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Nahost: Neue Chance für Kissinger?

Wegen schwerer Meinungsverschiedenheiten sagte Breschnew seinen Ägypten-Besuch ab. Henry Kissingers Verhandlungsdiplomatie erhält damit noch einmal eine Chance. Die Israelis sind konsterniert: Amerika, so fürchten sie, werde nun verstärkten Druck auf Jerusalem ausüben, die besetzten arabischen Gebiete zurückzugeben.
aus DER SPIEGEL 1/1975

Die Demonstranten zerschlugen Schaufenster in Kairos vornehmer Kasr-el-Nil-Straße. Sie beschädigten Omnibusse und Privatwagen, zündeten am Bab-el-Luk-Bahnhof einen Vorortzug an und prügelten sich mit Bereitschaftspolizisten.

Lautstark forderten sie den Rücktritt von Premier Hegasi, schonten aber auch den Präsidenten nicht: »Sadat, weißt du, was mit den Fleischpreisen los ist?« Und -- in Anspielung auf die gefeierte Suezkanal-Überquerung im Oktoberkrieg: »Wo ist unser Frühstück, Held der Überquerung?«

Ägyptens Anwar el-Sadat erlebte einen unerfreulichen Jahresbeginn. Arbeiter demonstrierten in der Hauptstadt gegen Preissteigerungen und Lebensmittelknappheit, Universitätsstudenten hetzten gegen die antisozialistische Regierungspolitik, in Alexandria und Port Said erwarten linke Verschwörer gegen Sadat den Prozeß.

In dieser »kritischen Periode des nationalen Kampfes«, so eine Regierungserklärung, mußte ein für die Monatsmitte eingeplantes politisches Volksspektakel entfallen, aus dem Sadat gestärkt hervorzugehen hoffte: der Staatsbesuch des Moskauer Parteichefs Breschnew.

Sadat hatte in der Visite einen »Wendepunkt zur Förderung der Freundschaft zwischen Ägypten und der Sowjet-Union« gesehen, die Zeitung »Al-Achbar« hatte großzügige Geschenke des Sowjet-Führers angekündigt. Zwei Tage vor Silvester aber erfuhren die nach Moskau gerufenen Minister Fahmi (Äußeres) und Gamasi (Verteidigung), daß Breschnew nicht kommen könne. Seitdem versichern Kairos Politiker und Publizisten der Bevölkerung, nur eine Erkältung hindere den Sowjet-Führer an seinem Besuch. Doch die Ägypter glauben eher an eine politische Krankheit.

Denn so wie Israels Interessen mit denen seiner Schutzmacht Amerika differieren, hat Ägypten Meinungsverschiedenheiten mit der Sowjet-Union. Das Beiruter Pro-Palästinenser-Blatt »Al-Muharrir": »Sadat kann sich nicht mit Breschnew treffen, solange der Ägypter saudiarabische Tracht und einen amerikanischen Schirm trägt.«

Die ägyptisch-sowjetischen Spannungen hatten unmittelbar nach dem Oktoberkrieg von 1973 begonnen. Lieferte Moskau Kairo bis zu diesem Zeitpunkt ausreichend Waffen, so war cs nach dem Waffenstillstand nicht mehr dazu bereit. 1974 trafen nur zum Jahresanfang und im September/Oktober größere Transporte in Ägypten ein, im Dezember brachten lediglich zwei Schiffe Ersatzteile.

Moskau behielt sich auch die Auswahl der Waffentypen vor, verweigerte Sadat bislang Mig-23-Abfangjäger und moderne Raketen. Vor allem die Scud-Mittelstreckenrakete schickte es nur in geringen Mengen. Sie reichen nach sowjetischer Ansicht aus, um Israel von Bombardements in Ägyptens Hinterland abzuschrecken. Sie aber zu einer ägyptischen Angriffswaffe, zu einer Bedrohung der israelischen Städte werden zu lassen, möchte Moskau offenbar verhindern.

Ägypter wie auch die bevorzugt belieferten Syrer beklagen neuerdings auch, daß die Russen die Waffenpreise wesentlich erhöhten. Lieferten sie zum Beispiel vor 1973 eine Mig-21 zum Nominalpreis von 300 000 Dollar, das heißt etwa 20 Prozent des Wertes, so verlangen sie jetzt Vollbezahlung in bar.

Das aber paßt dem saudischen Sadat-Freund Feisal nicht. Der antikommunistische Ölkönig machte seinem Partner klar, daß er weiter zu umfangreicher und militärischer Hilfe an Ägypten bereit sei, nicht aber Rußlands Waffenindustrie finanzieren möchte. Feisal bevorzugt Ägyptens Aufrüstung mit westlichen Waffen. die er bezahlen und sogar für Kairo erwerben will.

