Zur Ausgabe
Artikel 13 / 88

SPD Näher zu Menschen

Mit Anzeigen für eine Million Mark eröffneten die Sozialdemokraten den Wahlkampf. Der Parteiname kam nicht vor. *
aus DER SPIEGEL 3/1986

Die Tage um Silvester wollte die Reisegesellschaft eigentlich im Schnee verbringen. Doch für 20 Personen fand sich auf die schnelle keine geeignete Herberge. Es wurde umdisponiert: Am zweiten Weihnachtstag flogen die Wahlkampfberater und Werbeexperten des SPD-Kanzlerkandidaten Johannes Rau mit ihren Familien nach Israel.

Im Gelobten Land machten sich die Strategen - unter ihnen SPD-Sprecher Wolfgang Clement und Raus Wahlkampfhelfer Bodo Hombach - Gedanken, wie der Kandidat aus Düsseldorf den Bundesbürgern am besten zu vermitteln sei. Unter südlicher Sonne brüteten sie auch eine Aktion aus, die den Beginn des Vor-Wahljahres signalisieren sollte: einen »Aufruf« Raus, den Anstand in dieser Republik zu wahren.

Die Adressaten ("Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger") konnten ihn am Mittwoch und Freitag letzter Woche in fast allen überregionalen Zeitungen (nur Springers »Welt« und »Bild« gingen leer aus) und zahlreichen regionalen Blättern nachlesen. Rund 6Omal forderte der Mensch, nicht der Parteipolitiker Johannes Rau die Bürger ganzseitig auf, »den schleichenden Verfall des politischen Anstandes nicht durchgehen« zu lassen.

Soviel Sorge um Moral hat ihren Preis. Etwa eine Million Mark ließen sich die Sozialdemokraten nach Angaben von Clement die »einmalige Sache« kosten, die Bürger »flächendeckend« zu informieren - viel Geld für eine Partei, die mit keinem Wort in der Anzeige erwähnt wird. Der Kandidat spricht lediglich zweimal von »meiner Partei«, der Name SPD fällt aber nicht.

Die Zurückhaltung hat Methode. Jetzt, fast genau ein Jahr vor der Bundestagswahl 1987, setzen die Sozialdemokraten auf ihr größtes Kapital: den »Vertrauensbonus« (SPD-Zentrale) den Johannes Rau bei der Bevölkerung hat. Kaum einem bundesdeutschen Politiker, da ist sich die SPD seit dem Rau-Sieg von Nordrhein-Westfalen im Mai '85 ganz sicher, nehmen die Bundesbürger Appelle an die politische Moral so gerne ab wie ihm. Predigersohn Rau in der Annonce: »Die notwendige Erneuerung kommt nicht aus Bonn. Sie kann nur von Ihnen, von uns gemeinsam kommen.«

Der Düsseldorfer Neuerer will genau damit Politik (und Wahlkampf) treiben: Das Gute kommt aus der Provinz; in Bonn dagegen regiert »die bürgerferne Sprache«, werden bloß »die Rituale der angeblich großen Politik« geübt.

Der gute Mensch aus Düsseldorf will - so betitelte er schon seine Grundsatzrede nach der Kür zum Kanzlerkandidaten Mitte Dezember in Ahlen - »versöhnen statt spalten«, will Harmonie verbreiten und dem Bürger mit »Anstand« kommen, nach dem Vorbild des FDP-Wahlkämpfers Hans-Dietrich Genscher 1976 und 1980, der damals auf das Harmoniebedürfnis der Deutschen und deren Abneigung gegen politische Sottisen zielte.

Ganz ohne »Kampfgeist« kommt auch Versöhne-Mann Rau laut Redetext nicht aus: Wenn davon schon die Rede sei, dann ziehe er »in der demokratischen Auseinandersetzung das Florett dem schweren Säbel vor«. Und die Anzeige voller Sprechblasen dem direkten Austausch von Sprechblasen, wie ihn die Wähler aus Sonntagsreden und Rundfunkinterviews gewohnt sind.

Denn politisches Geschütz - wenn auch mit viel moralischer Munition - braucht selbst der Kandidat in seinem »Aufruf": Bundeskanzler Helmut Kohl trage für ein Kabinett die Verantwortung, »in dem fällige Entscheidungen und Erwartungen an den politischen Anstand allzuoft durch Aussitzen erledigt werden«.

Oder: Minister Manfred Wörner habe »unsere Bundeswehr durch unwürdiges Agieren der politischen Führung dem Gespött in der Welt preisgegeben«.

»Dies ist eine Rau-Anzeige«, versichert SPD-Sprecher und Wahlmanager Clement. Der Kandidat und gelernte Verleger habe sich seine Anliegen von der Seele geschrieben - wobei die Sprache zuweilen etwas holprig ausfiel ("Die Politik muß wieder näher zu den Menschen. Das ist Ihr gutes Recht").

Noch am Montagabend vor Erscheinen des ersten »Aufrufs« fuhren Clement und Hombach zu Johannes Rau in dessen Wuppertaler Wohnung. Dort - und während ihn das Fieber einer schweren Grippe plagte - habe Rau den Entwurf der Anzeige »noch einmal gravierend geändert«.

Tags darauf schrieb Anzeiger Rau an alle Vorsitzenden und Geschäftsführer der SPD-Landesverbände, -Bezirke und -Unterbezirke einen Brief, um sie auf das große Ereignis am Mittwoch vorzubereiten. »Die Unionsstrategen«, so heißt es dort - wohl zur Begründung, daß Rau im Januar 86 den Wahlkampf 87 eröffnet -, wollten »jetzt erklärtermaßen im ganzen Jahr 1986 Wahlkampf machen«, deshalb der direkte »Aufruf zum Anstand«, deshalb der Appell zum »Widerstand gegen den Bonner Werteabbau«.

Nach der Millionen-Ausgabe zeigten sich die Bonner Genossen stolz darüber, daß sie als erste ins Rennen gegangen waren. Sie ärgerten sich bloß über die wahrheitsgemäße Einschätzung ihres Inserats in der »Süddeutschen Zeitung«, die links oben die respektlose Vorzeile »Wahlanzeige« eingerückt hatte. Clement: »Absolut unkorrekt.«

Fürs konservative Publikum konnten sich die Werbestrategen einen Hinweis auf einen anderen Kohl-Konkurrenten nicht verkneifen - auf Baden-Württembergs CDU-Ministerpräsidenten Lothar Späth. Aus Raus Bekenntnis, »spät, aber nicht zu spät« hätten auch »Fundamentalisten der Marktwirtschaft« erkannt, daß die »gestaltende Mitverantwortung des Staates unverzichtbar ist«, machten sie in beiden Stuttgarter Blättern und der »Frankfurter Allgemeinen": »Späth, aber nicht zu spät.«

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 13 / 88
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten