ISRAEL »Nah, so nah am Paradies«
DER LEHRLING
Sie nehmen Mahmud Kaddusi die Handschellen ab, bevor er in den kargen, schalldichten Besucherraum im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Hascharon kommt. Ein schlaksiger Teenager in brauner Anstaltskleidung, über den Lippen ein Bärtchen. Wache, schnell wandernde Augen, die unsere Umgebung mustern, als suchten sie permanent nach einer Fluchtmöglichkeit.
Aber da ist nicht einmal ein Fenster; da führt kein Blick hinaus zum Hof, wo die Gefangenen täglich eine Stunde, streng überwacht, ihre Freiübungen machen und wo ein Künstler mit kühnem Schwung eine Palmenlandschaft an die Wand gebannt hat: Sonnenuntergang am Meer in den Sehnsuchtsfarben Rot, Grün und Blau. Kein Geräusch dringt von der nahen Schnellstraße Tel Aviv-Haifa herüber, die Mauern sind zu dick. Außerdem trennen ein Stacheldrahtverhau, ein Sperrzaun und drei Security Checks die Gefängnis-Innenwelt von der Welt dort draußen. Grabesstille. Aus Hascharon ist noch keiner entkommen.
Seufzend, als beginne die Erkenntnis über seine hoffnungslose Lage gerade eben erst in ihm zu sinken, setzt sich der Häftling auf einen der beiden Stühle. Streckt die Hand aus, überlegt es sich. Nickt dann nur kurz zur Begrüßung. Neunzig Minuten, sagt der Wärter. Er zieht sich in den Nebenraum zurück, aber bleibt immer in Blickkontakt, die Uzi im Anschlag.
Mahmud Kaddusi hat in erster Instanz die Höchststrafe »lebenslänglich« bekommen, für eine Tat, die er im Februar 2002 begangen hat - als 16-Jähriger. Ein solches Urteil gegen einen Minderjährigen ist auch für die häufig sehr harte israelische Justiz ungewöhnlich. In der Begründung des Militärgerichts heißt es, man sei entsetzt über die Massenmord-Lust des jungen Mannes, seine kriminelle Unerbittlichkeit, seinen strikten Unwillen, das Verbrechen auch nur im Ansatz zu bereuen.
»Um gleich am Anfang eines klarzustellen: Ich schäme mich«, sagt Mahmud mit seiner sanften, fast schüchternen Stimme. »Ich schäme mich, dass ich noch am Leben bin und es mir nicht gelungen ist, Dutzende Juden in den Tod zu reißen.«
Er stammt aus der arabischen Kleinstadt Tulkarm im Westjordanland, keine fünf Kilometer entfernt von der Stelle, wo jetzt Israels Sperrzaun steht, wo es aber bis vor wenigen Jahren einen weitgehend ungehinderten Zugang zum israelischen Staatsgebiet gab: Der Badeort Netanja ist gerade eine Viertelstunde mit dem Auto entfernt, Haifa viel näher als Gaza-Stadt.
»Ich war noch nie drüben. Das Land unserer Feinde, unserer Okkupanten interessiert mich nicht«, sagt Mahmud Kaddusi. »Mein Bezugspunkt ist Jerusalem, wo unsere Familie ihre Wurzeln besitzt.«
»Kaddusi« entspringt dem gleichen Wortstamm wie al-Kuds, der arabischen Bezeichnung für das heilige Jerusalem - bei Mahmud zu Hause versuchten sie immer, diesem Namen Ehre zu machen. Die Eltern achteten streng darauf, dass die Kinder fünfmal täglich beteten, auch alle anderen islamischen Regeln einhielten. Sie waren in Mahmuds Worten eine »glückliche, von allen respektierte Großfamilie": vier Schwestern und fünf Brüder, er der Jüngste. Allesamt als Arbeitskräfte eingebunden in das familieneigene Kaffeehaus am besten Platz des Ortes.
