BERLIN / DDR-TRANSIT Neben der Sache
Am Dienstag letzter Woche, bei der vierten Sondierungsrunde der deutschen Staatssekretäre Egon Bahr (West) und Michael Kohl (Ost), drängte der DDR-Emissär zum vierten Mal.
Zwei Tage später -- an den Kontrollpunkten der Berlin-Autobahnen ließen DDR-Grenzer Lastzüge wie Personenwagen zu kilometerlangen Schlangen auffahren und verwehrten freidemokratischen Abgeordneten die Durchfahrt zu einem FDP-Parlamentariertreffen in der Halbstadt -- meldete sich Ost-Berlin erneut.
Vor dem SED-Zentralkomitee erinnerte Politbürokrat Bermann Axen an einen nun schon drei Monate alten DDR-Wunsch. Er verlangte von Bonn Verhandlungen über den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages »zur Regelung des gegenseitigen Transits von Personen und Gütern«.
Doch die Chancen für »den Abschluß eines zwischendeutschen Transitvertrages, in dem nach SED-Vorstellungen auch der Berlin-Verkehr geregelt werden muß, sind nach wie vor gering: Die Völkerrechtler beider Staaten haben in den letzten Jahren Positionen aufgebaut, die heute gegensätzlicher sind als je zuvor. Und geht es nach ihrem Willen, dann dürfen Bahr und Kohl noch nicht einmal Kompromißlösungen ausarbeiten.
Denn akzeptiert der Westen wesentliche DDR-Forderungen, verletzt Bonn -- nach Ansicht westlicher Rechtskundiger -- alliiertes Recht, Geht Ost-Berlin auf Bonner Bedingungen ein, verzichtet die DDR so argumentieren DDR-Juristen -- auf wesentliche Teile ihrer Souveränität.
Die westlichen Argumente: Der Anspruch auf freien Zugang zur Halbstadt beruht auf dem originären Siegerrecht der Alliierten, das zudem durch eine Reihe von Absprachen der ehemaligen Anti-Hitler-Koalition abgesichert worden ist, beispielsweise durch das sogenannte Jessup-Malik-Abkommen, mit dem 1949 die Blockade West-Berlins beendet worden war, Die Sowjets haben diese Souveränität weder bei der Gründung der Ost-Republik noch 1955 an Ost-Berlin übertragen, als die DDR mit dem Abschluß des ostdeutsch-sowjetischen Vertrages der Besatzungsmacht gegenüber souverän wurde.
In Transit-Verhandlungen zwischen Ost- und Westdeutschen dürfen mithin allenfalls technische Fragen geregelt, keinesfalls aber Rechte der DDR über ihre Zufahrtswege anerkannt werden: »Forderungen nach Verhandlungen deutscher Stellen mit der DDR«, postulierte daher ein Verkehrsexperte des West-Berliner Senats, »liegen neben der Sache und sind höchstens geeignet, die Rechtslage zu verwischen.«
Die östlichen Argumente: Ein aus Sieger-Rechten resultierender Anspruch auf Zugang existiert nicht. Die Alt-Alliierten haben es überdies versäumt, den Zutritt der Westmächte zu ihren Berliner Sektoren zu regeln -- etwa in der Art der bereits 1945 zwischen Großbritannien und den USA getroffenen Vereinbarung über den Zugang der Amerikaner durch die britische Zone zum amerikanisch ockupierten Bremerhaven. Der ostdeutsche Staat dagegen hat durch die Gründung der DDR und ihren Vertrag mit der Sowjet-Union im Jahre 1955 seine volle Souveränität erlangt, auch über die Zufahrtswege nach West-Berlin.
Wenn die DDR trotz fehlender Verträge Transit gewährt, dann bedeutet das aus DDR-Sicht keinesfalls eine Hinnahme der westlichen Rechtsdeutung, sondern ist vielmehr der »sichtbare Ausdruck des außerordentlichen Entgegenkommens der Deutschen Demokratischen Republik im Interesse der Sicherung des Friedens«.
