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»NEBENAN IST BIBELSTUNDE«

aus DER SPIEGEL 29/1970

Im Seminarraum F des West-Berliner Otto-Suhr-Instituts (OSI) der Freien Universität ließen sich im Sommersemester 1970 jeden Dienstag von 11.00 c.t. bis 12.45 Uhr etwa 50 Studentinnen und Studenten von dem Diplom-Politologen Ulrich Jürgens, 27, in die Wissenschaft von der Politik einführen.

Die Teilnehmer hatten »homogenes Bewußtsein« (Jürgens) und homogenen Habitus: zumeist langmähnig, bärtig, in Jeans und Pullis. Sie sagten »du« und »Genosse« zueinander, und manche nahmen sich vor, »später radikal ändernd tätig zu werden« (so ein Jürgens-Hörer).

Der Politologe Jürgens umriß, was er vom Studium im allgemeinen und seiner Übung im besonderen hielt: »Das Studium auf Scheine auszurichten ist völliger Wahnsinn. Das würde ja bedeuten, daß ihr die Ergebnisse des Studiums für den kapitalistischen Verwertungsprozeß haben wollt.«

Ihm »stinkt das Formale«. Er will das »Lehrer-Schüler-Verhältnis abbauen« und auf »repressives Zensurengeben verzichten«. Die Teilnehmer forderte er auf, »Gruppen-Solidarität zu entwickeln« ("Sonst bleibt das alles formal").

Jürgens-Schüler entschlossen sich für das Studium der Politologie« um -- wie einer sagte -- »die Machtverhältnisse in der Bundesrepublik zu analysieren«; um, so ein anderer« »die Grenzen der Unterbutterung« durch den westdeutschen Kapitalismus auszumachen; um, so ein dritter, »jetzt gleich in eine Kader-Organisation zu gehen«. Ein vierter will »vielleicht in der Verwaltung einen stinklangweiligen Job übernehmen« und Revolution nach Feierabend machen.

Im Hörsaal B des West-Berliner Otto-Suhr-Instituts (OSI) der Freien Universität ließ sich im Sommersemester 1970 jeden Freitag von 13.00 c.t. bis 14.45 Uhr ein knappes Dutzend Studenten und Studentinnen von dem Historiker Dr. Helmut Wagner, 40, über »Das deutsche Dilemma« unterrichten. Die Teilnehmer waren kurzmähnig, bartlos, trugen Schlips und Kragen. Sie sagten »Sie« und »Herr« zueinander, und manche nahmen sich vor, später Lehrer zu werden. Historiker Wagner ("Ich setze immer bei Bismarck an">:« Ich will Ihnen was geben, das Sie mit nach Hause nehmen können.«

Die Studenten bekamen reichlich -- Zitate, tröstende und erhebende, von Schiller ("Wenn auch das Imperium untergegangen, so bliebe die deutsche Würde unangefochten") wie von Goethe ("Zur Nation euch zu bilden, ihr hoffet es, Deutsche, vergebens"). Und Ernst Moritz Arndt lag nahe: »Das Vaterland lieber zu haben als Frau und Kind.«

Ein Wagner-Schüler mokierte sich darüber, daß der Historiker Friedrich Meinecke ("Die deutsche Katastrophe") den Nachkriegsdeutschen empfohlen hatte, »wie Holländer oder Schweizer zu leben«. Ihn hatte verblüfft, daß der Altmeister der deutschen Historiographie -- »nach 1945, natürlich aus Resignation heraus -- so wenig national gewesen ist«.

Derart unterschiedliche Lehrveranstaltungen kennzeichnen die Extreme des Wissenschaftsbetriebs am Otto-Suhr-Institut im Sommersemester 1970. An der einstigen Hochburg der westdeutschen Politologie haben sich seit dem Beginn der Studenten-Unruhen vor drei Jahren zwei Akademiker-Fraktionen herausgebildet: eine sozialistische und eine traditionalistische -- »Marx und Murks«, wie OSI-Politologe Hartmut Jäckel, 39, süffisant formuliert.

