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VERKEHR / GESCHWINDIGKEITSBESCHRÄNKUNG Nächstes Jahr langsamer

aus DER SPIEGEL 42/1956

Unruhig rutschte am vergangenen Donnerstag der CDU-Bundestagsabgeordnete Oskar Rümmele, 66, aus Hinterzarten im Schwarzwald, auf dem provisorischen Parlamentsgestühl der Westberliner Technischen Universität hin und her, blickte mehrmals kopfschüttelnd auf seine Armbanduhr und murmelte verdrießlich: »Diesmal wird es doch nichts mehr.«

Die SPD-Opposition hatte während der kurzen Gastrolle des Bundesparlaments in Berlin das Sitzungsprogramm mit massiven innenpolitischen Querschüssen derart durcheinandergebracht, daß keine Zeit mehr übrigblieb, die wichtigsten Tagesordnungspunkte zu behandeln. Das ärgerte ganz besonders den Abgeordneten Rümmele aus Hinterzarten, den Vorsitzenden des Verkehrsausschusses. Es war ihm nicht mehr gelungen, seinem Lieblingsgesetz - wie seit langem vorgesehen - in Berlin zur ersten Lesung zu verhelfen, einem Gesetz, das die Fahrgeschwindigkeit aller Kraftfahrzeuge in der Bundesrepublik generell beschränken soll.

»Aber bis Ende Oktober wird dieses wichtige Gesetz die Parlamentsbühne dennoch passieren«, drängt Rümmele, der die Mitglieder seines Ausschusses vor der Abreise noch einmal in Berlin zusammentrommelte. Er rechnet damit, daß das Gesetz nach der ersten Lesung zur weiteren Beratung wieder an den Verkehrsausschuß verwiesen wird. Die vorliegende erste Fassung befriedigt ihn selbst noch nicht recht. Sagt Rümmele: »Was wir brauchen, ist eine härtere Fassung.« Wie hart er das Gesetz bis zur dritten und letzten Lesung noch machen möchte, besprach er schon vor einigen Wochen mit Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm.

Nach dem vom Bundesrat bereits genehmigten Gesetzentwurf sollte Seebohm ermächtigt werden, die Höchstgeschwindigkeit für sämtliche Kraftfahrzeuge durch Rechtsverordnungen festzusetzen. Der Minister - ständig auf der Flucht vor demonstrierenden Fuhrunternehmern - möchte sich jedoch vor der Bundestags-Neuwahl nicht auch noch die letzten Sympathien der Motorrad- und Personenkraftwagenfahrer verscherzen. Deshalb will er sich zunächst, wenn das Ermächtigungsgesetz angenommen werden sollte, mit einer Beschränkung der Fahrgeschwindigkeit auf 50 Stundenkilometer im Ortsverkehr begnügen. Außerdem will Seebohm den Omnibussen eine Geschwindigkeitsgrenze von 70 Stundenkilometern auf allen Straßen außerhalb geschlossener Ortschaften setzen.

Gegen diesen Plan, der ihn viel zu milde dünkt, protestierte der Vorsitzende des parlamentarischen Verkehrsausschusses vernehmlich: »Unter diesen Umständen werden ich und meine Freunde eben nicht dem Herrn Verkehrsminister die Ermächtigung erteilen, sondern selbst die Höchstgeschwindigkeiten genau reglementieren.«

Mit der Zähigkeit eines Schwarzwälder Holzhackers dirigiert der ehemalige Bürgermeister des südbadischen Kurortes Hinterzarten, Oskar Rümmele, alle Beratungen seines parlamentarischen Ausschusses in diese Richtung. Er hat schon vor längerer Zeit einen Geschwindigkeitskatalog aufgestellt, den er den westdeutschen Kraftfahrern auf den Weihnachtstisch legen will. Ab Neujahr 1957 - das ist Rümmeles sehnlichster Wunsch - soll auf allen Straßen, langsamer gefahren werden. Ihm schwebt etwa als Norm-Schema vor:

In geschlossenen Ortschaften für alle Kraftfahrzeuge 50 Stundenkilometer-Höchstgeschwindigkeit,

- außerhalb geschlossener Ortschaften für

Personenkraftwagen, Krafträder und Lastkraftwagen mit einem Gesamtgewicht bis zu 2,5 Tonnen 80 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit, auf Autobahnen 90 Stundenkilometer,

- für Lastkraftwagen mit einem Gesamtgewicht von mehr als 2,5 Tonnen auf allen Straßen einschließlich Autobahnen 60 Stundenkilometer, für Kraftomnibusse 70 Stundenkilometer.

Rümmele schmiedet an einem Gesetz, das es in ähnlicher Form nur in zwei europäischen Ländern gibt, denen moderne Verkehrsprobleme noch fremd sind: in Jugoslawien und in Norwegen. Nur dort ist außerhalb geschlossener Ortschaften die Geschwindigkeit für Personenkraftfahrzeuge begrenzt. In England, Österreich und der Schweiz begnügt man sich mit Geschwindigkeitsbeschränkungen in geschlossenen Ortschaften. Alle übrigen westeuropäischen Länder kennen keine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung.

Über die Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn will Rümmele vielleicht noch mit sich handeln lassen - »aber höchstens 100 Stundenkilometer«. Er rechnet allerdings damit, daß dieser Vorschlag auf den Widerstand seiner Kollegen stoßen wird, »denn die meisten Abgeordneten«, sagt Rümmele, »sind auch dem Teufel der Raserei verfallen. Der Anton Sabel (CDU -Bundestagsabgeordneter aus dem Wahlkreis Fulda) hat sogar einen Menschen totgefahren ...«

»Die Raserei«, so behauptet Rümmele, »ist daran schuld, daß die Zahl der Verkehrstoten in den letzten Jahren so stark anstieg.« Tatsächlich ereignen sich in der Bundesrepublik verhältnismäßig mehr schwere Verkehrsunfälle als in den übrigen Staaten. In den USA kamen im vergangenen Jahr auf 10 000 Kraftfahrzeuge 216 Verkehrstote und -verletzte, in England 442, in der Schweiz 558, in Holland 650. Den traurigen Rekord hält Westdeutschland mit 796 Verkehrstoten und -verletzten auf je 10 000 Kraftfahrzeuge.

