Erwin Hagedorn aus Eberswalde bei Berlin war 16 Jahre alt, als er im Blutrausch Henry und Mario tötete, zwei Neunjährige. Obwohl mehr als 200 Kriminalisten nach dem Täter fahndeten, blieb er lange unentdeckt. Am 9. Oktober 1971, zwei Jahre später, kam es wieder über ihn. Auf einer Waldlichtung erstach er den elfjährigen Ronald, zerstückelte ihn und verging sich an der Leiche. Als man Hagedorn endlich fing, wirkte er erleichtert.
Im Namen des Volkes verurteilte das Bezirksgericht Frankfurt/Oder den 18jährigen zum Tode. Das Oberste Gericht der DDR bestätigte den Schuldspruch. Ein Gnadengesuch der Eltern blieb unbeantwortet. Am 15. September 1972 wurde Erwin Hagedorn hingerichtet, gerade 19 Jahre alt.
Die Exekution erfolgte durch Erschießen, ganz so, wie es das Gesetz befahl. Bis Juli 1987 galt in der DDR die Todesstrafe, und sie trug, indem sie der »Sicherung und dem zuverlässigen Schutz unseres souveränen sozialistischen Staates, der Erhaltung des Friedens und dem Leben der Bürger« diente, einen »humanistischen Charakter«.
Den Henker bekam der junge Mann nicht zu Gesicht. In einem dunklen Trakt der Strafvollzugsanstalt Leipzig trat der Scharfrichter von hinten leise an das Opfer heran und schoß ihm mit einer Pistole in das Genick. Das nannte man in der Vollstreckungsordnung einen »unerwarteten Nahschuß in den Hinterkopf«. Der Henker trug die Uniform eines Polizei-Offiziers. Im Erschießen hatte er Routine, denn das kam immer mal wieder vor.
Streng legal, »justizförmig«, wie es im Jargon der Juristen heißt, sind in der Deutschen Demokratischen Republik seit 1949 mindestens 170 Menschen vom Leben zum Tode gebracht worden. NS-Kriegsverbrecher, Spione, Diversanten, Saboteure, Terroristen, Treubrecher, Hochverräter, Mörder und Kindesschänder. Anfangs waren 33 Straftatbestände todeswürdig, seit 1968 nur noch 21; bei manchen Delikten reichte die »Androhung des Waffengebrauchs«, und der Kopf war verloren.
Er fiel durch die Guillotine, die in der DDR »Fallschwertmaschine« hieß. Sie war drei Meter hoch, stand erst in Frankfurt an der Oder, dann in Dresden, zuletzt in Leipzig. Sie funktionierte schlecht, hin und wieder klemmte das Beil auf halbem Weg. Deshalb entschied sich die Partei- und Staatsführung 1968 für den Genickschuß, ein moderneres Verfahren.
Im Leipziger Gefängnis, einem grauen Bau aus alten Zeiten, wurde Anfang der sechziger Jahre die zentrale Hinrichtungsstätte der DDR eingerichtet. Sie war so geheim und so perfekt getarnt, daß ihre Existenz bis heute den Leipzigern _(* Bei der Jugendweihe, fünf Jahre vor ) _(seiner Hinrichtung. ) nicht einmal gerüchteweise bekannt ist. Selbst die Gefangenen der Strafvollzugsanstalt und ihre Wärter merkten 30 Jahre lang nichts von dem Todestrakt in ihrem Haus.
Vom Leben zum Tode gebracht wurden die Delinquenten in einem ebenerdigen Trakt, sechs ineinanderübergehenden Räumen. Die Hinrichtungsstätte war von außen durch einen unauffälligen Eingang zu erreichen. Und von innen, vom Gefängnis her, durch eine Tür, die nach außen zu führen schien und immer fest verschlossen war. In diesem Niemandsland des Todes walteten sechs, manchmal sieben Männer ihres Amtes. Die Henkersarbeit hieß »Verwirklichung«, nicht »Vollstreckung«, Verwirklichung des Todesurteils.
Angeführt wurde das Kommando von Hugo Friedrich, dem Leiter des Strafvollzugs in Leipzig. Zur Hand ging ihm der Leiter seines Transportkommandos, der wiederum einen Helfer bei sich hatte. Aus dem Haftkrankenhaus Meudorf am Leipziger Stadtrand kam der leitende Arzt, von der Generalstaatsanwaltschaft in Berlin der Staatsanwalt Kurt Kunze angereist. Wenn ein Offizier der Stasi hinzurichten war, erschien auch noch ein Mann des MfS. Der Henker Lorenz blieb bis zuletzt im Dunkeln.
Alles funktionierte nach Plan und Dienstvorschrift. In Leizig waren nicht irgendwelche wildgewordenen Klassenkämpfer am Werk, sondern die verläßlichsten und verschwiegensten Beamten eines deutschen Staates. So ging es dann auch zu. Im Protokoll wurde, auf die Sekunde genau, vermerkt, wie lange die Prozedur dauerte, zwischen 15 und 22 Sekunden.