Feisal und Persiens Schah wollen in diesem Monat mit einem Geldgeschenk von je einer Milliarde Dollar nach Kairo kommen. Sie bestärken Sadat in der Abneigung gegen eine andere Kondition, die Moskau offenbar für verstärkte Waffenlieferungen gestellt hat: Die Sowjet-Union wünscht wieder eine größere Zahl russischer Berater am Nil zu haben, nachdem Sadat 1972 rund 15 000 Sowjet-Experten nach hause geschickt hatte. Nur sie bieten Moskau eine Garantie dafür, daß die schlagkräftigen Sowjet-Waffen nicht vorschnell und unkontrolliert angewandt werden. Denn sowenig Moskau im Orient eine Pax Americana wünscht, sowenig möchte es gegen seinen Willen in einen Konflikt gezogen werden, den es erfahrungsgemäß nur schwer beherrschen kann.

Die Russen erstreben daher auch wieder feste Ankerplätze mit Nachschublagern in Alexandria und der von ihnen erbauten Basis in Marsa Matruch sowie in Ras Banas am Roten Meer unweit der Sudan-Grenze. Sie wollen angeblich auch wieder mehrere Flugzeugstaffeln für elektronische Spähmissionen im Mittelmeerraum in Ägypten stationieren und den Suezkanal vor der offiziellen Wiedereröffnung für ihre Kriegsschiffe benutzen dürfen.

Einer solchen Rückkehr der Russen aber möchte Sadat nicht zustimmen. nachdem er 1972 den stolzen Slogan »Taradnahum« (Wir haben sie vertrieben!) verkündet hatte und noch kürzlich bekräftigte: »Die Ära der Sowjet-Experten ist für immer vorüber.«

Doch nicht nur in ihren militärischen Absichten unterscheiden sich die Ägypter und Russen. Moskau verübelt Sadat offenkundig auch den zu intensiv gewordenen Kontakt mit den USA: Amerikas Handel mit Kairo übertraf 1974 erstmalig seit zehn Jahren wieder das ägyptisch-sowjetische Handelsvolumen. Die »Iswestija« kritisierte Sadats »Liebäugeln mit dem westlichen Kapital«.

Die Beiruter Zeitung »Safir« behauptet, Moskau dränge die Ägypter, die von Sadat aufgehobenen Restriktionen für ausländische Banken wieder einzuführen. Angeblich wolle die UdSSR Ägypten bei der Ausbeutung der noch von Israel besetzten Ölquellen bei Abu Rodeis auf dem Sinai unterstützen, Sadat aber habe sich für den US-Konzern Phillips entschieden. Amerikanische Firmen investierten schon 65 Millionen Dollar für Ölbohrungen in Ägypten. Am Freitag erneuerte Washington sein Angebot, Kairo einen Atomreaktor zu liefern.

Sadat erkannte zudem selbst -- und sprach es öffentlich aus -, daß »nur die USA fähig sind, Israel zum Ruck-Zug zu zwingen«. Er hält deshalb allen Lippenbekenntnissen zum Trotz das Kissinger-Konzept der schrittweisen Zweier-Lösungen zwischen Ägypten und Israel, Syrien und Israel sowie Jordanien und Israel noch immer für realistischer als die von den Russen geforderte Wiederaufnahme der Genfer Konferenz, auf der alle am Nahostkrieg beteiligten Staaten, die Palästinenser, Washington und Moskau vertreten wären. Denn dort würden die Radikalen den Ton angeben, jedem arabischen Teilnehmer würde es schwerfallen, Konzessionen zu machen.

Der ägyptische Präsident telephonierte auch in den letzten Monaten noch mindestens zweimal wöchentlich mit Kissinger. Er ließ angeblich sogar durchblicken, daß Israel vor Breschnews Besuch besser keine zusätzlichen Regelungsvorschläge machen sollte, wohl weil er befürchtete, dann werde sein Gast ihn drängen, abzulehnen. Breschnew zog es vor, einen so schlecht vorbereiteten Besuch lieber gar nicht erst anzutreten. Er ist, wie Moskau-Kenner glauben, nicht physisch krank, sondern steht innenpolitisch unter verschärftem Druck.

Jedenfalls gibt die Verschiebung des Besuchs Henry Kissinger noch einmal eine Chance, seine Verhandlungsdiplomatie fortzusetzen -- was die Israelis allerdings mit gemischten Gefühlen sehen: Amerika, so fürchten sie, werde nun, da Israel nicht mehr auf die übermächtige Einheitsfront zwischen Moskau und den Arabern verweisen kann, verstärkten Druck auf den Judenstaat ausüben, die besetzten arabischen Gebiete schnell zurückzugeben.

Die »Washington Post« äußerte sich schon im Klartext: »Wir sehen nicht, wie eine ägyptische Regierung die bescheidenen Rückzugspläne akzeptieren kann, über die Jerusalem bislang öffentlich nachdachte.«

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