In den internen Debatten um Rümmeles Gesetz wiesen allerdings die aktivsten Verkehrsausschußmitglieder Ernst Müller-Hermann (CDU) und Helmut Schmidt (SPD) darauf hin, daß von einer Geschwindigkeitsbegrenzung keine Wunder zu erhoffen seien. Sagt Müller-Hermann: »Wenn heute da und dort der Versuch gemacht wird, die Verkehrssicherheit durch Einzelaktionen, wie Begrenzung der Geschwindigkeiten oder Reduzierung des Lastwagenverkehrs, zu erhöhen, so bedeutet das lediglich ein Herumkurieren an Symptomen. Eine tiefgreifende Wirkung ist durch solche Vorhaben kaum zu erwarten.«

Noch deutlicher umreißt Müller Hermanns SPD-Kollege Helmut Schmidt die Ursachen der hohen Unfallziffern: »Rümmele sollte sich in erster Linie darum kümmern, daß endlich die Straßen verkehrsgerecht ausgebaut werden.«

Die SPD legte ein Gesetz vor, mit dessen Hilfe ein Straßenbaufonds - aus dem Aufkommen der Mineralölsteuer, der Mineralölzolle und der Kraftfahrzeugsteuer - gebildet werden soll. Allein für den Ausbau der Durchfahrtstraßen in den Großstädten werden 25 bis 30 Milliarden Mark benötigt. Der Ausbau der Durchfahrtstraßen ist besonders wichtig, denn dort ereigneten sich im vergangenen Jahr wegen der Verdichtung des Verkehrs trotz örtlicher Geschwindigkeitsbegrenzungen 84 Prozent aller Verkehrsunfälle. Vordringlich ist der verkehrsgerechte Ausbau des gesamten bundesdeutschen Straßennetzes:

- Verbreiterung der Bundesstraßen auf

drei Fahrbahnen,

- bessere Gestaltung der Fahrbahnoberfläche und ausreichender Winterdienst,

- Beseitigung unübersichtlicher Stellen, Anlage von getrennten Radfahrwegen.

Der Bundestagsabgeordnete Rümmele, der seine imponierende Leibesfülle gemeinhin einem Mercedes 180 anvertraut, hat allerdings die längste Zeit seines Lebens weniger mit Autostraßen als vielmehr mit Eisenbahnschienen und mit dem Schwarzwälder Fremdenverkehr zu tun gehabt. Nach dem ersten Weltkrieg wurde der christliche Gewerkschaftler Vorsitzender des badischen Eisenbahnerverbandes. Der Führer der christlichen Gewerkschaften, Adam Stegerwald, berief Rümmele nach Berlin, wo er 1928 den Vorsitz der Gewerkschaft Deutscher Eisenbahner und des Gesamtverbandes der Deutschen Verkehrs- und Staatsbediensteten übernahm.

Nach der Auflösung der Gewerkschaften im »Dritten Reich« betätigte sich der abgesetzte Gewerkschaftsführer im südbadischen Schwarzwaldkurort Hinterzarten als Großhandelsvertreter, während sich seine Frau dem Fremdenverkehr widmete. Nach 1945 kam Rümmele zu neuen Ehren. Er trat der CDU bei, wurde Bürgermeister in Hinterzarten, Bundestagsabgeordneter, Bezirksvorsitzender der wiedergegründeten Eisenbahnergewerkschaft in Karlsruhe, Mitglied des Verwaltungsrates der Bundesbahn und schließlich Vorsitzender des Verkehrsausschusses im zweiten Bundestag.

Autofabriken, die schnelle Wagen herstellen, verbündeten sich mit den Automobil-Klubs, um die Attacke des alten Eisenbahn-Gewerkschaftlers gegen die schnellen Fahrer noch in letzter Minute abzuschlagen.

»Wir halten es für unbedingt erforderlich«, schrieb der Oberbaurat Fritz Schmidt von der Daimler-Benz AG an das Präsidium des ADAC, »daß nicht nur die Mitglieder des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundestages, sondern alle Abgeordneten des Buhdestages je für sich in unserem Sinne beeinflußt werden. Wir halten es für notwendig, daß sich der ADAC in die weitere Behandlung des Fragenkomplexes einschaltet und die Beeinflussung des verantwortlichen Personenkreises absolut planmäßig durchführt. »Einzelne Herren aus Ihrem Mitgliederkreis sollten gebeten werden, ihnen bekannte oder aus ihrem Gebiet stammende Bundestagsabgeordnete ... in mündlicher Aussprache aufzuklären. Die Herren sollten über den Erfolg ihrer Bemühungen an Sie berichten, damit bei gegebenenfalls auftretenden Mißerfolgen von dritter Seite nachgegriffen werden kann. Angesichts der Gefahr, die für eine freie Entfaltung des Kraftfahrwesens droht, halten wir jede Anstrengung für notwendig, um Unheil abzuwenden.