Es ist nicht ganz ungefährlich, um einen Mann herumzustehen, dem ins Genick geschossen wird. Wenn die Schädeldecke dünn ist, weil der Mann noch so jung wie Erwin Hagedorn oder schon so alt ist wie der Fregattenkapitän Winfried Baumann (erschossen am 18. Juli 1980), kann die Kugel die Schädeldecke durchschlagen oder aus der Augenhöhle austreten. Vor einem Querschläger fürchteten sich die Herren. Jeder hatte deshalb seinen sicheren Stammplatz. Man war ein erfahrenes Kollektiv.
Dem Todeskandidaten wurde vom Staatsanwalt mit einem knappen Satz die Ablehnung seines Gnadengesuchs mitgeteilt. Dann faßten die beiden Henkersknechte den Verurteilten an den Armen und führten ihn zum größten Raum des Todestraktes. Der ist hoch und neuerdings hell gestrichen. An den Wänden erkennt man Reste von Installationen. Im Fußboden ist ein Abfluß. Hier stand bis 1968 das Fallbeil. Das Blut der Geköpften floß in die Kanalisation.
Auf seinem letzten Weg passierte der Gefangene drei Männer, die mit dem Rücken zur Wand standen: den Staatsanwalt und den Vollstreckungsleiter, in der Mitte Henker Lorenz. Wenn die Tür zum leeren Hinrichtungsraum geöffnet wurde, der Verurteilte einen Moment stutzte und den Kopf erstaunt hob, vielleicht eine letzte Hoffnung spürte, trat der Scharfrichter von hinten heran.
Der Henker bemühte sich, die kalte Mündung seiner Pistole, eine 7,62iger, dem Hinterkopf des Opfers möglichst nahe zu bringen, aber die Haut dabei nicht zu berühren. Wer schreckhaft wegzuckt, stirbt nicht am ersten Schuß. Die Vorgabe, der Tod habe »unerwartet« zu erfolgen, ist nicht so einfach zu realisieren. Man gab sich aber Mühe. Die DDR kannte kein Sterbeläuten und keine Henkersmahlzeit. Man ließ keinen Pfarrer zu dem Verurteilten, erfüllte keinen letzten Wunsch, gestattete keinen Abschiedsbrief.
Ein grauer, fensterloser Transportwagen, Typ Barkas B 1000, fuhr den Todeskandidaten nachts oder im frühen Morgenlicht von seiner Haftanstalt, meist Berlin oder Torgau, nach Leipzig. Den Termin der Hinrichtung setzte das Ministerium des Inneren der DDR fest. Vier Staatsfunktionäre waren an der Entscheidung beteiligt: der Innenminister, Armeegeneral Friedrich Dickel, der Leiter der Abteilung Strafvollzug (Generalmajor Hans Tunnat, später Generalmajor Wilfried Lustig), eine Frau Hauptmann Körner, sie leitete das einschlägige Referat, und ihr Stellvertreter.
In den frühen Leipziger Jahren wurde, wie es der Tradition des staatlichen Tötens entspricht, morgens um vier Uhr vollstreckt. In der letzten Zeit machte man es sich kommoder, die Herren wurden ja auch älter. Nun galt zehn Uhr vormittags als angemessene Todesstunde.
In allem wirkte die von Robert Musil für jedwedes Beamtenhandeln konstatierte »virtuos ausgebildete Indirektheit« mit, eine Form der »sozialen Arbeitsteilung, in der sich nichts anderes ausdrückt als die alte Zweiteilung des menschlichen Gewissens in gebilligten Zweck und in Kauf genommene Mittel": Der eine verurteilt, der andere terminiert, der dritte führt vor, und ganz am Ende zieht Henker Lorenz den Abzug durch, dreht sich um und geht.
Den Tod hat jeweils ein Arzt der Volkspolizei bescheinigt. Sein Dienstherr erwartete falsche Angaben, und also erfüllte der Doktor die Erwartungen. Die Leipziger Totenscheine stecken voller Lügen. Angekreuzt wurde stets das Kästchen »natürlicher Tod«. Zusätzlich fabulierte der Arzt irgendwas von Diabetes, chronischen Lungenleiden, Herzversagen. Um die Spuren zu verwischen, wurde auch noch ein falscher Todesort angegeben. Erwin Hagedorn, der junge Kindesmörder, starb angeblich in Cottbus; der BND-Spion Winfried Baumann in Stendal.
Jede Hinrichtung stand unter der strengen Anweisung, den Gefangenen »nicht buchmäßig zu erfassen« und alle Unterlagen nach Berlin zu verbringen. So sind die Getöteten die einzigen Leipziger Gefangenen, die dort in keiner Akte eine Spur hinterlassen haben (was etwas heißen will in der bürokratischen DDR). Man fuhr sie als Namenlose im grauen Barkas in das Henkerhaus und dann als namenlose »Anatomieleiche« zum Krematorium des Leipziger Südfriedhofs.