Mahmud hatte als Nesthäkchen die niedrigsten Arbeiten zu verrichten: das Aufstellen der Stühle beim frühmorgendlichen Geschäftsbeginn, das Spülen der Tassen, aber auch das Auftragen des süßen Gebäcks. Dabei bekam er viel mit von dem, was sich die Alten beim Genuss ihrer Wasserpfeifen empört erzählten, worüber sie sich die Köpfe heiß redeten - die Übergriffe der arroganten israelischen Soldaten, die willkürlichen Landnahmen, die fast alltägliche Gewalt.
»Dann wurden zwei meiner Klassenkameraden erschossen. Ich beobachtete, wie mein bester Freund im Kugelhagel starb, das Blut aus seinem Bauch auf die Straße spritzte und aus dem kleinen Rinnsal ein tiefroter Bach wurde, der zum Marktplatz hinunterfloss.« Hat er sich das erzählen lassen, oder war er wirklich dabei? Mahmud springt zornig auf. »Ich sah es mit meinen eigenen Augen. Es war, als wir Steine gegen ihre Panzer warfen, damals, als ich zwölf war.«
Seine Brüder schlossen sich der Hamas an, die in Tulkarm - wie überall im besetzten Land - nicht nur die brutale Gewalt
gegen die Okkupanten schürte, sondern den am Widerstand Beteiligten Geld für ihre Familien bot: ein Netz aus Terror und sozialer Wärme. Mit 14 schleppten sie auch den Jüngsten zu den Hamas-Treffs. »Kurz darauf habe ich beschlossen, mich als Schahid, als Märtyrer, zur Verfügung zu stellen«, sagt Mahmud. »Ich wollte meine Freunde rächen. Aber ich tat es vor allem aus Liebe zu Gott, der uns Opferbereiten den direkten Weg ins Paradies verspricht. Und für meine Familie, von der ich wusste, dass sie stolz auf mich sein würde.«
Seine Brüder waren immer mal wieder verhaftet worden, monatelang in israelischen Gefängnissen inhaftiert. Aber Ende der Neunziger hatten sie geheiratet, Familien gegründet und den Gedanken an Selbstmordattentate verworfen. »Da war mir klar: Es blieb nur ich.«
Die Hamas-Anführer in Tulkarm bestärkten ihn in seinem Entschluss. Sie testeten immer wieder seine innere Bereitschaft, in nächtelangen Diskussionen, bei gemeinsamen Gebeten - und ließen ihn dann warten. »Sie fanden mich noch zu jung, und sie hatten genug Kandidaten zur Auswahl.« Aber Mahmud lernte, den Sprengstoffgürtel anzulegen, ihn unter einer Jacke zu verbergen, sich mit dem TNT unauffällig zu bewegen.
Am 5. Februar 2002 ist es dann so weit. Seine Hamas-Führer holen ihn ab, bringen ihn ins Fotostudio. Sie machen ein Abschiedsvideo mit ihm, er posiert mit seiner Bombe und dem Koran vor einem Bild des Jerusalemer Felsendoms. Dann verbringen sie gemeinsam die letzte Nacht, draußen in der Natur, wo und wie will Mahmud nicht erzählen. Nur so viel: »Ich habe gut geschlafen. Ich war mit mir im Reinen - ich wusste, ich tat das Richtige.«
Am nächsten Tag spricht er vor dem Start noch ein besonderes Gebet aus dem Koran. Dann besteigt er ein Taxi, das die Hamas-Auftraggeber für ihn bereitgestellt haben. Ziel: die nächste israelische Stadt, die nächste Ansammlung von Menschen. Ein möglichst großes Blutbad.
Doch Mahmud aus der Familie der »Heiligen« von Tulkarm kommt nicht weit. Schon nach wenigen Kilometern ein israelischer Checkpoint. »Sofort aussteigen!«, rufen die Soldaten, zerren seinen Taxifahrer aus dem Wagen. Haben sie einen Tipp bekommen, Telefone abgehört, die Gruppe infiltriert? Oder ist es nur eine Routinekontrolle?
Mahmud entschließt sich in Sekundenbruchteilen, dem Befehl der Militärs nicht Folge zu leisten. Er möchte »das Beste aus der Situation machen«. Er will noch im Taxi seine Bombe zünden - und damit einige Soldaten mit in den Tod reißen. Er
drückt den Zündknopf. Nichts passiert; noch einmal, wieder keine Detonation.