Schmidt fürchtet: »Die Einführung der Geschwindigkeitsbegrenzung würde das ganze Produktionsprogramm der Daimler-Benz-Werke erheblich verändern. Uns schreiben heute schon Kunden, daß sie an unseren Wagen im Hinblick auf die zu erwartende Geschwindigkeitsbegrenzung nicht mehr interessiert sind.«

Noch mehr als Daimiler-Benz bangt Porsche um seine Absatzchancen. Der Porsche - Prokurist Huschke von Hanstein, nebenbei Rennfahrer, schickte eine Eingabe an Rümmele, in der es hieß:

»Durch eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung würde verkehrstechnisch eine noch größere Überlastung der Verkehrswege eintreten und auf der anderen Seite die technische Weiterentwicklung gehemmt werden, was wiederum seinen Niederschlag im Rückgang der Verkaufszahlen, insbesondere im Export, finden würde.«

Die Lobbyisten der Automobilindustrie ließen in ihren Gesprächen mit einflußreichen Parlamentariern diskret durchblicken, daß die Industrie bereit sei, etwa 10 bis 15 Millionen Mark für den Ausbau des Hilfs- und Streifendienstes der Bundesverkehrswacht zu spenden, wenn die Abgeordneten generell mehr Rücksicht auf die Interessen der Industrie nähmen.

Auch der Vizepräsident des Allgemeinen Deutschen Automobil-Clubs, Hans Bretz, versuchte den Rümmele umzustimmen. »Die Verpflichtung des Kraftfahrers, sich starr an eine bestimmte Höchstgeschwindigkeit zu halten, bedeutet eine enorme Belastung für den Verkehrsfluß«, so argumentiert Bretz. »Kein Kraftfahrer wird einsehen, warum er zum Beispiel eine völlig übersichtliche Ausfahrtstraße - während einer Verkehrsflaute - nicht im zügigen Tempo passieren darf.

»Warum soll er dann wider alle Vernunft etwa hinter einem Lastwagen herschleichen, weil das geplante Geschwindigkeitsgesetz nur 50 Kilometer für die Ortsdurchfahrt vorschreibt? Wir werden dann im Ortsverkehr«, prophezeit der ADAC-Vizepräsident, »noch größere Pannen als bisher erleben.« Auch Bretz bat Rümmele, seinen Einfluß als Ausschußvorsitzender auf eine viel dringlichere Aufgabe zu

konzentrieren - auf den verkehrsgerechten Ausbau aller Straßen, »dann werden Sie sehen, wie schnell die Unfallkurve sinkt«.

»Soll man das Schwimmen verbieten«, fragte Bretz andere Parlamentarier, »weil dabei jährlich Hunderte von Menschen ums Leben kommen? Das würde dem Staat wohl kaum einfallen. Er reglementiert oder verbietet auch nicht den Genuß von Alkohol, obwohl jährlich eine große Anzahl von Menschen an Alkoholvergiftung sterben, aber das Autofahren will er reglementieren, weil dabei Menschen verunglücken.

»Gewiß stieg im Laufe der fortschreitenden Motorisierung, der zunehmenden Verkehrsdichte und -intensität auch die Zahl der Opfer. Aber im Verhältnis zu dem Grad der Motorisierung - auf je 1000 Kraftfahrzeuge berechnet - ist sie nicht höher als 1938 und auch nicht höher als vor Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung (siehe Graphik Seite 28). Berücksichtigt man die weitaus größere Kraftfahrzeugdichte gegenüber 1938, die stark angestiegene Fahrleistung und die sich daraus ergebende mathematisch zu errechnende Erhöhung der Unfallerwartung, dann muß der objektive Beobachter eine deutliche Verbesserung der Verhältnisse zugeben.«

Bretz möchte die Verkehrsunfallzahlen auch in anderer Hinsicht in das richtige Verhältnis rücken: »Der Fortschritt der Technik hat zweifellos dazu beigetragen, das menschliche Leben zu erleichtern und zu verlängern, aber der Fortschritt der Zivilisation kostet auch Opfer. Das ist die schmerzliche Kehrseite, aber man sollte sie nicht dramatisieren. Es passieren auch anderswo tödliche Unfälle, zum Beispiel in den Arbeitsstätten (im vergangenen Jahr über 7000), und die ständig ansteigende Zahl der Bundesbürger, die jährlich den Herztod erleiden, ist weit alarmierender; sie war im vergangenen Jahr zehnmal so hoch wie die Zahl der Verkehrstoten. Niemand spricht davon, daß sich trotz des sogenannten Wirtschaftswunders 1955 in der Bundesrepublik 9576 Menschen selbst das Leben nahmen, und daß in diesem Jahr 7500 Frauen bei der Haushaltsarbeit durch Gas und Elektrizität tödlich verunglückten, aber von den 12 000 Verkehrstoten spricht man wie von einem Massenmord.«

Der intellektuelle Urheber der Anti-Geschwindigkeitkampagne ist - nach Bretz nicht der zu alemannischer Beschaulichkeit neigende Eisenbahn-Gewerkschaftler Rümmele, sondern seltsamerweise ein Mann der Technik, der sich in der Luftfahrtforschung gut auskennt und bisweilen über Weltraumraketen und über die Überwindung der Schallmauer durch Düsenverkehrsflugzeuge referiert - der Staatssekretär für Verkehrsfragen im nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministerium, Diplomingenieur Leo Brandt. Der Düsseldorfer Staatssekretär, der gleichzeitig Vorsitzender des Bundesratsausschusses für Verkehr und Post ist und sich außerdem noch als Professor an der Technischen Hochschule Aachen betätigt, forderte in den Konferenzen der Länderverkehrsminister immer wieder die Begrenzung der Höchstgeschwindigkeit für Kraftfahrzeuge.

Dabei fanden sich der Christdemokrat Rümmele und der Sozialdemokrat Brandt als zwei Leidensgefährten: Beide haben vor einiger Zeit Verkehrsunfälle erlitten. Brandt verunglückte vor fünf Jahren auf dem Kölner Militärring - sein Fahrer fuhr ihn gegen einen Baum. Der Düsseldorfer Staatssekretär trug eine so schwere Kopfverletzung davon, daß er ein halbes Jahr dienstunfähig war. Glimpflicher verlief ein Unfall, der dem Oskar Rümmele auf der Autobahn zustieß. Sein von einem Fahrer gesteuerter Mercedes 180 kollidierte mit einem Lastkraftwagen. Seitdem zupft Rümmele seinen Fahrer am Ärmel, wenn der Geschwindigkeitsmesser mehr als 90 Stundenkilometer anzeigt. Rümmele selbst setzt sich nicht mehr ans Steuer, »weil meine Sehkraft nachgelassen hat«.

