch wachsen die Kreise rasch auf 200 Köpfe und mehr. In der Mehrzahl sind das meist fernere Bekannte; man teilt mit ihnen ein Ambiente ungefähren Verbundenseins.
Soziologen sprechen von »schwachen Bindungen«. Diese sind nicht unwichtig für ein Gemeinwesen, weil sie Brücken schlagen zwischen den oft isolierten Kleingruppen und Cliquen, in denen die engen Freunde miteinander glucken. Die Netze, keine Frage, sind gut für die schwachen Bindungen. Aber sind sie auch gut für die starken?
Enge Freunde treffen sich immer noch offline - ihnen dient das Netz eher als zusätzlicher Kommunikationskanal. Allerdings fordert die Bereicherung ihren Preis: Wer die neue Sozialtechnik wirklich nutzt, hat gut zu tun. Der Freund 2.0 aktualisiert das eigene Profil möglichst täglich, trägt gelesene Bücher und gesehene Filme ein, klickt in den Profilen der anderen herum und schreibt unentwegt nette Kommentare unter ihre neuesten Fotos. Früher war er
bloß ein Kumpel, nun wird er zum vielbeschäftigten Unternehmer in der Boombranche Beziehungsmanagement. Wer zu wenig investiert, langweilt sein Publikum; dessen Aufmerksamkeit ist in dem flüchtigen Medium rasch erschöpft.
Das erklärt die Selbstvergessenheit, mit der sich viele auf ihrer kleinen Bühne inszenieren. Die stets präsente Öffentlichkeit verführt zu überanstrengten Darbietungen. Nichts im Netz ist privat, auch die Freundschaft nicht. Speziell die Erfahrungen der jugendlichen Intensivnutzer zeigen, wie schnell sich kleine Dummheiten zu großen auswachsen, nur weil immer alle dabei zusehen. Das computergestützte Sozialleben, so viel steht fest, ist überraschend kompliziert. Die Sitten, die es erträglich machen, müssen erst noch entwickelt werden.
Dann wird sich auch zeigen, ob der Austausch die Bindungen im echten Leben vertieft oder verflacht; noch ist das nur wenig erforscht. Die konservative Kulturkritik hat trotzdem schon eine klare Meinung. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther kann in dem Treiben »wenig mehr als eine Illusion von Gemeinschaft« erkennen. Wer seinen Freunden in elektronischen Zirkeln begegne, sagt er, halte sie dort doch eher von sich fern. »Er behält ja stets die Kontrolle darüber, was er von ihnen haben will und was nicht. Das ist ein in hohem Maß narzisstisches Bedürfnis.«
Der Karlsruher Philosoph Peter Sloterdijk sieht es gelassener: »Der Rückzug von den anderen, das Alleinseindürfen, das ist die große Errungenschaft des Individualismus«, sagt er. »Aber der Mensch ist auch ein Stammeswesen. Diese Netzwerke können beides glücklich vereinen: Man bleibt vom lästigen, vom aufsässigen anderen verschont, und doch ist der ganze Stamm immer anwesend.«
Der Online-Stamm verharrt quasi in Rufweite, in bequemer Halbdistanz - das ist das Angebot der großen Netzwerke, von Facebook bis MeinVZ. Sie erfüllen die Bedürfnisse von Millionen.
Geschäftliche Netzwerke wie LinkedIn oder das deutsche Xing hingegen streichen eher den Nutzwert von Kontakten heraus. Sie betrachten Bindungen recht unverblümt als soziales Kapital, das sich verwerten lässt. Das computergestützte Gemeinschaftsgefühl tritt dabei in den Rang einer willkommenen Nebensache zurück.
Aus dem Online-Treiben bei Xing sind in vielen Städten schon Gruppen hervorgegangen, die sich im echten Leben treffen und dabei gewiss auch ihren Schwatzbedarf stillen. In der Philosophie solcher Netze aber ist auch das eine Investition, die bald einmal eine Dividende abzuwerfen verspricht. Im Idealfall ist hier etwa die freiberufliche Architektin mit ihren Kunden verknüpft - außerdem mit ihrem Weinhändler, der Steuerberaterin und dem Maurermeister, der gelegentlich auf Baustellen einspringt.