Im Sommersemester 1967 hatten sich nur zwei der 93 Vorlesungen, Seminare und Übungen mit Karl Marx und mit dem Marxismus beschäftigt. Im Sommersemester 1970 hingegen war bereits rund ein Viertel der über 140 Lehrveranstaltungen marxistisch orientiert. Und während 1967 sich ein bürgerlicher Dozent und ein sozialistischer Professor in die Marx-Deutung teilten, befaßten sich 1970 Marxisten selber mit der Verbreitung der Lehre des »größten Sohnes des deutschen Volkes« (Walter Ulbricht).

Die Marxisten beschäftigten sich mit dem »Konfliktbewußtsein von Arbeitnehmern« und den »Grundlagen marxistischer Wirtschaftslehre"« mit dem »Wandel in der Lehrerrolle« und »marxistischer Krisentheorie«, mit dem Rätesystem und der Bundeswehr.

Die Nicht-»Marxisten boten vorwiegend traditionellen Lehrstoff. So dozierten die Lehrstuhlinhaber über »Die deutsche Frage als Problem der internationalen Politik seit der Französischen Revolution« und den »Vertrag von Versailles« (beides Professor Georg Kotowski, 50), über die »Internationale Politik der afrikanischen Staaten« (Professor Franz Ansprenger, 43), über »Grundzüge und Entwicklung des bolschewistischen Einparteistaates« (Professor Richard Löwenthal, 62) oder »Die Linke in Europa in vergleichender Sicht« (Professor Gilbert Ziebura, 46). Nur der älteste der Ordinarien, Professor Gert von Eynern, 67, ließ sich, kurz vor der Emeritierung, Neues einfallen: Er untersuchte in seinem Seminar Möglichkeiten eines »linken Kapitalismus«.

»Bei uns läuft der Wissenschaftsbetrieb heute doch ganz normal«, urteilte OSI-Direktor Professor Hans-Hermann Hartwich, 41. Es ist die Normalität des für deutsche Hochschulverhältnisse noch Ungewöhnlichen: der Koexistenz von marxistischer Vehemenz und herkömmlicher Wissenschaft. Und das -- im Sommersemester 1970 -- ohne Rempeleien und Radau: nur ein Go-in -- bei Richard Löwenthal ("Ausdruck des Systems"), dem linke Studenten vorwarf en, daß er sich an der Gründung einer »kapitalistischen Gegenuniversität«, des privaten »Wissenschaftszentrums Berlin«, beteiligt hatte. Studenten-Slogan:« Zerquetscht das Ausbeuter- und Kriegsforschersyndikat.«

Freilich: Neue Unruhe gab es nur deshalb nicht, weil sich die beiden Lager gewähren ließen und Traditionalisten, um Harmonie und Ordnung besorgt, den Dualismus zwischen Marx und Murks zum normalen Pluralismus herunterspielten.

Das Schisma gedieh so weit, daß von den rund 1600 Politologie-Studenten (Haupt- und Nebenfach) festgefügte Fraktionen sich aus dem Lehrangebot vorwiegend das heraussuchten, was ihnen ins Weltbild paßte. Etwa gleich große Gruppen formierten sich um linke und liberale Lehrer.

Angehende Lehrer und Sozialkundler -- 850 von 1600 -- bevorzugten Vorlesungen, Seminare und Übungen von der linken bis zur rechten Mitte. Die Erstsemester zog es oft zu linken Veranstaltungen. So ließen sich von etwa 150 Anfängern etwa 120 von Marxisten in die Politologie einführen, nur rund 30 von einem Dozenten, der als konservativ eingestuft wird.