Vertragliche Vereinbarungen der Bundesregierung oder des Senats von West-Berlin mit dem Arbeiter-und-Bauern-Staat können mithin nur auf der »Achtung seiner Souveränität, einschließlich seiner Abgabenhoheit. seiner Gesetze und legitimen Interessen« basieren (DDR-Völkerrechtler Alfons Steiniger).
Hilfe bei der Formulierung eines Elements ihrer Rechtskonstruktion erfuhren die DDR-Völkerrechtler von einem westdeutschen Kollegen. Bei einem Besuch in der Hamburger »Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht« hatte der Hallenser Rechts-Professor Gerhard Reintanz im Sommer 1966 den Hamburger Assistenten Dr. Dieter Schröder kennengelernt.
In Schröders Arbeitszimmer entdeckte der Gast Material für Schröders Studie über das Recht von Binnenstaaten auf freien Zugang zum Meer. Der Professor bat -- im Interesse seiner Doktoranden -- um Thesen wie Unterlagen. Schröder willigte ein.
Später erzählte Reintanz, woran sein Schüler arbeitete -- an einer Dissertation über »Die rechtliche Gestaltung des Personen-, Güter- und Nachrichtenverkehrs der selbständigen politischen Einheit West-Berlin von und nach der Bundesrepublik durch das Hoheitsgebiet der DDR«.
Was Schröder erkannt hatte, die Nichtexistenz eines »natürlichen Rechts« von Binnenstaaten auf freien Zugang zum Meer, nutzte Reintanz-Doktorand Gunter Görner als Baustein für seine Beweisführung, Zwar, so argumentierte der Nachwuchsjurist, sei West-Berlin kein Völkerrechtssubjekt und daher auch kein Binnenstaat. Da sich aber die DDR dazu entschlossen habe, »West-Berlin als selbständige politische Einheit zu betrachten«, und die Situation der Halbstadt zudem Analogien zur Lage von Binnenstaaten zeige, habe die DDR -- bei Wahrung ihrer territorialen Souveränität -- dem West-Berliner Senat ein völkerrechtlich verbindliches Transit-Abkommen angeboten.
Ein, so Görner, »großzügiges Angebot«, denn West-Berlin sei eben weder Völkerrechtssubjekt noch Binnenstaat und könne daher auch nicht -- wie normale Binnenstaaten -- Ansprüche auf »gleichberechtigte Verhandlungen mit Durchgangsstaaten über den Abschluß von konkreten Transit-Abkommen« geltend machen,
Überdies erläuterte der Jurist, was ostdeutsche Völkerrechtler in »völkerrechtlich verbindlichen« Transit-Abkommen mit der Bundesrepublik und West-Berlin vor allem anerkannt wissen wollen: die auf der »Pflicht eines jeden Staates zur Aufrechterhaltung und Sicherung des Friedens beruhende Rechtspflicht (der DDR) zur Unterbindung des Transits für aggressive Zwecke«. Klartext: Das Recht, Bonner Ministern, Bundesbeamten, NPD-Mitgliedern sowie »anderen Personen, die als Hauptverantwortliche die völkerrechtswidrige, aggressive Politik der Alleinvertretungsanmaßung fördern, die Durchreise nach West-Berlin zu untersagen«,
Derlei Erkenntnisse verschafften dem jungen Gelehrten -- Görner-Helf er Schröder über die Arbeiten seines Ost-Kollegen; »Nun gibt es auf beiden Selten eine verbindliche Sprache« -- die Aufmerksamkeit seiner Staatsmacht. Der Ministerrat holte den Fachmann nach Ost-Berlin in Otto Winzers Außenamt, und seit Jahresbeginn gehört Gunter Görner zur Delegation des Staatssekretärs Kohl. Arbeitsgebiet: Berlin-Transit.
Völkerrechtler Schröder, der sich seit 1967 gleichfalls auf die Transit-Problematik spezialisiert hat, tat es Görner gleich. Er übersiedelte aus der Wissenschaft in die Politik und zog als Referent für internationale Fragen nach West-Berlin in die Schöneberger Senatskanzlei. Arbeitsgebiet: Berlin-Transit.