Im Berufsleben ist offensichtlich, wofür das gut ist. An Aufträge gelangt man oft um zwei Ecken: Jemand kennt einen, der jemanden kennt. Wer bei Xing etwa einen Maurer sucht, kann die Kreise seiner Bekannten und wiederum deren Bekannten durchforsten. Kommt dort ein bewährter Meister zum Vorschein, lässt sich der Kontakt dann direkt herstellen.
Xing hat bereits über sieben Millionen Mitglieder. Davon zahlen rund 550 000 eine Abo-Gebühr von rund sechs Euro im Monat für den Premium-Dienst. Johannes Woll, 38, ist einer davon. Der selbständige Münchner berät Verlage beim Marketing, und seine Kunden findet er mittlerweile zu 80 Prozent übers Internet. »Als Dienstleister muss man sich heute in sozialen Netzwerken präsentieren«, sagt Woll.
Erfolgreiche Netze werden schnell zur Norm, das gilt für Jugendliche wie für Geschäftsleute: Sind einmal genügend Mitglieder drin, muss der Rest der Welt nachziehen, andernfalls drohen Isolation und Umsatzrückgang. 468 Online-Kontakte hat Woll derzeit registriert, und er könnte jederzeit ausrechnen, was ein jeder von ihnen im Durchschnitt wert ist - ein Blick in seine Geschäftsbücher würde genügen. Nicht umsonst ist Woll von morgens bis abends bei Xing zugange.
Dort hangelt er sich von einem Auftrag zum nächsten, und über die Kontakte seiner Kontakte erweitert er mit der Zeit seine Kreise. Am Ende der Kette stehe allerdings oft wieder das persönliche Gespräch im wirklichen Leben, sagt Woll: »Verlässlich sind die Kontakte, die man abends an der Bar schließt.«
Mittlerweile hat auch die Politik begriffen, was für ein empfängliches Publikum im Internet auf Anregungen wartet: Soziale Netze sind wie gemacht für Kampagnen. Die Kosten sind nicht der Rede wert, und der Effekt, falls die Sache Reiz hat, ist nach oben unbegrenzt. Damit sind auf einmal auch kleine Gruppen, ja selbst Einzelne imstande, Bewegungen in Gang zu setzen.
»Wenn jemand - und sei es eine bisher unbekannte Lokalpolitikerin - den Nerv der Zeit trifft und ein echtes gesellschaftliches Anliegen aufgreift, treten plötzlich starke Netzwerkeffekte auf«, sagt Urs Gasser von der Universität St. Gallen. »Über Nacht können sich, wenn richtig angesprochen, Tausende Menschen virtuellen Gruppen anschließen.«
Die große Politik will da nicht zurückstehen. Im deutschen Superwahljahr 2009 droht ein Online-Wahlkampf neuer Güte.
Die Partei, die auf sich hält, hat längst ihren eigenen Videokanal bei YouTube. Für die Spitzenleute gehört der Auftritt bei Facebook zum Pflichtprogramm. Doch das sieht meist noch ärmlich aus: Außenminister Frank-Walter Steinmeier etwa präsentiert Videos einer alten Parteitagsrede und lässt mitteilen, er sehe nach seinem Treffen »mit US-Amtskollegin Hillary Clinton ein hohes Maß an Übereinstimmung«. 1448 »Befürworter« haben sich bereits um Steinmeier geschart.
Über fünf Millionen sind es dagegen bei US-Präsident Barack Obama, dem großen Vorbild in Sachen Netzpräsenz. Er hat den politischen Einsatz des Internet zur Perfektion gebracht. Unter der Adresse my.barackobama.com hinterlegten zwei Millionen Anhänger ihre Nutzerprofile, 13 Millionen Menschen wurden per E-Mail dauerhaft in die Wahlkampagne eingebunden. Arme und reiche, weiße und schwarze Amerikaner empfingen regelmäßig E-Mails, die sie zum Spenden und zur politischen Mitarbeit ermunterten, teils mit konkreten Anweisungen. Obama unterhielt praktisch eine Standleitung zu Millionen Wählern; noch am Wahltag hielt er sie mit kurzen Textnachrichten bei der Fahne: Geh zur Wahl! Und am Tag nach der Wahl ging es gleich weiter. »Wir haben Geschichte geschrieben«, verkündete Obama seinen Gefolgsleuten; und er sandte die Nachricht ausgerechnet über einen vielbelächelten Internet-Dienst namens Twitter.