Das Unfallerlebnis wirkt bei Brandt und Rümmele offenbar als Trauma nach. Hinzu kommt zumindest bei Rümmele und anderen Langsamfahr-Fanatikern noch ein anderer Komplex, den der Kölner Verkehrspsychologe Dr. Wilhelm Lejeune in seiner Schrift »Der Mensch im modernen Verkehr« so erklärt: »Die ungeheure Dynamik der Verkehrsentwicklung - ermöglicht durch die Leistungen von Naturwissenschaft und Technik - fällt zeitlich zusammen mit der Existenz von etwa zwei Generationen. Jahrtausende der uns bekannten Geschichte waren im Tempo des Verkehrs praktisch gleich. Die Intensivierung und Beschleunigung des Verkehrs im eigentlichen Sinne und im erweiterten Sinne des Nachrichtenverkehrs führten eine Umwälzung ohnegleichen in der Welt herbei ...«

Und weiter: »Bei der Mehrzahl der Menschen in unserem Raum dürfte sich erfahrungsgemäß die Merkwelt zwischen dem 22. und 28. Lebensjahr verfestigt haben, das heißt in der Richtung der Grundinhalte bestimmt sein. Für den Verkehr von heute bedeutet das, daß zum Beispiel die Mehrzahl der heute etwa sechzigjährigen Menschen in ihrer Einstellung zum Verkehr vor etwa 35 Jahren festgelegt ist. Zu jener Zeit aber gab es keine Verkehrsproblematik für sie. So nehmen sie heute von ihr nur Kenntnis, sofern der Verkehr gelegentlich oder oft sie negativ berührt. Negative Bedeutung kann zwar auch wirksam sein, erregt Furcht oder Ablehnung, macht jedoch eher unsicher als sicher. Menschen dieses Lebensalters, und in solchen Bedeutungsbeziehungen zum Verkehr stehend, sind heute auch Träger von Funktionen, die wenigstens mittelbar mit ausschlaggebend sind für die Förderung und Lösung der Verkehrsfragen und Notwendigkeiten.«

Das Problem der Geschwindigkeitsbegrenzung wurde aktuell, nachdem der westdeutsche Bundestag im Dezember 1952 die damals noch gültigen Geschwindigkeitsbeschränkungen aufgehoben hatte. Damals stimmte auch Rümmele im Bundestag für die Beseitigung eines »Nazi-Gesetzes«, das 1939 aus kriegswirtschaftlichen Gründen man wollte Buna-Reifen und Benzin sparen - die 1934 freigegebene Höchstgeschwindigkeit* wieder beschränkt hatte:

- in geschlossenen Ortschaften generell

auf 40 Stundenkilometer,

- auf allen übrigen Straßen einschließlich der Autobahnen für Personenkraftwagen und Motorräder auf 80 Stundenkilometer, für Lastkraftwagen auf 60 Stundenkilometer.

Dieses »Nazi-Gesetz« war nach Kriegsende von der amerikanischen und von der französischen Besatzungsmacht aufgehoben worden (in der Sowjetzone gilt es heute noch). Die Amerikaner setzten für ihre Besatzungszone andere Höchstgeschwindigkeiten fest, die Franzosen strichen ab 1947 überhaupt den Geschwindigkeitsparagraphen, nur in der britischen Zone galt noch die Kriegsregelung.

1952 beschloß der westdeutsche Bundestag, für die gesamte Bundesrepublik alle Geschwindigkeitsverordnungen aufzuheben (ausgenommen wurden Lastkraftfahrzeuge mit einem Gesamtgewicht über 2,5 Tonnen).

Gleichzeitig wurde die Ermächtigungsklausel im § 6 des Straßenverkehrsgesetzes gestrichen, die es dem Verkehrsminister bis dahin gestattet hatte, »die höchstzulässige Fahrgeschwindigkeit von Personenkraftfahrzeugen« festzusetzen.

In der Begründung der Gesetzesänderung hieß es ausdrücklich: »Eine Festsetzung zahlenmäßiger Höchstgeschwindigkeitsgrenzen ist nur dann sinnvoll, wenn hierdurch Unfälle vermieden werden können. Die Fahrgeschwindigkeit allein ist für die Vermeidung von Unfällen nicht ausschlaggebend. Unter Umständen kann durch ein schnelleres Fahren auch ein Unfall vermieden werden ... Die Erhaltung eines flüssigen Verkehrs ist für die Sicherheit genauso ausschlaggebend wie die Geschwindigkeit als solche ... Der Führer eines Kraftfahrzeuges muß seine Geschwindigkeit immer den jeweiligen Verkehrsverhältnissen anpassen. Das ergibt sich aus den Grundregeln der Paragraphen 1 und 9* der Straßenverkehrsordnung.«

Heute sagt der CDU-Abgeordnete Rümmele: »Ich habe mich damals geirrt und wurde inzwischen eines Besseren belehrt.« Diese Aufklärung verdankt er vorwiegend dem sozialdemokratischen Vorsitzenden des Verkehrsausschusses des Bundesrats, Professor Leo Brandt.