Mahmud registriert als Nächstes, dass die Soldaten und der Taxifahrer geflohen sind: Offensichtlich haben sie den Ernst der Lage erkannt. Schüsse fallen, aus einiger Entfernung. Dann kehrt Stille ein. Mahmud bastelt auf dem Rücksitz des Autos an den Drähten herum, versucht, sie zur Explosion kurzzuschließen. Es klappt nicht.
Rätselraten, wie es weitergehen soll, auch bei den Soldaten. Neunzig Minuten sei das so gegangen, steht später im Militärprotokoll. Dann hätte sich ein Spezialtrupp an das Taxi herangewagt, den Mann im Fond festgenommen.
Vor Gericht gibt Mahmud alles zu, schreibt stolz aus dem Gefängnis Briefe an die Familie. Vor einigen Monaten wird auch eine seiner Schwestern wegen Terrorplanung verhaftet, zu sechs Jahren Haft verurteilt. »Heldentum liegt jetzt bei uns in der Familie, es pflanzt sich fort«, meint Mahmud und schaut glücklich versonnen in die Ferne. Sein Anwalt hat kürzlich erreicht, dass die Strafe von Lebenslang auf 18 Jahre Haft herabgesetzt wurde. Es interessiert ihn nicht: »Allah ist die Gegenwart, Allah ist die Zukunft, und ich weiß, ER versteht mich«, sagt der Häftling.
»Ihre 90 Minuten sind gleich um«, sagt von draußen der Wärter. Eine Frage noch: Hat auch die Mutter ihn verstanden?
Mahmud Kaddusi stottert leicht, es ist ein Sprachfehler, den er nach Aussagen seiner Freunde erst nach der Verurteilung entwickelt hat. Jetzt aber wird sein Stottern so stark, dass er den Satz mehrfach beginnen muss. »Lassen Sie, lassen Sie doch meine Mutter aus dem Spiel. Sie hat nicht ganz begriffen, warum es sein musste«, sagt er. »Sie hat geweint, als sie von meinem Selbstmord-Opferplan hörte. Die Israelis haben danach unser Haus von Planierraupen einreißen lassen - die denken, so was ist eine Strafe, dabei ist es für uns eine Ehre. Ich höre, meine Mutter empfindet jetzt auch nur noch Hass für die Besatzer. Sie ist dabei zu lernen.«
DIE STUDENTIN
Thaura Hamuri zieht das graue Kopftuch fest. So fest, dass um Himmels willen keine frivole Haarsträhne zu sehen ist. Dann blickt die junge Dame mit dem rundlichen Gesicht und den sorgsam nachgezogenen Augenbrauen streng ihren Körper und den langen Umhang hinunter; der Hidschab sitzt gut, bedeckt auch die Fußknöchel. Alles in Ordnung.
Selbstverständlich kein Händedruck, die Wärterin hat sich gewundert, dass die streng religiöse Gefangene überhaupt akzeptierte, mit zwei Männern - dem Reporter aus dem Westen, dem greisen Arabisch-Übersetzer - für eine Stunde einen Raum zu teilen. Nun aber kann das Interview in der Frauen-Strafanstalt nahe der nordisraelischen Stadt Hadera beginnen.
»Wir haben uns lange überlegt, ob so ein Gespräch überhaupt Sinn macht«, sagt Thaura Hamuri, 27, die mit ihren geröteten Apfelbäckchen jünger aussieht, sehr proper, bodenständig. »Meine Freunde vom Islamischen Dschihad hier im Gefängnis glauben nicht, dass Menschen aus dem Westen, die unsere bitteren Erfahrungen nicht kennen, unseren Weg zum Märtyrertod nachvollziehen können. Und ehrlich gesagt, auch ich habe meine Zweifel. Aber ich will Journalistin werden, und da muss ich wohl meinen Kampf auch jenseits von Dynamit und Sprengstoffgürtel führen, mit Überzeugungsarbeit.«
Sie lächelt, offensichtlich stolz auf ihren Akt der Selbständigkeit gegenüber dem sonst alles bestimmenden Kollektiv der inhaftierten Mitstreiterinnen.
