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OSTBLOCK Nackter Kaiser

Ein Prager Spitzenfunktionär und Freund Moskauer Reformgegner klagt den Ex-Reformer Dubcek an - und meint Gorbatschow. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Wie Führungsgenossen im Sozialismus übereinander denken, bleibt dem gewöhnlichen Zeitgenossen offiziell verborgen - etwa die Beschwerden des hitzigen Sowjetfunktionärs Boris Jelzin ("Nein, Genosse Ligatschow, Sie müssen mich nicht anschreien . . .") auf einer geheimen ZK-Sitzung im vorigen Oktober.

Doch wenn es ernst wird, hilft ein vielfach erprobter Ritus. Wollen führende Funktionäre Gegenspieler beinahe - aber noch nicht ganz - amtlich warnen, bedienen sie sich eines Surrogats: Chruschtschow wetterte wider Albaniens Enver Hodscha, als er 1960, am Anfang des Konflikts der roten Riesen, Chinas Mao meinte, und Mao verdammte postwendend Tito an Stelle des Kremlherrn.

Das »Neue Deutschland« der DDR distanzierte sich vor vier Jahren vom sklavischen Befolgen des Sowjetmusters, gegen das es direkt nicht auftreten mochte, durch Nachdruck ungarischer Kritik. Im März 1988 nun will das SED-Organ dem Moskauer Reformkurs widersprechen: Es druckte Einschlägiges aus dem Prager Bruderblatt »Rude pravo« nach - gar nicht so fein genadelt.

Dort hatte das Mitglied des tschechoslowakischen Parteipräsidiums (Politbüro) Alois Indra, ein alter Freund der Sowjetkonservativen, alle Argumente gegen den großen Neuerer Michail Gorbatschow gesammelt und einfach gegen Alexander Dubcek gerichtet, den CSSR-Reformer von 1968.

Damals war Indra ZK-Sekretär. Er gehörte zu jenen Moskautreuen, welche die Sowjetpanzer ins Land riefen. Danach wurde er Aufseher über die gesamte Planwirtschaft und stieg ins Politbüro auf. Für seine Reformkritik muß er sich in Moskau rückversichert haben - so sagt man sich unter Genossen die Meinung, wenn sie unters Volk kommen soll.

Indra, 67, Chef der CSSR-Bundesversammlung, benutzte als Watschenmann »Dissidenten«, die da behaupteten, »daß ihre Tätigkeit am Ende der sechziger Jahre mit der sowjetischen 'Perestroika' identisch ist, daß also sie die eigentlichen 'Inspiratoren' der gegenwärtigen Politik der KPdSU seien«.

Das konnte natürlich nicht wahr sein, darauf ließ sich einschlagen - und damit kaum verhüllt auf die Perestroika. Und die DDR-Zeitung druckte es elfspaltig nach. Zwischentitel: »Die Reform sollte ein Instrument der Zersetzung werden«.

Indra, der am Ende seiner politischen Karriere, 20 Jahre nach dem Sieg über den Prager Frühling, nun sogar gegen menschlichen Sozialismus aus Moskau fechten muß, beruft sich ferner auf »bürgerliche Journalisten«, welche die Dubcek-Reform »als Vorbild« des Wandels in der UdSSR ausgeben.

Die Prager Reformer, sagt er und meint die Moskauer, »wollten die KPC von der Volkswirtschaft trennen, ihr die Rolle eines Zentrums der Erkenntnis absprechen, ihr das Recht der führenden politischen Kraft nehmen« - gerade eben hat Gorbatschow für eine »Abgrenzung« der Partei- von den Regierungsfunktionen plädiert - »und die sozialistische Volkswirtschaft der spontanen Wirkung des Marktes preisgeben«.