Diese Plattform war bislang eher bekannt als Weltzentrale der Plattitüden. Der Name leitet sich - zu Recht - vom englischen Wort für Zwitschern her. Twitter-Nutzer füttern einander mit kurzen Meldungen über ihr momentanes Tun und Lassen. Ein jeder kann sich aussuchen, von welchen Mitmenschen er diese Meldungen lesen will. Deren Gezwitscher erreicht ihn dann am PC oder auch unterwegs über Mobilfunk. Im Prinzip genügt ein Handy, um den Dienst zu nutzen. Damit lassen sich Nachrichten sowohl lesen als auch versenden. Obergrenze: 140 Zeichen, weniger als bei einer SMS.
Das genügt, um das Treiben Unbekannter zu verfolgen oder den Tagesablauf einer Freundin: »Ich sitze im Café. Wer kommt vorbei?« Eine gewisse »Terrorhexe« schreibt: »Alle weg - Mitarbeiterbesprechung - langweilig - rauchen«. Und Teilnehmer »Parkuhr« tut sein innerstes Sehnen kund: »Ich will Schnee«.
Was aber wollte der künftige US-Präsident in dieser Schwatzbude? Obama hatte seine Gründe. Das mobile Netzwerk ist überaus beliebt. Über sechs Millionen Nutzer zählt es schon. Die Anhänger preisen seine Bequemlichkeit. Die Twitter-Nachricht richtet sich, anders als die E-Mail, nicht an Einzelne, sondern an ein ausgewähltes Publikum: Beliebig viele Interessenten lassen sich damit mühelos auf dem Laufenden halten - führende Zwitscherer haben bereits Zehntausende Mitleser, genannt »follower«, um sich geschart.
Immer wieder sind es die simpelsten Werkzeuge der Kommunikation, die das Publikum erfreut in Besitz nimmt. Die SMS hat auch denkbar kümmerlich angefangen. Twitter macht nun aus dem Prinzip der SMS etwas Neues, ein Medium für vielerlei Zielgruppen, eine Art Radio der Schnipselbotschaften. Die Beiträger sind in aller Welt verteilt, und wenn etwas passiert, kann dieses Medium so gedankenschnell reagieren wie ein Heringsschwarm: Nach den Terroranschlägen von Mumbai waren es Twitterer, die als Erste von den Schauplätzen berichteten. Die Nachrichtendienste und klassischen Korrespondenten folgten in gemessenem Abstand.
Im Gaza-Konflikt aber war vom neuen Augenzeugenjournalismus nicht viel zu bemerken. Arme Gegenden mit dürftiger Stromversorgung haben offenbar andere Sorgen - das schicke Medium gedeiht eher in technisch besser versorgten Metropolen. Aber auch dort ist es, wie der Fall Mumbai zeigte, nicht eben zuverlässig: Da war die Rede von Angriffen auf ein Marriott-Hotel, die es nie gab; manches entstammte nur dem Hörensagen, wurde falsch abgeschrieben oder einfach nur aufgebauscht. Im Netzgezwitscher mischen sich falsche Mitteilungen unentwirrbar mit wahren, und die Selbstorganisation kann jederzeit umschlagen in entfesselten Unverstand.
Was da alltäglich herumposaunt wurde, ist nun auf ewig nachzulesen, zusammen mit dem übrigen Getwitter und all den anderen Trivialitäten und Peinlichkeiten, die das Internet füllen.
Nicht jedem mag es gefallen, was er da öffentlich über die Jahre an Spuren hinterlässt. Sie zu tilgen ist aber fast unmöglich. Vieles haben andere schon kopiert, kommentiert oder sonstwie verbreitet. Das US-Projekt archive.org speichert obendrein regelmäßig Momentaufnahmen von großen Teilen des Internet, die frei zugänglich sind; so werden Reisen in die Vergangenheit möglich, die auch viel Unliebsames wieder aufstöbern.
In der Gegenwart sind spezielle Menschensuchmaschinen wie yasni.de unterwegs, die zusammenraffen, was im Internet an Personenspuren aufzutreiben ist - eine Art Schleppnetzfischerei für E-Mail-Adressen, politische Aktivitäten und alte Sünden.