Zur Zeit scheint es, als würden radikale Jungsemester um so gemäßigter, je länger sie studieren -- je mehr Wissen sie verarbeiten. So sieht es auch FU-Präsident Rolf Kreibich (SPD), 31: »Das ist ein Durchgangsstadium« -- wohin, bleibt vorerst offen. Denn wie sich die neue OSI-Struktur, die solche Fraktionierung im Lehr- und Lernbetrieb möglich machte, auf Dauer bewähren wird, vermögen derzeit weder Linke noch Rechte vorauszusagen.

Diese Struktur resultiert aus den OSI-Statuten, die 1968 -- im Einvernehmen von Hochschullehrern, Assistenten und Studenten -- vorwegnahmen, was Hochschulgesetze später dekretierten:

* die Teilung der Macht zwischen Hochschullehrern, Assistenten, Studenten und Personalvertretern;

* die Entmachtung der Ordinarien und Gliederung des OSI in Facheinheiten, deren Lehr- und Forschungsvorhaben von Fachkommissionen beschlossen werden, in denen alle Gruppen vertreten sind. Fachkommissionen am OSI: »Theorie und Grundlagen der Politik« »Politische Ökonomie und Soziologie«, »Innenpolitik«, »Internationale Politik« und »Politische Pädagogik«.

Im Sommersemester 1968 hatten sich Lehrende und Lernende mit 780 gegen 20 Stimmen zu dem »dialektischen Produkt von Revolution und Reform« (OSI-Ordinarius Gilbert Ziebura) bekannt. Doch schon im Wintersemester 1968/69 klagte der Reformer und Sozialdemokrat Professor Alexander Schwan, linksradikale Jungakademiker hätten »von Anfang an gegen das von ihnen mitbeschlossene Mitbestimmungsmodell zugunsten einer autonomen, unkontrollierten Selbstbestimmung der Studenten« gearbeitet. Schwan folgerte, damit würde »auf längere Sicht die bisherige Ordinarien-Herrschaft lediglich durch studentische Alleinherrschaft abgelöst«.

Denn ungeachtet aufkommender Genossenkritik, die von einer »Revolution mit den berühmten 51 Prozent« (Agnoli) nichts wissen wollte, verschafften sich Repräsentanten sozialistischen Politologie-Verständnisses Zugang zu jenen Institutsgremien, die nach der Institutsreform am OSI über das Angebot von Lehrveranstaltungen und die Auswahl des Lehrpersonals befanden: zu den Fachkommissionen.

Sie schafften es »mit einem ganz einfachen Trick«, so der Sprecher der linksliberalen »Aktion Demokratisches OSI« (ADO), Hermann Riethmüller. Die »Sozialistischen Arbeitskollektive am Otto-Suhr-Institut« (SAKO), das Sammelbecken linksradikaler Studenten, beorderten ihre Genossen im letzten Wintersemester immer dann in sonst gemiedene Übungen und Seminare, wenn dort gerade über die Wahlmänner für die Wahl der Kommissionsmitglieder abgestimmt wurde.

Da laut Wahlordnung »auf je angefangene 20 Teilnehmer« jeweils ein Wahlmann entfiel, erreichten die SAKO-Trupps durch massierten Einsatz, daß ihre Favoriten fast überall gewählt wurden. Resultat: Bei der Wahl der Fachkommissions-Mitglieder durch die Wahlmänner siegten -- von wenigen Ausnahmen abgesehen -- die SAKO-Leute.

Ebenso erfolgreich schnitten auch die Genossen von der »Sozialistischen Assistenten-Zelle« (SAZ) bei den Wahlen ab. SAZ und SAKO stellten daher zusammen die Mehrheit in den zu je einem Drittel aus Studenten, Assistenten und Professoren bestehenden Fachkommissionen.

So konnten die Linken in diesen Kommissionen durchsetzen, daß die Marxisten im Sommersemester 1970 am OSI Terraingewinn verzeichneten. Sie bestritten Seminare, Übungen, wissenschaftliche Arbeitsgemeinschaften und Vorlesungen. Der nichtmarxistische Institutsrat« nach der OSI-Satzung befugt, die Kommissionsvorschläge abzulehnen, ließ die Linken angesichts der Marx-Baisse vergangener Jahre gewähren. Auch die Traditionalisten erkannten nun den »enormen Nachholbedarf in der Beschäftigung mit Marx« (Hartwich).