Den Sarg, Fichte einfach, bestellte der Gefängnisleiter telefonisch zwei Tage vorher. Auch hierbei sollte kein »Vorgang« entstehen. Alle Kosten der Hinrichtung beglich das Kollektiv aus der Brieftasche, auch die Gebühr für die Verbrennung und die Kopfprämie für den Henker und seine Knechte. Alles in allem summierte sich die »außerordentliche Strafmaßnahme« zwecks »Unschädlichmachung solcher Personen, die schwerste Verbrechen gegen die Lebensinteressen des Volkes und des Bürgers begangen haben«, auf 700 bis 800 Mark.
Der letzte offiziell in Leipzig Hingerichtete starb am 26. Juni 1981. Er hieß _(* Rechts: Tür zum Gefängnishof. ) Dr. Werner Teske, war 39 Jahre alt und Hauptmann in der Hauptverwaltung Aufklärung (HVA) des Stasi, Sektor Wissenschaft und Technik.
Sein »schwerstes Verbrechen« bestand darin, dem Panzerschrank Akten entnommen und sie im Keller des Dienstgebäudes versteckt zu haben. Teske wollte, gestand er im (Geheim-)Prozeß, zum BND überlaufen. Die Aktenverlagerung galt als »vollendete Spionage im schweren Fall«, Teske folgerichtig als BND-Agent, obwohl die Pullacher von ihrem neuen Mann überhaupt nichts wußten.
Staatsratsvorsitzender Erich Honecker lehnte einen Gnadenerweis ab. Er wollte sich wohl nicht mit Mielke anlegen. Werner Teske mußte in den grauen Barka steigen. Bei kriminellen Tätern hat Honecker von seinem Gnadenrecht großzügig Gebrauch gemacht. Der letzte Mörder wurde 1975 gerichtet. »Der Mann ist doch krank. EH« steht auf einer Gnadenakte, die einem Sittlichkeitsverbrecher das Leben schenkte.
»Ich weiß nicht, warum sie meinen Sohn nicht begnadigt haben«, sagt Erwin Hagedorns Mutter. Sie mußte aus ihrem Heimatort fortziehen, ist schlohweiß geworden, wurde mit 54 Jahren invalidisiert. Erwin war ihr einziges Kind. »Sie haben gesagt, er ist nicht krank.« Wo er begraben liegt, weiß sie nicht.
Auch die anderen Toten haben kein Grab. Nach dem Kopfschuß ließen die Henkersknechte den Mann vornüber zu Boden fallen, das Gesicht in Richtung Abfluß. Die Blutung ist meist nicht erheblich, obgleich das Herz bis zu 15 Minuten nach der Hinrichtung weiterschlägt. Weil manchmal Gehirnmasse ausläuft und Urin und Kot abgehen, war der Sarg mit Plastikfolie ausgelegt. Gewöhnlich nehmen Henker dafür Sägemehl, aber das gab es in Leipzig nicht.
Alle Herren, die an der Verwirklichung teilhatten, haben die Wende gut überstanden. Die Generäle Dickel, Lustig und Tunnat wohnen, wie eh und je, in ihren Villen am südöstlichen Stadtrand Berlins.
Sie verschafften in der DDR geltendem Recht und Gesetz Genüge, wollen darüber aber nicht reden. General Tunnat, sagt seine Frau am Gartenzaun, sei ohnehin verstimmt, weil er gehört habe, daß die Pensionen der DDR-Generalität von Bonn gekürzt werden sollen; ein haltloses Gerücht.
Henker Lorenz sitzt im Rollstuhl. Sein Vorgänger, der noch das Fallbeil bediente, ist als Rentner nach Westdeutschland übergesiedelt, niemand fragt, wohin.
Zu Modrows Zeiten begann die Leipziger Gefängnisleitung, die Richtstätte schnell noch in ein Küchenlager umzubauen. Auch in Frankfurt/Oder ist der Todesort nun Großküche. Die neue Leipziger Gefängnisdirektorin, eine Schwäbin, hat den Umbau aus Pietät erst einmal gestoppt: »Es ist ja noch gar nicht raus, wer da sonst noch alles umgebracht wurde.« Ihr Beisitzer, ein altgedienter Kader, zuckt zusammen.
Wenn nämlich außer den justizförmigen, zwar konspirativen, aber eben doch legalen Tötungen heimlich auch noch andere Menschen von Amts wegen umgebracht worden sind, dann wäre das Mord - mit allen Konsequenzen für die Täter. Im Krematorium halten die Heizer das für möglich. Wer die Feuerungsstätte kenne und einen Schlüssel habe, der könne nachts ohne weiteres einen Toten in Rauch aufgehen lassen, die Öfen sind ja immer heiß.
Die Herren vom Exekutionskommando brachten den festvernagelten Fichtensarg in ihrem Barka zum Krematorium, immer pünktlich zur vorher festgelegten Stunde. Sie warteten geduldig, bis man ihnen die Urne übergab. Später entleerten sie das Gefäß in den Sand eines Baustofflagers. Die Asche ist vermauert worden.
* Bei der Jugendweihe, fünf Jahre vor seiner Hinrichtung.* Rechts: Tür zum Gefängnishof.