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UMWELT Nase vorn

Industrieabgase haben Mannheim in den Ruf einer »Stinke-Stadt« gebracht. Jetzt kartographieren die Mannheimer die Geruchsbelästigungen -- mit Hilfe von Schnupperern.
aus DER SPIEGEL 10/1979

Jeden Abend, zumeist nach 22 Uhr, geht der Hausmeister Willi Ziegler im Mannheimer Stadtteil Sandhofen noch einmal mit seinem Dackel vor die Tür, und in aller Regel tut der Herr, was sein Hund ohnedies nicht lassen kann -- er schnuppert. Ziegler rümpft mehrmals absichtsvoll die Nase und prüft »ganz konzentriert«.

Meist liegt was in der Luft. Mal etwas Scharfes, Stechendes, das an Salmiak erinnert, mal ein schwer definierbarer süßlicher Duft, der kaum wahrzunehmen ist, dann wieder stinkt es unverkennbar und penetrant nach faulen Eiern. Was auch immer zu riechen ist, der nächtliche Spaziergänger schaut jeweils auf die Uhr und vertraut seine Duftwahrnehmungen »auf die Minute genau« einem »Geruchstagebuch« an.

Wie Ziegler schnuppern regelmäßig 84 weitere Bürger Mannheims. Fünfmal am Tag befolgen sie eine schriftliche Unterweisung, »die Luft in Form eines kurzen Schnüffelns durch die Nase zu ziehen«. Seit Januar führen sie Buch über die Geruchsbelästigungen ihrer Stadt -- eine unkonventionelle Umweltkontrolle, die nach einem etwas anderen Schema auch im Ruhrgebiet ausgeübt wird.

So läßt das Medizinische Institut für Lufthygiene und Silikoseforschung in Düsseldorf in jedem Jahr drei Monate lang einen Laborwagen mit Testriechern durch die Smoglandschaft an Rhein und Ruhr fahren. Die Angaben über das Gerochene, nach einer speziellen Empfindlichkeitsskala aufgelistet, werden dann mit den Ergebnissen entsprechender Umfragen unter der Bevölkerung verglichen. Bei diesem Doppeltest wird ruchbar, daß die Luft über der Ruhr immer noch dick ist. Im Großraum Duisburg etwa, kommentiert das Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales die Schnüffelwerte, sei es »eher untypisch«, wenn es nicht stinkt.

Als erste westdeutsche Großstadt aber will Mannheim mit Hilfe der Schnupperer ein komplettes Duftbild erstellen, ein Geruchskataster: Auf einer geographischen Karte im Maßstab 1:15 000 soll vermerkt werden, wann, wo und wie stark es bei unterschiedlichen Wetterlagen in der Stadt und im Umland riecht.

Die kommunalen Behörden hoffen, auf diese Weise genauen Aufschluß darüber zu gewinnen, wer jeweils den Gestank verursacht -- Ansatzpunkt für Verhandlungen mit den Chemiefirmen; zum anderen wollen sie Konsequenzen für die Bebauungspläne ziehen.

Die Idee zur Luftüberwachung war in der städtischen Arbeitsgruppe Umweltschutz aufgekommen »Wir wollten wissen«, sagt deren Vorsitzender Bernhard Irmisch, »was an den Beschwerden aus der Bevölkerung dran ist.« Bis zu zwanzigmal am Tag pflegten sich Bürger unter der eigens dafür eingerichteten städtischen Nummer 293 32 17 telephonisch über Geruchsbelästigungen zu beschweren.., Uns hängt eben das Image einer Stinke-Stadt an', sagt Mannheims Bürgermeister Niels Gormsen, und er weiß auch, warum: »weil Mannheim eine besonders geruchsintensive Industrie« hat. An die vier Dutzend größere Chemie- und Nahrungsmittelwerke haben sich im Laufe der Jahre am Zusammenfluß von Rhein und Neckar angesiedelt -- eine überproportionale Ballung von »stinkenden Riesen«, wie die Mannheimer die Fabriken nennen, und von jenseits des Rheins macht sich, insbesondere bei Westwind, der allergrößte bemerkbar, der in Ludwigshafen ansässige Chemieriese BASF.