Heute bekämpfen OSI-Marxisten »das Ausbildungssystem des Kapitalismus« und plädieren für eine »klassenkämpferische Wissenschaft« -- so in einer von SAZ und SAKO herausgegebenen Broschüre.

Die Traditionalisten liberaler und konservativer Couleur werben für wissenschaftlichen Pluralismus, also für ein weites Spektrum politologischer Betrachtungsweise von links bis rechts. Freilich befürworten sie, Konsequenz des studentischen Aufbegehrens, vielfach einen Pluralismus aufgeklärter Art: »herrschaftsfrei« und »dialogisch«. Sie sind für die Einbeziehung des marxistischen Ansatzes, aber gegen einen marxistischen Studiengang mit monistischem Anspruch.

Marxisten »gehen davon aus«, so formulierte es Diplom-Politologe Gerhard Armanski, 28, »daß sich revolutionäre Intellektuelle Wissen aneignen« damit sie sich im Beruf mit dem Proletariat verbinden können«. Armanski: »Es ist von vornherein klar, daß hier parteiisch verfahren wird.«

Marxisten wie der aus den italienischen Dolomiten zugewanderte Assistent Johannes Agnoli, 45, halten Vorlesungen, »um Studenten auf Prüfungen vorzubereiten«; »um zu zeigen, wie man proletarisch die Theorie verwendet«; um »Studenten, die noch keine Genossen sind, sich sozusagen im Urzustand befinden, zu Genossen zu machen«.

Traditionalisten wie Hartwich ("Vor drei Jahren war ich viel weiter rechts") liefern Daten, Fakten und Interpretationen für Nichtgenossen und Genossen. Aber auch ihnen schwebt eine neue »emanzipierte, vernunftgesteuerte Gesellschaft« vor, so OSI-Assistent Egon Lodder (Linksparole: »Lodder ist Scheiße"). Doch gesellschaftspolitisch wirken wollen sie in der Universität nur indirekt. Lodder: »Wissenschaft aus einer Ecke, das wäre Politik und nicht Wissenschaft von der Politik.«

OSI-Marxisten wiederum sehen »das Schwergewicht« ihrer Argumentation im Hörsaal wie ihrer Agitation an der Basis im »proletarischen Kampf«. Sie geben den Studenten »'ne Perspektive« -- »damit ihr nicht dem Löwenthal anheimfallt«.

Sie suchen -- in der Jürgens-Übung -- Hilfstruppen für Herstellung und Vertrieb von Flugblättern ("Wir können da noch viele gebrauchen") und spaßen dialektisch wie Agnoli: »Nicht, daß wir sagen, wir ersetzen Stimmzettel durch Gewehrläufe, denn Gewehrläufe muß man ja erst haben.«

Sie halten -- wie Studenten in dem Seminar über »Bildungsökonomie« des profilierten Jung-Marxisten und OSI-Gastdozenten Elmar Altvater -- bürgerliche Theorien nicht nur für überlebt, oftmals weigern sie sich auch, den Leichnam zu sezieren.

Altvater, der ebenso wie seine an die 100 Seminaristen bürgerliche Bildungskonzepte »als unsinnig« begreift ("Uns geht es um eine marxistische Strategie"), riet ihnen jedoch, dennoch »mal reinzusehen": »Das Zugleich ist richtig -nicht erst Marx und dann das andere.«

Traditionalisten am OSI denken derweil mehr an die Taktik. Wenn beispielsweise OSI-Direktor Hartwich etwas früher Selbstverständliches tun will, holt er erst einmal das Plazet des Auditoriums ein: »Ich bitte um Vergebung, wenn ich nun etwas mache, was in diesem Hause sonst nicht mehr üblich ist. Ich möchte nämlich auf das 19. Jahrhundert zurückgreifen.«