Im Fall der Sünden scheint es immerhin Hoffnung zu geben: Etliche Firmen versprechen bereits einen Ablass von den Fehltritten der Vergangenheit - soweit das technisch möglich ist. Eine davon, ReputationDefender, ist weltweit aktiv, seit einem Jahr auch auf dem deutschen Markt. Etwa tausend Kunden haben sich bislang eingefunden, die meisten davon Geschädigte des Mitmach-Web: Ärzte, über die in Patientenforen hergezogen wurde, oder Handwerker, denen Kunden schlechte Kritiken ausstellten. Es gibt aber auch ehemalige Rechtsradikale, denen ihre alten Diskussionsbeiträge peinlich sind, und eine Nachwuchsschauspielerin möchte Nacktfotos von sich aus dem Netz entfernen lassen.
Auch ReputationDefender kann alte Sünden nicht einfach löschen. Doch mobilisiert die Firma das Gute als besten Feind des Schlechten: Sie stellt für den Kunden neue, fingierte Web-Seiten ins Netz, die für Suchmaschinen optimiert sind. Google soll sie bei Anfragen möglichst weit vorn auflisten - so rücken die alten, peinlichen Beiträge immer weiter nach hinten, wo kaum mehr jemand nachsieht. Rund 150 Euro verlangt der Dienst dafür, dass er ein Jahr lang Wache hält über den guten Ruf.
Um ihre Profile bei den sozialen Netzen muss die Kundschaft sich allerdings selbst kümmern. Diese sind obendrein die weitaus ergiebigsten Quellen. Die Nutzer geben darin ihre Schulbildung preis, ihre bevorzugten Bücher, Filme, Sportarten. Und was sie für sich behalten, verraten womöglich ihre sozialen Beziehungen: Ein Mensch, der auffällig viele Links zu den Profilen von Schwulen geknüpft hat, enthüllt ungewollt vielleicht auch die eigenen sexuellen Vorlieben - Forscher am MIT haben gezeigt, dass es auch Fremden leicht möglich ist, für jedes Mitglied das Geflecht seiner persönlichen Beziehungen zu ermitteln.
»Die Daten, die für die Volkszählung 1987 erhoben wurden, sind lächerlich verglichen mit den intimen Details, die in Netzwerkprofilen stecken«, sagt Hendrik Speck, Informatikprofessor an der Fachhochschule Kaiserslautern. »Netzwerke wie StudiVZ oder Facebook protokollieren auch alle Aktivitäten mit, jede Nachricht, jedes Foto, jede Kontaktanbahnung.«
Für alle Betreiber sind die Aktivitäten und Daten der Nutzer eine verlockende Geldquelle. Das Problem ist nur, wie sie sich erschließen lässt, ohne dass die Kundschaft rebellisch wird. Facebook versucht es seit längerem mit einem Trick. Die Firma hat ihr Netzwerk für Programme von Dritten geöffnet. Diese dürfen den Mitgliedern nun kleine Anwendungen anbieten. Das sind großteils harmlose Sachen, die es etwa ermöglichen, einander mit Schafen zu bewerfen oder eine Art Scrabble zu spielen. Die Resonanz war gleichwohl enorm. Mehr als 52 000 solcher Programme gibt es bereits, und manche davon sind millionenfach im Einsatz. Sie funktionieren freilich nach dem Prinzip des trojanischen Pferds: Wer ein Programm installiert, gewährt dem Hersteller Zugriff auf seine Profildaten - dieser kann sie dann für zielgenaue Werbung auswerten.
Im Kleinen wird mit dem Datenschatz schon rege geschachert. »Zurzeit ist ein Profil etwa einen Cent wert«, sagt Speck. Dann ruft er an seinem Computer das Entwickler-Forum von Facebook auf. Dort treffen sich die Autoren der Spähprogramme, und in manchen Winkeln geht es zu wie auf einem Basar: »Ich verkaufe über 13 000 Oxford-Studenten«, schreibt einer. Ein anderer bietet »10 K active users« an: 10 000 aktive Nutzer, also keine Karteileichen, für 121 Dollar. Und ein Programm zum Verschicken von Weihnachtskarten steht für 50 000 Dollar zum Verkauf - eine halbe Million Facebook-Nutzer haben es installiert.
Wie viel Geld sich mit den intimen Daten verdienen lässt, ist schwer vorherzusagen; Großkunden zögern noch. Doch schon jetzt tun die Betreiber viel zu wenig, um ihre Datenschätze wenigstens vor unbefugten Zugriffen zu schützen. Der Informatiker Steve Webb aus Atlanta hat zu Forschungszwecken mit zwei kleinen automatischen Programmen bei MySpace knapp zwei Millionen Profile eingesammelt.