Zur Marktwirtschaft, die von sowjetischen Nationalökonomen gefordert wird, hat sich Gorbatschow noch nicht offen bekannt, so kann Indra einen »himmelschreienden Unterschied« zwischen Prag 1968 und Moskau 1988 protokollieren. Die »Folgen des rechtsorientierten 'Wirtschaftsmodells'«, die er beklagt, beziehen sich freilich genau auf die Auswirkungen der am 1. Januar in der UdSSR angelaufenen Betriebsselbstverwaltung:

»Die Rolle des Zentrums wurde schwächer, der Betriebspartikularismus setzte sich in vielen Fällen zum Nachteil der gesamtgesellschaftlichen Interessen durch, die Preise begannen unkontrolliert zu steigen, und es wurde eine Welle der Inflation ausgelöst.«

Solche Wirtschaftsreformen, für die Sowjet-Union schon programmiert, soll es in Prag nicht geben und auch nicht in Leipzig.

Indra zitiert die schmerzenden Parolen: »Zum erstenmal geheime Wahlen« und »Publizität« (russisch: Glasnost), aber nur für Anhänger der herrschenden »Mode«, dazu »massenweiser 'Abschuß' von Partei- und Staatsfunktionären«, eine »inquisitorische 'Hexenjagd'« - das bedrohte die Reformgegner von damals und bedroht sie heute.

Die Verwandtschaft des Dubcek- mit dem Gorbatschow-Sozialismus ist so eng, daß beider Widersacher Indra es leicht hat mit seinem Parabel-Spiel: »Die Armee war in hohem Maße paralysiert durch Versuche, sie im Zusammenhang mit der Veränderung in der Funktion des Ersten Sekretärs des ZK (KPdSU: Generalsekretär) zu mißbrauchen . . .«

Die Sowjetarmee war es, die in Prag aufräumte - wer räumt in Moskau auf, wenn dort einreißt, was Indra beklagt: Im Polit-Apparat der Truppe »bekamen die rechten Kräfte Oberwasser«? Und »die Staatssicherheit war durch die Welle der Kritik an gesetzwidrigen Handlungen in den fünfziger Jahren gelähmt«.

Indra, aus dem der Zorn aller Block-Konservativen spricht, weiß um die Details der Moskauer Machtszene, wo sich der Generalsekretär in Politbüro und ZK nicht immer voll hat durchsetzen können. Also erinnert der Reformfeind anzüglich:

»Einige Mitglieder des Präsidiums (Politbüro) hielten die kollektiv gefaßten Beschlüsse nicht ein. Sie taten, was sie für richtig befanden, was ihrer Popularität diente, was ihnen persönlich nützlich war . . .« Von Schaden sei solche »Nichteinhaltung des beschlossenen Vorgehens«,

und Indra fügt hinzu, »wie aktuell« solche Einsicht sei: »Wir sind heute viel anspruchsvoller als gestern.«

Jetzt geht es nicht mehr um ein Randgebiet des sozialistischen Lagers, sondern um das Zentrum. Dort bereiten die Reformer für den Juni eine »Parteikonferenz« vor, kleiner als ein Parteitag und größer als eine ZK-Vollversammlung.

Indra kennt das: »Zur ZK-Tagung wurden aus jedem Bezirk Gruppen von Parteitagsdelegierten eingeladen - im Saal gab es mehr Journalisten als Mitglieder und Kandidaten des ZK . . . Das war schon keine Beratung eines Parteiorgans mehr, sondern irgendeine 'Grand-Show' mit allem Drum und Dran«.

Da kann sich sogar ein konservativer Finsterling einmal auf Demokratie berufen: Sie schließe aus, »daß sich jemand einbildet, er habe 'alle Weisheit gepachtet', daß er eine Monopolstellung beansprucht . . .«

Diesen Jemand mag Indra nicht, seine Philippika gegen Dubcek enthält schon alle Anklagepunkte gegen Gorbatschow. Die Abrechnung mit dem 68er Frühling gilt Indra als »Spiegelbild der Wahrheit, in deren scharfem Licht manch König und Kaiser nacht erscheint, auch wenn er in dem Glauben gelebt hat, daß ihn prächtige Kleider verhüllen«.

Alexander Dubcek, Parteichef der reformierten KPC, wurde nach seiner Festnahme durch sowjetische Truppen und Vorführung in Moskau als Forstarbeiter in die slowakischen Wälder abgeschoben.

Zum Revolutionsfeiertag im vorigen November schickte er ein Glückwunschtelegramm an Gorbatschow, aus dem Ruhestand.

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