Er ist überrascht, wenn er in seiner Vorlesung »Regierungssystem und Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik« »längere Ausführungen machen kann«. Hartwich zu seinen Hörern: »Ich weiß ja, daß Sie das Bonner System kritischer sehen als ich.«

Doch auch Hartwich hat, wie viele seiner liberalen und manche seiner konservativen Kollegen, »in den letzten Jahren von der studentischen Protestbewegung viel dazugelernt«. Und tatsächlich: Es scheint, als komme der Anstoß linker Studenten, die Reformen nicht wollen und am liebsten Revolution machen würden, gegenwärtig eher denen zugute, die Revolution ablehnen, sich Reformen aber keineswegs verschließen.

Während sich Liberale und Konservative nun mit marxistischen Kategorien und Denkansätzen zu befreunden beginnen und sozio-ökonomische Bezüge auch dort entdeckten, wo viele sie früher übersehen hatten, verloren manche marxistische Dozenten und Studenten analytische Schärfe, weil Marx ihnen nun so erscheint wie einst den Scholastikern Thomas von Aquin.

»Nebenan ist Bibelstunde«, argwöhnte OSI-Politologe Jäckel, als sich im Sommersemester Diplom-Politologe Bernhard Blanke, 29, jeden Mittwoch von 15.00 c.t. bis 16.45 Uhr mit seinen 20 Studenten durch den ersten Band von Marxens »Kapital« arbeitete -- obwohl gerade Blanke ("Es ist manchmal ein bißchen schwierig, das bei Marx") keineswegs zu den Katecheten zählt.

Daß studentische Marx-Adepten von Marx eher zuwenig als zuviel wissen und sich marxistische Kategorien »nicht erst aneignen, sondern gleich anwenden« wollen (so ein Altvater-Schüler), erfuhr Diplom-Politologe Hans Kastendiek, 27, in seiner Übung zur Einführung in die Politologie.

Kastendiek: »Was ist denn eigentlich Kapital -- weil ihr immer so mit. diesem Ausdruck hier herumschmeißt?« Studenten antworteten: »Das sind die Großaktionäre und der Staat«

»So 'n kleiner Arbeitgeber mit 200 Männeken, das ist nicht das Kapital.« »Kapital, das sind die Aktionäre und das Management. Der Stoltenberg z. B. ist bei Krupp Manager.«

»Kapital, das ist ein allgegenwärtiger Moloch.«

Auch Diplom-Politologe Klaus Busch, 24, stieß in seiner Wissenschaftlichen Arbeitsgemeinschaft über marxistische »Theorien des Imperialismus« auf »Fragen, die man nur mit einer Gruppe genau untersuchen kann, die alle drei Bände »Kapital« gelesen hat« -- die meisten dieser Gruppe hatten noch keinen gelesen. OSI-Politologe Dietrich Haensch konstatierte in seiner Übung ("Arbeitskämpfe und Betriebskonflikt in Westdeutschland"), als es darum ging, zwischen »produktiver« und »unproduktiver« Arbeit zu unterscheiden: »Aus dem hohlen Bauch kann das offensichtlich niemand definieren.«

Wie freilich der Nachholbedarf der Linken gedeckt werden kann, ist einstweilen noch offen. Denn nach jahrzehntelanger Marx-Flaute mangelt es den Katheder-Sozialisten einstweilen noch an wissenschaftlichem Nachwuchs. Daher, so OSI-Diplom-Politologe und Teilzeitassistent Matthias Pfüller, 24, »gibt es bei uns genausoviel Deppen wie bei den anderen«.

So liegt denn der Effekt des linken Aufbegehrens einstweilen noch im Nebeneffekt: in der Emanzipation der Studenten von gegängelten Pennälern zu engagierten Seminaristen, Im Abbau alter Ordinarien-Herrlichkeit, im erweiterten Lehrangebot und in den Ansätzen einer neuen Hochschul-Didaktik.