Thaura ist in Dschabaa nahe Dschenin aufgewachsen, mit sechs Brüdern und drei Schwestern, »und alle haben es auf die Universität geschafft«. Ihr Vater leitete eine Baufirma, finanzielle Probleme hat es bei den Hamuris nie gegeben. Der Clan genoss weit über die Dorfumgebung hinaus einen guten Ruf. »Jeder kannte uns, eine alteingesessene Familie.« Die schlimmsten Probleme hätten 1967 begonnen, nach dem Sechs-Tage-Krieg, als das Westjordanland und damit auch Dschabaa von den Israelis besetzt wurden, erzählten die Eltern ihrer Tochter. Mit einer Okkupation dürfe man sich nie abfinden. Deshalb hat sie auch ihren Vornamen bekommen: »Thaura« ist das arabische Wort für »Revolution«.
Die geborene Revolutionärin studiert Geschichte in Jerusalem, verbringt aber jedes Wochenende bei ihren Eltern im Dorf. Sie verachtet »Arafat und seine korrupte Clique«, die vom »Kampf um die palästinensische Sache reden und das Vollstopfen der eigenen Taschen meinen«. Die israelischen Soldaten an den allgegenwärtigen Kontrollstellen mustert sie nur verächtlich, israelische Kommilitoninnen meidet sie. Als sie einmal nach Tel Aviv eingeladen wird, weigert sie sich zu fahren. »Ich begebe mich nicht ins Herzland des Feindes. Ich will mit Juden nichts zu tun haben.«
Thaura erzählt, einige ihrer Freunde aus Dschenin seien von der Besatzungsmacht erschossen worden, drei Kinder eines zu Tode gekommenen Onkels habe sie wochenlang bei sich aufgenommen. Genauso schlimm wie die Menschenverluste seien die alltäglichen Demütigungen gewesen. »Wenn es für mich ein Schlüsselerlebnis auf dem Weg zum Selbstmordattentat gab, dann war es die Erniedrigung meines Vaters.« Soldaten hätten ihm an einem Checkpoint die Pistole an die Schläfe gehalten, ihn zum Niederknien gezwungen und dabei Obszönitäten gerufen. »Und mein stolzer Vater hat sich nicht gewehrt, wohl weil er auf alle Fälle vermeiden wollte, dass sie sich auch an mir vergriffen.«
Sie schmunzelt, als würde sie jetzt von einem besonders gelungenen, besonders amüsanten Jugendstreich erzählen: »Da begann ich meine Operation ,maximaler Verlust' - so nannte ich den Plan, möglichst
viele Israelis mit meinem explodierenden Körper als Waffe auszulöschen.«
Zurück in Jerusalem, schlendert Thaura durch den verhassten Westteil der Stadt mit seinen israelischen Restaurants, Cafés und Märkten. Abends macht sie sich Notizen, wo und wann die größte Menschenmenge zu finden ist. Dann sucht sie einen Sponsor für ihre Tat. Auch dabei geht sie systematisch vor, nüchternes Kalkül auf dem Weg zur Bombe. Sie trifft sich mit den eher weltlich orientierten Aksa-Märtyrer-Brigaden, dann mit der Hamas. Weil diese beiden Organisationen sie nicht einsetzen wollen, bleibt nur der Islamische Dschihad, ihre letzte Wahl beim mörderisch-selbstmörderischen Einkaufsbummel.
Sie geben ihr einen Rucksack mit Dynamit zur Probe, ein Jackett mit Sprengstoffgürtel. Den Tornister findet sie zu auffällig, das Kleidungsstück zu lang. Sie kürzt die Jacke vor dem Spiegel. Mustert sich lange, kritisch, dann zunehmend selbstzufrieden: »Ich konnte mein Märtyrertum schon spüren, ich war nah, so nah am Paradies.« Noch heute, im Rückblick auf diesen euphorischen Augenblick, umspielt ein verzücktes Lächeln ihren Mund. Sie las damals viel im Koran. Sie fühlte sich als »Braut Allahs«. Sie war glücklich.