Brandt legte Gutachten und Berichte seiner Verkehrsbeobachtungsabteilung vor, die beweisen sollten, daß die Geschwindigkeit die Wurzel des Unfallproblems sei. Die durchschnittliche Spitzengeschwindigkeit der Personenkraftwagen, so argumentierte Brandt, ist in den letzten 25 Jahren um rund 25 Prozent gestiegen, ohne daß sich gleichzeitig das Straßennetz in seinen Sicherheitsverhältnissen, im Ausbau seiner Kurven und in der Griffigkeit der Fahrbahnoberflächen auch nur im entferntesten den neuen Bedingungen anpassen konnte. »Solange das Straßennetz nicht ausreichend ausgebaut ist, muß eben langsamer gefahren werden.«

Brandt erhob solange heftige Anklagen gegen die Bundesregierung und besonders gegen den Bundesverkehrsminister, bis Seebohm und sein kürzlich verstorbener Straßendirigent Straulino nachgaben und in die Front der Geschwindigkeitsgegner einschwenkten. Den alten Eisenbahn-Gewerkschaftler Rümmele hatte Brandt längst für sich eingenommen.

Während der dritten Verkehrssicherheitskonferenz im März dieses Jahres, an der Vertreter der Justiz, der Polizei und der Landesverkehrsministerien teilnahmen, kam das umstrittene Thema nochmals zur Sprache. Darauf ließ Seebohm seinen Referenten für Straßenverkehrsrecht, Ministerialrat Dr. Booß, einen Gesetzentwurf ausarbeiten. Dem Ministerialrat war der Auftrag ausgesprochen unsympathisch, »nicht nur weil ich selbst gern schnell fahre« - so erklärt Booß sein Unbehagen -, »sondern weil ich davon überzeugt bin, daß der § 9 der Straßenverkehrsordnung ausreicht«.

Dennoch tat Booß, was seines Amtes war. Er entwarf das Gesetz, über das der Bundestag demnächst abstimmen soll. »Straulino drängte mich andauernd«, kommentiert Booß seine Gesetzesarbeit. »Im Ministerium häuften sich damals die Briefe von Müttern, die den Tod ihrer überfahrenen Kinder beklagten, und von Angehörigen alter Leute, besonders aus Berlin und Nordrhein-Westfalen, die ebenfalls Opfer des Straßenverkehrs geworden waren. Die meisten schrieben: 'In der Bundesrepublik regiert der Mord auf den Straßen.' Es waren furchtbare Anklagebriefe darunter, die sich gegen Seebohm persönlich richteten, und immer wieder hieß es: 'Nur die Geschwindigkeit ist schuld ...'« So wurde das Geschwindigkeitsproblem zu einem Politikum.

Auftragsgemäß versuchte Seebohms Straßenrechtsreferent Booß, auf fünf Seiten Gesetzesbegründung die These zu untermauern, daß die hohe Unfallziffer in Westdeutschland ausschließlich eine Folge der Geschwindigkeitsfreigabe sei. Aber Booß bewies dabei keine glückliche Hand und sagt heute selbst: »Ich weiß, daß die Begründung nicht hieb- und stichfest ist.« Bis zur Stunde kann niemand beweisen, was in der Gesetzesbegründung und von den politischen Geschwindigkeitsgegnern immer wieder behauptet wird: daß die Zahl der Verkehrstoten erst nach Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung also ab Januar 1953 - unverhältnismäßig angestiegen sei und daß überhöhte Geschwindigkeit seit 1953 viel öfter als früher die Ursache schwerer Unfälle war.

Die bundesamtliche Unfallstatistik sagt nichts darüber aus, in welchem Tempo sich die Unglücksfahrzeuge bewegten, deren Geschwindigkeit zur Zeit des Unfalls als »überhöht« registriert wird. Auf frisch regenfeuchtem Basaltpflaster, bei Bodenfrost oder auf einer Baustelle können schon 30 Stundenkilometer eine »überhöhte Geschwindigkeit« im Sinne der Strafjustiz und der Statistik sein. Alle derartigen Fälle werden, obwohl sie über den Sinn einer allgemeinen Geschwindigkeitsbegrenzung rein gar nichts besagen, als »Geschwindigkeitsunfälle« bejammert und ausgewertet, denn als Geschwindigkeitsunfall werden alle Unfälle registriert, bei denen - wie es in dem statistischen Meldeblatt heißt - »die Geschwindigkeit unter Berücksichtigung der Umstände, zum Beispiel Straßenbeschaffenheit, Verkehrsdichte, Witterungsverhältnisse«, von der Polizei als »übermäßig« angesehen wird.

In diesem Zusammenhang ist eine Untersuchung des Instituts für Verkehrspsychologie in Karlsruhe interessant: Der Institutsleiter von Faber untersuchte die schweren Unfälle, die sich während des vergangenen Jahres in Karlsruhe und Umgebung ereigneten. Die meisten Unfallurheber waren im Stadtgebiet nur im 30 bis 40-Stundenkilometer-Tempo gefahren. Auf den badischen Landstraßen fuhren die Unglücksfahrer in 81 Prozent der Fälle langsamer als 60 Stundenkilometer; nur zwei Prozent der Unglücksfahrer waren schneller als 80 Stundenkilometer gefahren.

Auch prominente Gerichtsgutachter, wie der Diplomingenieur Georg Busche, 57, in Witten an der Ruhr, der in den 26 Jahren seiner Gutachterpraxis bei rund 10 000 schweren Verkehrsunfällen als Sachverständiger herangezogen wurde (allein in den letzten vier Jahren 4000mal), wenden sich gegen die Legende vom »Geschwindigkeitsmord«, die den Politikern so gelegen kam: »Die tiefere Ursache der Verkehrsunfälle liegt auf keinen Fall in der Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung. Man kann zwar sagen, daß eine niedrige Geschwindigkeit theoretisch bessere Möglichkeiten bietet, Gefahren abzuwenden, als eine hohe.« In der Praxis habe sich jedoch gezeigt, daß schnelle Fahrer weniger in Unfälle verwickelt wurden als langsame.