Daß Professoren vom gesicherten Katheder auf verunsicherte Studenten hinabreden, was sie sich (zum kleineren Teil> selber ausgedacht oder (zum größeren Teil) aus Büchern anderer herausgeklaubt hatten, ist eine Rarität geworden. Nun mischen sie sich unter Schüler und Genossen, lassen sich kritisieren ("Was soll denn der Positivismus?") und reagieren gelassen, wenn Linke von Revolutionen schwärmen. Ziebura: »Dann müssen Sie es sich aber gefallen lassen, daß wir Ihnen auf die Finger schauen.«

Bei dem konservativen Lodder waren es die Studenten, die auf die Finger schauten. Sie monierten zwar nicht das Gesellschaftsbild, wohl aber die Didaktik des Assistenten und die Konsumentenhaltung der Kommilitonen. »Das häufig zu leise Sprechen des Übungsleiters«, so konstatierten sie, »führte zu unnötigen zusätzlichen Konzentrations-Anstrengungen und glich, namentlich bei gleichzeitigem Flugzeuglärm« dem totalen Ton-Blackout beim TV.«

Die Studenten beliehen es nicht bei der Kritik an der Redeweise. Sie bemängelten auch die Lehrer-Qualität: »Bei unvollständigen oder einseitigen Papers hat der Übungsleiter ... nicht immer die Perspektive angemessen zurechtgerückt beziehungsweise Lücken aufgezeigt und geschlossen. Seine Stellungnahmen blieben so Randbemerkungen.«

In diesem Klima gediehen, wenngleich häufig noch im Wildwuchs« Ansätze einer Hochschuldidaktik, die an die Stelle unkritischen Zuhörens die kritische Verarbeitung von Daten, Fakten und Theorien setzt, in gleichberechtigter Zusammenarbeit von Lehrenden und Lernenden; die theorielose Praxis ebenso zu meiden sucht wie praxislose Theorie; die das Problembewußtsein fördert, ohne notwendiges Sachwissen als überholten Positivismus abzutun.

»Aufgabe eines effektiven Lernprozesses« sei es, so formulierten die OSI-Studenten Parpat, Wenzel und Schuricht, die »Konsumentenhaltung ... zu durchbrechen«, Studenten zu »konkreter Mitarbeit zu motivieren«, »korrekte Tatsachendarstellung« zu liefern und zum »Verstehen abstrakter Materie« anzuleiten.

Das aber läßt sich am OSI vorerst nur schwer verwirklichen. Einerseits fehlen Nachwuchs-Lehrer, die in der Lage wären, die didaktischen Maximen konsequent durchzusetzen. Andererseits, so scheint es, sind die künftigen Kandidaten für Positionen im akademischen Mittel- und Oberbau« die Studenten, durch den Fakten-Fetischismus durchschnittlicher Oberschulen so faktenfeindlich und politisiert, daß ihnen oftmals als kapitalistische Manipulation gilt, was andere als notwendiges Sachwissen bewerten.

So weichen gerade Linke dem Studium von Sachverhalten mit nachgerade naivem Widerwillen aus und werten als progressiv, was andere unter Dilettantismus verstehen. Was Lenin einst als Quintessenz des Marxismus formuliert hatte -- »konkrete Analyse der konkreten Situation«

blieb ihnen mithin häufig ein ebenso lästiger Kram wie die Furunkel, die sich Karl Marx einst beim Studium kapitalistischer Wirklichkeit angesessen hatte und die ihm die Bourgeoisie »teuer bezahlen« (Marx an Engels) sollte.

Gerade mit dem »Lernen, lernen und nochmals lernen« (Lenin) nahmen es am OST während des Sommersemesters vor allem die marxistischen Jungakademiker nicht so genau. Sie agitierten viel und argumentierten wenig. Sie neigten offenbar zu der Annahme, die Verhältnisse ließen sich ohne intime Kenntnis der Verhältnisse ändern.