Siebzig Pfund wog die explosive Last mit dem TNT, den Nägeln, die möglichst viele Körper zerfetzen sollten. Die Weste mit dem Gürtel trug sich unbequem, und doch lernte Thaura bei nächtlichen Übungen, bei Kontrollgängen, die Bombe zu lieben. »Es war, als würde sie ein Stück von mir.« Hatte Thaura nie Skrupel, wenn sie an die israelischen Kinder, die Frauen dachte, die sie mit ihrer Tat mit in den Tod reißen würde? Nein, sagt sie, nun ganz Propagandisten-Sprachrohr der Terroristen. »Aus Töchtern und Söhnen werden Soldaten, und die vernichten unsere Jugend. Solange die Israelis so weitermachen, sind sie alle legitime Ziele.«
Zwei Monate vor dem geplanten Tag X verlobte sich Thaura - aus Berechnung. Ihr Auserwählter habe nichts von ihrem zweiten Leben gewusst, behauptet die Möchtegern-Märtyrerin. Sie wollte die Israelis durch das Verlobungsfest täuschen. Eine Braut als Märtyrerin, das sei für die doch undenkbar.
Die Stunde ihres Anschlags verläuft dann eher unspektakulär. Thaura zieht los Richtung Tel Aviv - und wird, mit dem umgelegten Sprengstoffgürtel, schon knapp außerhalb von Dschenin geschnappt. »Es gab da einen Kollaborateur, der unsere Gruppe unterwandert hat. Er muss jedes Detail verraten, den Sprengkörper entschärft haben. Ich habe einfach kein Glück mit dem Tod.« Einen Moment schweigt Thaura, offensichtlich erschöpft von der schmerzhaften Erinnerung. Dann beugt sie sich vor, ganz Verschwörerin, die ein lange gehütetes Geheimnis teilen will. »Der Verräter, das darf ich Ihnen sagen, lebt heute nicht mehr.«
Sie ist wegen Vorbereitung eines Mordanschlags zu sechs Jahren Haft verurteilt worden. Sie beschäftigt sich in ihrer Zelle, die sie mit einer Dschihad-Aktivistin teilt, viel mit Nahost-Geschichte, lernt in Fernkursen Englisch und Russisch. Sie möchte später einmal bei einer Fernsehstation arbeiten, vielleicht bei al-Manar, dem Hisbollah-TV im Libanon. Sie will gegen das »israelische Übel« argumentieren und agitieren. Heißt das: Abkehr von Gewalt? »Aber keineswegs«, sagt sie, »das Selbstmordattentat per Knopfdruck ist immer noch unser bestes Mittel im Kampf gegen die übermächtigen Besatzer.«
Bei diesen kämpferischen Sätzen überzieht Thaura Hamuris Gesicht wieder dieses jenseitige Glückseligkeitsstrahlen. Wenn die Stichwörter fallen, die ihr Leben und ihren Tod bestimmen: Märtyrer, Bomben, Opfer - dann beginnt sie offenbar zwanghaft zu lächeln. Wie auf Knopfdruck.
DER IMAM
Das Gefängnis von Aschkelon mit seinen düsteren Alcatraz-Mauern und den düsteren Zellen in düsteren Farben stammt noch aus britischen Mandatszeiten. Hier an der Küste Israels, 15 Kilometer vom Grenzposten Erez und dem Übergang zum Gaza-Streifen entfernt, sitzen einige der berüchtigtsten palästinensischen Gewalttäter. Und hier ist auch Imam Badr Ahmed Issa inhaftiert, ein Vorbeter des Islam, der laut Anklage nicht nur den Terror gepredigt hat, sondern ihn auch aktiv zu praktizieren versuchte.
