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DDR / FLÜCHTLINGE Nasse Grenze

aus DER SPIEGEL 43/1969

Am Ostseestrand bei Wustock nahe Rostock streifte der Ost-Berliner Techniker Manfred Burmeister, 28, in der Nacht zum vorletzten Sonntag einen Taucheranzug über und trug ein U-Boot-ähnliches Schleppfahrzeug ins Wasser, das er sich aus einem 3,5-PS-Motor, einer kleinen Schiffsschraube und einem Tank gebastelt hatte. In etwa einem halben Meter Tiefe an den Haltegriff des Schleppers geklammert, untertauchte Burmeister das Sichtfeld der DDR-Radarbeobachter und Küstenwachtposten und ließ sich hinaus auf See ziehen -- Richtung Norden. Nach rund sechs Stunden wurde er von der Besatzung des dänischen Feuerschiffes »Gedser« aufgenommen.

Beim mecklenburgischen Wismar bestiegen am Abend des 6. September ein Hafenarbeiter, 19, ein Speditionskaufmann, 21, und ein Maler, 23, ein Schlauchboot, das sie mit schwarzen Tüchern getarnt hatten. Trotz zeitweiliger Verfolgung und Beschuß durch ein DDR-Wachfahrzeug schafften die drei jungen Männer die 40-Kilometer-Distanz bis zur holsteinischen Seite der Lübecker Bucht. Nach sechs Stunden Fahrt schrammte das von einem Außenborder getriebene Gummiboot auf den Strand des Ostseebades Grömitz.

Bei Boltenhagen an der mecklenburgischen Küste stieg der Leipziger Rekordschwimmer Axel Mitbauer, 19, am 18. August kurz nach Mitternacht in die Ostsee und kraulte mit Kurs auf das Leuchtfeuer des bundesdeutschen Badeortes Pelzerbaken der DDR davon. Nach sechs Stunden, in denen er rund 20 Kilometer zurücklegte, erreichte Mitbauer die Fahrwassertonne 2 A in der Lübecker Bucht und kletterte auf das Seezeichen. Besatzungsmitglieder des Lübecker Fährschiffes »Nordland« bargen den Meisterschwimmer.

Der Fluchtweg über die Ostsee hat Tradition. Anfang 1945, als die Russen Ost- und Westpreußen überrollten, bot das Randmeer Hunderttausenden letztes Entkommen in den Westen; Hunderte nahmen die Route über See, seit Ulbricht im August 1961 in Berlin die Mauer bauen ließ.

Nach Schätzungen des Kommandos Küste beim Bundesgrenzschutz in Bad Bramstedt flüchteten seit dem Mauerbau »rund 1000« DDR-Bürger übers Meer in die Bundesrepublik, nach Dänemark oder Schweden -- obwohl Ulbrichts Seegrenzschützer insbesondere für die Strände an Lübecker und Mecklenburger Bucht ein nächtliches Bade- und Spaziergangsverbot verhängten, obwohl die Sportboot-Klubs größtenteils längst von der Küste an Binnengewässer verlegt wurden, obwohl schließlich ein engmaschiges Netz von Radarketten und Beobachtungsposten den gesamten DDR-Küstenbereich überzieht.

Die Flüchtlinge pullten mit Ruder- und Schlauchbooten über die offene See, sie sprangen von DDR-Passagierschiffen und -frachtern, sie kamen schwimmend mit Gummianzug und -flossen, mit selbstgebastelten Wasserfahrzeugen, ließen sich -- wie 1961 der Mecklenburger Erhard Müller -- auf Luftmatratzen westwärts treiben:

* Wie der Ost-Berliner Burmeister ließ sich der Dresdner Bernd Böttger, 27, im September 1968 unter Wasser von einem selbstgebauten Tauchgerät bis zum Feuerschiff »Gedser« schleppen.

* Matrosen des deutschen Fährschiffes »Nils Holgersson« fischten im August letzten Jahres einen jungen Mann aus der Lübecker Bucht, der fünf Stunden zuvor mit einem selbstgemachten Taucheranzug und einem Rettungsgürtel in Mecklenburg losgeschwommen war.

* Im April 1968 sprang nachts im Fehmarnbelt ein Passagier des DDR-Kreuzfahrtschiffes »Völkerfreundschaft« in die See. Er wurde von der Besatzung des Bundesmarine-Torpedofangbootes »Najade« geborgen.

* Mit einem Faltboot paddelte im Sommer 1963 ein Ehepaar von Wismar zum bundesdeutschen Süssau. Ebenfalls in Faltbooten flohen im März 1962 der ehemalige Volksmarine-Korvettenkapitän Klaus-Joachim Günther, eine Krankenschwester und ein Student; nach mehrstündigem Paddeln bei Windstärke fünf und dichtem Schneegestöber wurden sie von zwei westdeutschen Frachtern aufgenommen.

* Auf dem Schlauch eines Traktorreifens gelang im September 1963 einem Ost-Berliner Studenten die Seereise von Mecklenburg bis zur dänischen Insel Falster; im August desselben Jahres zogen dänische Seeleute einen Jugendlichen aus der Mecklenburger Bucht, der auf einer Luftmatratze die nasse Grenze überwunden hatte.

Nach Meinung des Grenzschutzhauptmannes Reinhard Jeschke vom Bundesgrenzschutzkommando Küste grenzt »das Vertrauen in die Hilfsmittel«, mit denen sich DDR-Bürger im, unter oder auf dem Wasser Kurs westwärts begeben, zumeist »an eine Art wundertätigen Glauben«. Denn außer der Gefahr, von Ulbrichts See-Patrouillen aufgebracht zu werden, droht den Faltboot- und Luftmatratzenfahrern, den Langstreckenschwimmern und Hochseeruderern Schiffbruch, Ertrinken und Tod durch Unterkühlung. Jeschke kann sich denn auch bohne weiteres vorstellen, daß die Flüchtlingszahl höher wäre, wenn allen die Flucht über das Wasser geglückt wäre«.

Hinweise auf die Zahl der Fluchtversuche, die durch Sturm und Wellenschlag, Kälte und die Unzulänglichkeit der meisten Fluchtfahrzeuge tödlich enden, gibt es nicht -- bis auf die Leichen und vollgeschlagenen Boote, die bisweilen an die Küsten treiben.

So wurde vor sechs Jahren auf Klippen westlich von Helsinki ein auf geschlitztes Faltboot gefunden; Proviant und Kleidungsstücke deuteten darauf hin, daß die verschollene Besatzung aus der DDR kam.

Im Februar letzten Jahres wurden aus der Pötenitzer Wiek, einer seeartigen Erweiterung der Trave kurz vor der Mündung in die Lübecker Bucht, die Leichen der DDR-Flüchtlinge Hans-Georg Steinhagen, 19, und Manfred Kerbstat, 18, geborgen. In einer Winternacht waren die beiden Mecklenburger auf ihren Luftmatratzen erfroren.

Die Chance, heil über die Ostsee von Deutschland nach Deutschland zu kommen, ist nach dem Urteil von westdeutschen Seegrenzschützern »fifty-fifty«. Anders: Von zwei Flüchtlingen, die Im Osten starten, kommt nur einer durch.

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