»Man kann doch nicht wegen einiger unbedarfter Fahrer die Masse aller Kraftfahrer in langsame Kolonnen zwängen«, beschwört Busche die notorischen Geschwindigkeitsgegner. Vielmehr solle man endlich auch in Deutschland mehr Obacht auf jene einfältigen Fahrer geben, die sich falsch einordnen und Unfälle verursachen, weil sie nicht rechtzeitig auf die richtige Fahrbahn überwechseln. Mancher Sonntagsfahrer fährt bis nahe an eine Abzweigung stur rechts und rudert dann durch den ganzen Verkehrsstrom der geradeaus weiterrollenden Fahrzeuge plötzlich nach links, weil er vergessen oder noch immer nicht begriffen hat, daß er sich rechtzeitig einordnen muß.

Ebenso wie der Gerichtssachverständige Busche lehnten sich zahlreiche andere Experten gegen die unbewiesene These des Gesetzentwerfers Booß auf, die Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung habe die Zahl der Verkehrstoten in astronomische Höhen steigen lassen.

Offiziell weist die Bundesstatistik für 1953, also für die Zeit nach Aufhebung der Geschwindigkeitsbegrenzung, einen unverhältnismäßig hohen Anstieg der Verkehrstotenzahl auf. Das besagt jedoch gar nichts, denn die Unfallziffern von 1952 und 1953 sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar, weil inzwischen die statistische Erfassungsmethode geändert worden ist.

Während bis zum 31. Dezember 1952 nur die Toten erfaßt wurden, die bis zum Ausfüllen der Unfallmeldung durch die Polizei - höchstens bis zum achten Tage nach dem Unfall - starben, mußten ab 1. Januar 1953 alle Personen als Verkehrsunfalltote registriert werden, deren Tod bis zum dreißigsten Tag nach dem Unfall eintrat.

Was also die Todesopfer im Verkehr, anlangt, so ist nicht festzustellen, ob ihre Zahl seit der Geschwindigkeitsfreigabe gestiegen ist. Dagegen steht fest, daß die Zahl der Toten und Verletzten insgesamt im Verhältnis zur Zahl der zugelassenen Kraftfahrzeuge unter den Stand der Zeit vor der Geschwindigkeitsfreigabe gesunken ist, obwohl der dichter werdende Verkehr die Erwartung rechtfertigen würde, daß die Zahl der Opfer relativ schneller steigt als die Zahl der Fahrzeuge (siehe Graphik Seite 30).

Sind also die relativen Werte normal, so besagen doch die absoluten Werte, daß infolge des steigenden Verkehrs 1955 12 296 Menschen zu Tode kamen, gegenüber 4585 Toten im Jahre 1938; für 1956 muß mit 13 000 Verkehrstoten gerechnet werden. »Man kann diese Zunahme der Totenziffern doch nicht als von Gott gegeben hinnehmen«, klagt Rümmele und weist auf die Verkehrsmusterländer England und USA hin. Obwohl in England etwa doppelt soviel Kraftfahrzeuge wie in Westdeutschland zugelassen sind, pendelt in England die Zahl der Verkehrstoten seit Jahren unverändert um 5000. In dem Inselreich ist die Höchstgeschwindigkeit jedoch nur in geschlossenen Ortschaften auf 30 Meilen (48 Stundenkilometer) begrenzt.

Die Gründe für das deutsche Verkehrsdilemma werden durch Vergleiche mit Amerika und England etwas klarer. Wesentliche Ursache sind die deutschen Straßenverhältnisse, hinzu kommen andere Ursachen spezifisch deutscher Art. Die Verkehrsdisziplin ist in Deutschland schlechter als in England, wo man mehr Gemeinschaftssinn aufbringt, weniger Temperament hat, aber auch keine Lastzüge kennt. (In England sind Lastkraftwagen-Anhänger verboten.)

Hinzu kommt die technische Vielfalt der deutschen Kraftfahrzeuge. Die Industrie möchte möglichst jede Käuferschicht befriedigen. Das Ergebnis spiegelt sich in der Millionenzahl von Motorrädern, Mopeds, Motocoupés und anderen Kleinfahrzeugen wider. Jeder Lloyd- und Isetta-Fahrer drückt auf den Gashebel, um die letzte Kraftreserve herauszuholen und Überholungskunststücke anzustellen, die oft mißlingen. Diese bunte Mischung von Kraftfahrzeugen ist einmalig in der ganzen Welt. Ein zügiger Verkehrsfluß, wie etwa auf den amerikanischen Straßen, kann sich auf den deutschen Straßen nicht bilden.

Brandt und Rümmele aber lassen sich nicht davon abbringen, daß den bedauerlichen Zuständen durch eine allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzung zu steuern sei. Um wissenschaftliche Argumente gegen die Geschwindigkeit der Motorisierten zu erhalten, beauftragte Brandt vier Wissenschaftler, »die Zusammenhänge zwischen Geschwindigkeit und Unfallgeschehen« zu erforschen.

Jeder der vier Gutachter wurde mit 10 000 Mark aus Mitteln des nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministeriums dotiert. Kurz vor Beginn der Bundestagsdebatte in Westberlin sollten die Wissenschaftler ihr schwieriges Werk abliefern. Die politischen Geschwindigkeitsgegner versprechen sich davon einen Auftrieb ihrer Bemühungen: Die Gutachten sollen - mangels anderer handfester Argumente - vervielfältigt und vor Beginn der ersten Lesung des Gesetzes allen Bundestagsabgeordneten in die Hand gedrückt werden, schlägt man im Bundesverkehrsministerium vor.