Kommerziellen Datenschnüfflern dürfte es nicht viel schwerer fallen. Erst im September 2008 führten Mitarbeiter des Fraunhofer-Instituts SIT in Darmstadt vor, wie leicht die meisten Netzwerke auszuspähen sind. Facebook schnitt dabei noch am besten ab, die Lokalisten am schlechtesten. Schlampig gesichert waren sie alle.
Der beste Schutz hilft freilich wenig, wenn die Nutzer selbst den Zugang weit offen halten. Viele sperren ihre Profile nicht einmal für Fremde. Dann kommt eben auch mal eine große deutsche Boulevardzeitung vorbei: Als im vorigen Jahr in Hamburg eine Lufthansa-Maschine beinahe bei der Landung verunglückt wäre, machten sich »Bild«-Reporter flugs bei StudiVZ über die Co-Pilotin kundig.
In ihrem Profil fanden sich nette private Bilder; auch über Hobbys, Vorlieben und Befürchtungen gab es einiges zu lesen - genug, um aus den Internet-Ermittlungen über »Maxi J. (24)« eine Titelstory zu fabrizieren: »Schöne Pilotin - Ihr trauriges Geheimnis«.
Dennoch werden die Netzwerker wohl nie lernen, mit ihren Intimitäten zu knausern. Sie sind schließlich nicht in die Netze gegangen, um dort möglichst unauffindbar, unerkannt und unzugänglich zu bleiben. Gerade die Preisgabe von Persönlichem ist es ja, die sie für andere interessant macht.
Im echten Leben entscheidet der Mensch automatisch je nach Umgebung, ob gerade Diskretion und Einsilbigkeit geraten sind oder nicht. In der Kirche verhält er sich anders als in der Firma, auf dem Einwohnermeldeamt anders als unter Kumpeln.
Im Netz dagegen soll er alles zugleich sein: kontrolliert, aber gelöst, leutselig, aber paranoid. Überall, so heißt es, lausche hier ein unsichtbares Auditorium, und beim Geflüster mit den Liebsten könnte der Chef in Hörweite sein.
Was tun? Datenschützer raten, wenigstens den direkten Zugriff auf die persönlichen Daten in den sozialen Netzwerken einzuschränken: Nur die engsten Freunde dürfen alles sehen, für die anderen gibt es mehrfach abgestufte Rechte bis hinab zu den Fremden, denen fast gar nichts bleibt. Doch wäre die Prozedur für jedes Netzwerk extra durchzuführen.
Der New Yorker Netzforscher Clay Shirky hat eine Geschichte erlebt, mit der er gern den Wahnsinn des Datenmanagements illustriert. Einer Freundin ging ihre Verlobung entzwei. Und heutzutage gehört es sich in solchen Fällen, dass man seinen Status im Facebook-Profil umstellt von »Verlobt« auf »Single«.
Normalerweise wird die Neuigkeit dann sofort und vollautomatisch dem gesamten Bekanntenkreis verkündet - ebendas wollte die Freundin tunlichst unterbinden. Menschen aus dem engeren Umfeld etwa sollten von der Entlobung keinesfalls zuerst auf diesem Weg erfahren; dann gab es andere, die das private Unglück gar nichts anging. Also passte Shirkys Freundin sorgfältig ihr Datenschutzprofil an, sie klickte und klickte eine ganze Weile, bis alles richtig eingestellt war. Dann schaltete sie auf Single um.
Im selben Moment ging die Kunde hinaus an sämtliche Kontakte. Irgendein Eintrag in einem verborgenen Menü hatte offenbar doch noch gefehlt. Und das unterlief einer Frau, die immerhin ihre Abschlussarbeit an der Uni über Facebook geschrieben hatte.
»Ein soziales Desaster«, sagt Shirky, »und sie war auch noch selbst daran schuld.« JÖRG BLECH, JULIA BONSTEIN,
MANFRED DWORSCHAK, MARCO EVERS, ANSBERT KNEIP, MARTIN U. MÜLLER, STEFAN SCHMITT, HILMAR SCHMUNDT
* Auf der Jugendmesse YOU 2007 in Berlin. * Taj Mahal Hotel, 29. November 2008. * Als am 1. März 2008 der Orkan »Emma« tobte, berührte während des Landeversuchs die Lufthansa-Maschine mit der linken Flügelspitze den Boden.