Wenn kein Windhauch Bewegung in die Schwaden bringt, verstärkt sich die Geruchsbelästigung, und prekär wird es etwa 20mal im Jahr, wenn sich eine Kaltluftschicht über die warme Luft am Boden schiebt -- eine Umkehrung (Inversion) der sonst üblichen Luftverteilung mit spürbaren Folgen für jedermann: Die Abgase sind wie in einer Glocke gefangen.

»Wenn ich mit dem TEE durch diese Stadt komme, spüre ich den Gestank durchs geschlossene Fenster«, berichtet der Präsident der Karlsruher Landesanstalt für Umweltschutz, Helmut Prassler, den es denn auch mit Genugtuung erfüllt, daß Mannheim ein Geruchskataster erstellen läßt: »Endlich mal eine Stadt, die eine vernünftige Überlegung anstellt.«

Planung und Überwachung des Riechprogramms übernahm die ortsansässige Firma Ökoplana, ein Büro für »Lufthygiene, Klima-Ökologie und Umweltplanung«. Ökoplana unterhält 15 Klimastationen und hat für die 85 menschlichen Spürnasen einen Fragebogen ausgearbeitet. »Kein Meßgerät«, sagt Firmenchef Richard Seitz, ein Klimatologe, »kann soviel leisten wie die menschliche Nase.«

Der riechende Mensch, so sieht es der Klimatologe, ist vor allem aus zwei Gründen der Technik um eine Nasenlänge voraus: Er vermag besser als GeMit den Standorten der Riecher.

räte zu differenzieren, wenn sich Gerüche aus einer Vielzahl von Einzelstoffen bilden; und im Gegensatz auch zu hochentwickelten wissenschaftlichen Instrumenten spricht der menschliche Geruchssinn schon auf geringste Konzentrationen geruchsbelästigender Stoffe an. Ein Parfümeur wie der Franzose Jean-Paul Guerlain behauptet, zwischen 1000 verschiedenen Duftstoffen unterscheiden zu können.

Freilich, die Wahrnehmungsqualitäten sind von Mensch zu Mensch verschieden. Eine Untersuchung des britischen Wissenschaftlers Moncrieff ergab, daß die Einstellung zu Gerüchen von »Alter, Geschlecht oder Temperament abhängig« ist. Am besten schnuppert es sich laut Moncrieff zwischen dem 25. und 40. Lebensjahr.

In Mannheim kamen nur Riecher zwischen 20 und 60 in die engere Auswahl, als das Programm im November 1978 anlief. Bei der Kandidatensuche wurden Bürger bevorzugt, die möglichst 24 Stunden an ein und demselben Ort die Nase in den Wind halten können, Hausfrauen etwa, Hausmeister oder Freiberufliche.

Diese Anwärter wurden dann dreimal von Ökoplana-Mitarbeitern aufgesucht und jeweils gebeten, doch mal vor ihrem Haus zu schnüffeln und das Gerochene zu qualifizieren. Wer keine Geruchsbelästigung ausmachen konnte, weil er sich, so Seitz, »vielleicht schon an den dauernden Gestank gewöhnt hat«, schied aus. Auch von den anderen, die weitere Tests im Chemielaboratorium absolvieren, scherten nach zwei Probemonaten einige aus -- freiwillig.,, Die haben«, meint Seitz, »nicht gewußt, daß es auch Arbeit ist, fünfmal am Tag bewußt zu riechen.«

Die noch dabei sind, führen ihr Geruchstagebuch »aus Idealismus«, wie der Bürgermeister sagt. Sie erhalten 40 Mark im Monat, pro Nase, versteht sich.

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