Am forschesten legte sich der verkehrstechnische Experte des Gutachterteams ins Zeug, der Professor Korte von der Technischen Hochschule in Aachen. Er empfiehlt wie Rümmele eine Begrenzung der Fahrgeschwindigkeit auf den Autobahnen. Gutachter Graßmann (Lehrstuhl »Fahrdynamik und Verkehrsstatistik« an der Technischen Hochschule Aachen) schwang sich zu einer recht kuriosen Schlußbetrachtung auf. »Man muß erreichen«, gutachtete der Professor, »daß die Geschwindigkeit bei Unfällen herabgesetzt wird. Es kann nicht darum gehen, die höheren Fahrgeschwindigkeiten einfach zu untersagen, denn dadurch würde man nach einer bekannten Redensart 'das Kind mit dem Bade ausschütten'.«

Graßmanns Gutachten läuft auf die Empfehlung hinaus, daß es besser sei, nicht die Fahrgeschwindigkeit, sondern die Überholvorgänge zu beschränken, um die Kollisionsgefahr zu verringern. Nach des Professors Ansicht sollte der Bundestag beschließen: »Es wird untersagt, ein Fahrzeug zu überholen, wenn die Geschwindigkeit des zu überholenden Fahrzeugs in geschlossenen Ortslagen mehr als 40 Stundenkilometer, auf Landstraßen I. und II. Ordnung mehr als 60 Stundenkilometer und auf Bundesstraßen mehr als 80 Stundenkilometer beträgt.« Auf Autobahnen sollte man - so empfiehlt Graßmann - die Überholverbotsgrenze bei 100 Stundenkilometer ziehen.

Dazu gibt der Professor den Kommentar: »Ein Fahrzeug, dessen Fahrgeschwindigkeit oberhalb der festgelegten kritischen Geschwindigkeit von 40, 60, 80 oder 100 Stundenkilometern liegt, darf sein Verhalten auf der Voraussetzung aufbauen, daß es von keinem anderen Verkehrsteilnehmer überholt wird, während alle übrigen langsam fahrenden Verkehrsteilnehmer scharf rechts zu fahren haben.«

Diese Regelung würde zur Folge haben, daß sich auf allen Straßen schwerfällige lange Fahrzeugschlangen bilden würden. Alle schnellen Wagen müßten sich zum Beispiel auf einer Bundesstraße hinter einem Fahrzeug aufreihen, das wenig mehr als 80 Stundenkilometer fährt und nach dem Graßmannschen Vorschlag nicht mehr überholt werden dürfte. Daß sich in solchen Kolonnen erst recht Kollisionsunfälle ergeben müssen, hat der Professor anscheinend nicht bedacht.

Als verkehrspsychologischen Gutachter bestellte Brandt den Leiter des medizinischpsychologischen Instituts für Verkehrs- und Betriebssicherheit* in Köln, Dr. Wilhelm Lejeune, der über seine eigenen Qualitäten als

Verkehrsteilnehmer

offen gutachtete: »Ich besitze seit 26 Jahren zwar auch einen Kraftfahrzeug-Führerschein, aber habe ihn niemals benutzt und bin begeisterter Fußgänger. Da ich zu labil und sensibel bin, würde ich wahrscheinlich schon nach 25 Kilometern Autofahrt einen Unfall verursachen.« Lejeune geriet sehr bald mit sich selbst in Konflikt, als er erkannte: »Man hat mir den schwarzen Peter zugeschoben. Solche Untersuchungen, wie sie Herr Brandt wünscht, sind eine Kombination von Wissenschaft und Ermessensfragen.«

Kurz vor Abschluß seiner Untersuchung erklärte der Verkehrspsychologe impulsiv: »Ich bin kein Scharlatan und bekenne ganz offen: Es gibt in meinem Bereich auf der ganzen Welt kein exaktes wissenschaftliches Grundlagenmaterial, das über die Relativität von Geschwindigkeit und Wahrnehmung Definitives aussagt. Es muß erst einmal eine Relativitätstheorie der Wahrnehmungen geschaffen werden.« Lejeune konnte nur »gewisse Aspekte aufführen, die zusammen mit statistisch eruierten Sachverhalten eine Grundlage für bestimmte Geschwindigkeitsbegrenzungen geben können.«

Er wurde mit seiner Untersuchung nicht bis zum gewünschten Zeitpunkt fertig und erklärte Ende September: »Auch der Auftraggeber muß sich daran gewöhnen, daß er nicht immer eine (in seinem Sinne) positive Antwort erwarten kann.«

Der Kölner Verkehrspsychologe hat inzwischen eine sogenannte Minderheitstheorie entwickelt, die mehr Beweiskraft besitzt als die Theorien über die Geschwindigkeit als Unfallursache Nr. 1. Er stützt sich dabei auf eine Untersuchung, die er in Hamburg an Hand der dort eingeführten Verkehrssünder-Kartei vornahm. Lejeune ließ eine Gruppe von 38 000 Kraftfahrern vier Jahre lang beobachten:

- 81,5 Prozent dieser Kraftfahrer fuhren

unfallfrei,

- 18,5 Prozent verursachten 9833 Unfälle, - 47,7 Prozent dieser Unfälle gingen zu

Lasten von 5 Prozent der 38 000 Kraftfahrer, so daß auf den Kopf dieser »Unfäller« 2,57 Unfälle kamen.

»Diese fünf Prozent Kraftfahrer sind die notorischen Unfäller«, sagt Lejeune, »das ist die gefährliche Minderheit«, die man aufmerksam beobachten sollte. Sie sollte von Ärzten und Psycho-Therapeuten - so schlägt Lejeune vor - getestet werden. Man sollte den Unfällern nötigenfalls den Führerschein entziehen, wenn sie nicht mehr verkehrstüchtig* sind oder ihrem Charakter nach eine ständige Gefahrenquelle bilden.

Zu dieser Minderheit, der durch allgemeine Geschwindigkeitsbegrenzungen nicht beizukommen ist, zählt Lejeune sowohl die rücksichtslosen Fahrer, die rechts überholen oder mit aufgeblendetem Scheinwerfer die Straßen entlangrasen, als auch die psychophysischen Versager, die besonders stark zu Fehlleistungen im Verkehr neigen, weil sie die Nerven verlieren oder weil sie an organischen Störungen leiden, die ihre Reaktionsfähigkeit mindern.

Zu einer ähnlichen Feststellung kam auch das Karlsruher Institut für Verkehrspsychologie, das mehrere Tausend Kraftfahrer testete und herausfand: Nur 5 Prozent gehören in Klasse 1 »sehr gut«, 20 Prozent in Klasse 2, 50 Prozent in Klasse 3, 20 Prozent in Klasse 4 und 5 Prozent in Klasse 5. Von den Unfallbeteiligten gehören 60 Prozent der Klasse 4 und 13 Prozent der Klasse 5 an. 85 Prozent aller Unfallursachen liegen nach den Feststellungen »beim Menschen": 15 Prozent in charakterlichem, 70 Prozent in psycho-physischem Versagen.

Der Unfallfaktor »Menschliches Versagen« könnte zurückgedämmt werden, wenn man bei der Erteilung des Führerscheines strengere Maßstäbe anlegte.

Im Verkehrsausschuß des Bundestages wurden schon häufig Maßnahmen diskutiert, die mehr Erfolg versprechen als die Geschwindigkeitsbegrenzung, zum Beispiel:

- Prüfung der Führerscheinbesitzer bei

Erreichung einer bestimmten Altersstufe, strenge Strafen für rücksichtslose und einfältige Fahrer (Rechtsüberholer, Blendsünder, Vorfahrterzwinger und Überholungswettfahrer, die vorschriftswidrig ihre Geschwindigkeit steigern, sobald ein schnellerer Wagen sie überholen will).

- Einführung einer Verkehrssicherheitskartei, in der nicht Parksünder und sämtliche gebührenpflichtigen Verwarnungen, sondern nur die notorischen Unfäller registriert werden sollen.

- Überprüfung der typischen Unfäller und

nötigenfalls Führerscheinentzug.

Der Vorsitzende des Verkehrsausschusses, Oskar Rümmele, aber gab dem Geschwindigkeitsbegrenzungs-Gesetz den Vorrang.

Dazu Rümmele: »Solange uns Schäffer nicht genügend Geld für den Straßenbau bewilligt, muß sich eben der Verkehr der Straße anpassen. 30 Millionen Fußgänger und 16 Millionen Radfahrer haben auch Anspruch auf die Straßen.« In seiner derben Sprache, die er gern mit Zitaten aus den Kalendergeschichten seines Landsmannes Johann Peter Hebel würzt, weist Rümmele stets auf die Redlichkeit seiner Bemühungen hin: »Ich war mein ganzes Leben lang eher ein Ackergaul als ein tänzelndes Reitpferdehen.«

Rümmele schlägt die Aufstellung einer speziell ausgebildeten Bundesverkehrspolizei vor ("Sonst bin ich Föderalist, aber in dieser Beziehung halte ich es mit den Unitariern"); sie soll unter anderem Geschwindigkeitssünder stellen und auf der Stelle hart bestrafen. Außerdem fordert Rümmele, daß die Polizei mit technischen Hilfsmitteln ausgerüstet wird, mit deren Hilfe sie zu schnelle Fahrer »zur Strecke bringen« kann.

In Nordrhein-Westfalen, wo die Polizei sogar über Hubschrauber verfügt, wurden bereits Polizeistreifen mit Doppelkameras ausgerüstet, die an den Windschutzscheiben der Polizeifahrzeuge befestigt sind. Die eine Kamera photographiert den der Geschwindigkeitsüberschreitung verdächtigten Wagen und dessen Nummer, die zweite den Tachometer des Polizeiwagens. Diese Spezialpolizeitrupps überwachen die Einhaltung örtlicher Geschwindigkeitsbeschränkungen. Das Photo gilt später vor Gericht als einwandfreier Beweis einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Außerdem sollen Radargeräte zur Geschwindigkeitsmessung aufgestellt werden.

»So ist es richtig«, kommentiert Rümmele die von seinem sozialdemokratischen Freund Leo Brandt angeregte neue Welle der Geschwindigkeitsbekämpfung in Nordrhein-Westfalen. »Die Lümmel müssen hart angefaßt werden.«

* Geschwindigkeltsvorschriften für Kraftfahrzeuge galten in Deutschland seit 1910.

* Im § 9 der Straßenverkehrsordnung heißt es: »Der Fahrzeugführer hat die Fahrgeschwindigkeit so einzurichten, daß er jederzeit in der Lage ist, seinen Verpflichtungen im Verkehr Genüge zu leisten und daß er das Fahrzeug nötigenfalls rechtzeitig anhalten kann.«

* Das Institut ist ebenso wie die Technische Hochschule Aachen finanziell weitgehend von dem sogenannten Forschungsfonds des nordrheinwestfälischen Wirtschaftsministeriums abhängig, dem Leo Brandt angehört. Führende Verkehrswissenschaftler, darunter der Prorektor der Technischen Hochschule in Hannover, Professor Dr.-Ing. Schlums, lehnten eine Beteiligung an Brandts Forschungsaufträgen ab.

* Als relativ verkehrssicher gelten die Altersgruppen von 20 bis 40 Jahren. Professor Gerfeldt von der Medizinischen Akademie Düsseldorf empfahl eine generelle Fahrtauglichkeitsuntersuchung aller Kraftfahrer bei Erreichen des 50. Lebensjahres.

Verkehrspolitiker Rümmele und Seebohm: Härtere Gesetze

ADAC-Vizepräsident Bretz

»Die Straßen sind schuld«

Porsche-Prokurist von Hanstein: Wer fährt noch schnelle Wagen?

Gewerkschaftsfunktionär Rümmele (1920)

Mit der Schiene gut Freund

Unfall auf der Autobahn: Die Statistiken geben ein falsches Bild

Brandts Gutachter Lejeune

Hat seinen Führerschein nie benutzt

Staatssekretär Brandt

Wurde an den Baum gefahren

Brandts Gutachter Graßmann

Will nicht mit 80 überholen

Alter Polizei-Erlaß, moderne Verkehrsstreife mit Photoausrüstung: »Die Lümmel werden hart angefaßt«

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