Er betritt den mit schweren Eisengittern gesicherten Besucherraum gleich mit zwei schwer bewaffneten Wärtern an seiner Seite, die sich jedoch hinter die Tür zurückziehen. Der bullige Untersuchungshäftling mit der braunen Anstaltskleidung bietet mit einer jovialen Handbewegung einen Stuhl an, fast so, als wäre er hier der Hausherr. Dann streicht sich Imam Badr, 22, über den Vollbart, holt eine Gebetskette aus der Hosentasche, die er die nächste Stunde nicht mehr aus den Fingern gleiten lassen wird. Und sagt: »Ich hasse diesen Knast. Er ist überfüllt, er ist schmutzig und voller Vögelchen, die für den israelischen Geheimdienst singen.«
Seine Eltern haben ihm den Vornamen »Vollmond« ("Badr") gegeben, sein Familienname lautet »Jesus« ("Issa"), seit Generationen überlieferte Erinnerung an den Mann aus Betlehem, den die Muslime als einen ihrer frühen Propheten verehren. Er stamme aus einfachen bäuerlichen Verhältnissen, sagt Badr; es sei dem Vater nicht
immer leicht gefallen, die vier Söhne und die Tochter durchzubringen. »Doch wir haben ehrlich von den Früchten unserer Hände Arbeit gelebt, stolz auf unser Land.«
Die Felder lagen bei Ramallah, der alten arabischen Stadt im Westjordanland, die 1967 in israelischen Besitz fiel. »Jesus« hat unter den israelischen Besatzern Zimmermann gelernt, »für ein Studium reichte das Geld meiner Eltern nicht«. Er schlug sich in Ramallah durch, mehr schlecht als recht. Aber Gut und Geld waren ihm nicht so wichtig, Badr hatte seine Berufung zum Religiösen erkannt. Und las hingerissen in jeder freien Minute im Koran, bis er bald jede Sure auswendig konnte. Besonders begeisterten ihn die Kapitel al-Bakara, al-Imran, al-Anfal, al-Tauba, al-Rahman und al-Asr - wo es um den Dschihad als Streben der Muslime »auf dem Wege Gottes« geht, die weltweite Gemeinschaft der Gläubigen, die Rechtfertigung des Kriegs und die Wichtigkeit des Glaubens im Alltag. Aus dem Handwerker entwickelte sich ein muslimischer Schriftgelehrter.
Das blieb den Moschee-Vorstehern in Ramallah nicht verborgen und auch nicht der Gemeinde. Badr wurde von ihnen als Imam einer der kleineren Moscheen der Stadt vorgeschlagen und per Akklamation gewählt. Er durfte nun jeden Freitag predigen und vorbeten. »Ich erhielt ein Gehalt von 500 Schekel (90 Euro) pro Monat«, sagt Badr stolz. »Aber viel wichtiger für mich war, dass mir die Gläubigen vertrauten, mit ihren Problemen zu mir kamen.«
Eines Tages sei ein 17-jähriger Junge aus der Nachbarschaft, ein Hamas-Aktivist, an ihn herangetreten, erzählt Badr. Er selbst sei kein Mitglied gewesen, habe als Prediger »wegen der Gottesfürchtigkeit der Organisation und ihrer korruptionsfreien Sozialarbeit« auch mit der Islamisten-Bewegung sympathisiert. »Der junge Mann hat sich bei mir beklagt, er könne nicht mehr beten. Er sei aufgewühlt durch die wiederholte israelische Liquidierung von Hamas-Führern und durch den Tod der zufällig in der Umgebung spielenden Kinder, die bei diesen Raketenangriffen aus der Luft ums Leben gekommen waren.«
Vorbeter Badr hält in seiner bisher sehr flüssigen Rede inne, starrt zur Gefängnisdecke, als öffnete sich da gleich der Himmel und gäbe ihm die richtigen Worte ein. Eine lange Pause, bevor er, sorgfältig abwägend, fortfährt. »Und dann hat der junge Mann mir gesagt, er sähe nur eine Möglichkeit, wieder das Beten zu erlernen - wenn ich ihm für einen Selbstmordanschlag meinen Segen geben würde. Was sollte ich da tun? Ich gab ihm die Erlaubnis.«
Er hat also den potenziellen Mord an Dutzenden Kindern, Frauen und Männern befürwortet - um einen Hamas-Gewalttäter wieder zum Beten zu bringen? Und das, obwohl der Koran Mord und Selbstmord ausdrücklich verbietet?
Imam Badr Ahmed Issa holt zu einer Lektion über den bedrängten islamischen Glauben und die Unterdrückung in Palästina aus, spricht von den »Notfällen«, wo es Gottes Wille, ja sogar die Pflicht des Gläubigen sei, sich zu opfern und den Feind zu dezimieren. Die israelische Anklageschrift wirft Badr allerdings nicht nur das Absegnen eines Terroranschlags vor, sondern nennt ihn als Mitplaner: Der Imam soll gewusst haben, wo und wann sich sein Freund in die Luft sprengen wollte - am 8. Mai 2003 im Hotel Crown Plaza am Toten Meer. Und Badr wird außerdem noch beschuldigt, dem Verbrechen eine weitere, alles dramatisch verschlimmernde Dimension zugedacht zu haben: Er sei entschlossen gewesen, sich an der Seite seines Freundes eine halbe Stunde nach dessen Tat selbst in die Luft zu sprengen - mit großen Verlusten bei den eintreffenden Sanitätern und Polizisten.
»Ich habe wohl mal gesagt, dass ich grundsätzlich zu einem Märtyrer-Attentat bereit sei. Aber dieser konkrete Anklagepunkt ist eine Gemeinheit«, sagt der Untersuchungsgefangene Badr mit zornesrotem Kopf. Gab es da nicht abgehörte Telefongespräche, Zeugenaussagen über den verratenen Plan? »Das haben sie fabriziert. Die Israelis können alles fabrizieren - sie wollen, dass ich bei meiner Verhandlung im nächsten Monat mehr als zehn Jahre Haft bekomme.«
Der Imam beruhigt sich wieder. Sagt beschwichtigend, er könne sich eines Tages, wenn die Israelis »vernünftig« würden, sogar eine Zwei-Staaten-Lösung in Nahost vorstellen. Dann würde er mit seinen Freunden über ein Ende des bewaffneten Kampfes nachdenken und den Gläubigen beim Freitagsgebet »Märtyrer-Attentate« sogar verbieten. »Aber erst einmal muss ich raus hier aus diesem Loch. Die Hisbollah wird doch sicher mal wieder etwas mit den Israelis abmachen, vielleicht einen Deal wie den im Januar, vermittelt von Berlin. Sie sind doch Deutscher - haben Sie Einfluss auf die Liste?«
Und dann noch etwas, mit der Bitte um Weiterleitung an die Gefängnisverwaltung: »Seit letzter Woche haben wir einen neuen israelischen Koch«, sagt der Geistliche. »Er hat die Tomaten rationiert. Und es ist ganz und gar unerträglich, mit wie viel Pfeffer er würzt.«
Den Feinschmecker Imam Badr verbindet mit der Studentin Thaura und dem Lehrling Mahmud aus den anderen Gefängnissen vor allem eines: Ihre Gegner haben keine Geschmacksnerven, keine Gefühle, keine Gesichter. Sie sind in den Augen der Selbstmordattentäter keine Menschen - sie sind Juden, Angehörige einer Besatzungsmacht, die ihr Leben zerstört hat. Und das heißt: Sie sind Ziele.
Mehr als 500 Terroropfer
musste Israel seit Beginn der neuen Intifada vor dreieinhalb Jahren beklagen. In jüngster Zeit ging die Zahl der Selbstmordanschläge zurück. Die extrem harten und teils völkerrechtswidrigen Maßnahmen der Regierung Scharon greifen - etwa die Liquidierung von Hamas-Führern oder die Absperrung der besetzten Gebiete. Langfristig dürften sie eher den Hass verstärken und neue Gewalt provozieren. In Hochsicherheitsgefängnissen sitzen über 2900 Häftlinge, denen Terror vorgeworfen wird, fast viermal so viele wie im Jahr 2000. Die meisten bekennen sich zur Fatah; die Hamas und der Islamische Dschihad stellen die nächstgrößten Gruppen. Mit körperlichen Qualen erpresst werden Geständnisse in Israel angeblich nicht mehr - nachdem das Oberste Gericht 1999 die zuvor erlaubte leichte Folter untersagt hat.