So fragte ein Student, »inwiefern im kapitalistischen System eine emanzipatorische Wissenschaft überhaupt möglich« sei. »Gar nicht«, antwortete ein anderer: »Das ist nur möglich in der kommunistischen Gesellschaft.« Ein dritter wußte, wiederum ganz allgemein, warum: »Im kapitalistischen System gibt es nur Profitinteressen« im kommunistischen System dagegen nur Volksinteressen.«

Doch was als bündige Antwort gedacht war, blieb einstweilen nur Hypothese. Zwar postulierten die SAKO: »Praxis braucht Theorie, das ist das Bindeglied zum Klassenkampf«; und: »Man braucht Schulung, wenn man in den Betrieb gehen und eine kommunistische Partei aufbauen will.« Doch vielen Jung-Marxisten ist »der Sprung in die Aktion das Entscheidende« (Fritz Rudert). So war es nach dem Urteil eines Studenten »das Dilemma« des Altvater-Seminars über »Bildungsökonomie"« »daß wir die konkreten Pläne der bürgerlichen Bildungspolitiker gar nicht kennen« -- und viele sie auch nicht kennenlernen wollten.

Tatsächlich verführte -- vor allem bei Erstsemestern -- der Widerwille gegen Fakten und Daten selbst in den Arbeitsgruppen, die gegründet wurden, damit nicht länger »einer eine halbe Stunde referiert und alle Aktivitäten abgetötet werden« (Kastendiek), häufig zu passivem Zuhören oder sachfremdem Disput. Als sich Kastendiek nach Ablauf des halben Sommersemesters von den Arbeitsgruppen berichten ließ, zeigte sich, daß es zu Aktivitäten gar nicht erst gekommen war.

Arbeitsgruppe 1: »Wir halten vor, uns gestern zu treffen. Daraus wurde nichts.« Arbeitsgruppe 2: »Wir haben uns in der Wohnung getroffen, aber immer waren nur drei von sieben da.«

Student: »Ihr wohnt ja auch in einem ziemlichen Loch.«

Student: »Ich finde das übel, daß einmal nur A und B und dann nur C und D da sind.«

Arbeitsgruppe 3: »Der uns bestellt hatte, hat uns versetzt, der war gar nicht da.« Arbeitsgruppe 4: »Wir haben uns gestern zum erstenmal getroffen, von vier waren zwei erschienen. Wir wollen uns einen Soziologen holen, der uns Literatur nennt.« Arbeitsgruppe 5: »Wir haben uns dreimal getroffen.«

Kastendick fragte: »Haben die Arbeitsgruppen ihre Schwierigkeiten diskutiert?« Das hatten sie nicht; denn es sei »natürlich schwierig, über Schwierigkeiten zu diskutieren, wenn die Leute gar nicht da sind«, merkte ein Student an: »Das ist eine Schlamperei.« Andere meinten:

»Ich habe Angst, zu Gruppen zu gehen, deren Leute Ich gar nicht kenne.« »In der Arbeitsgruppe sitzen wir häufig vor einem komplizierten Text und keiner hat Ahnung.«

»Wir kommen unwahrscheinlich langsam voran, oft herrscht zehn Minuten Schweigen. Der Wunsch nach einer Autorität vom Wissen her ist da.«

»Das Unbehagen kommt daher, daß die Leute In den Arbeitsgruppen gar nicht wissen, was sie da eigentlich sollen.«

Kastendiek resümierend: »Ich habe den Eindruck, daß der größte Teil von euch gar nicht weiß, wohin der Hase überhaupt läuft.« Dann legte er eine »Denkpause« ein, »um bis zum nächstenmal zu klären, welche Programmpunkte für den Rest des Semesters entfallen«.

Die Schwierigkeiten modernen Wissenschaftsbetriebs zeigten sich auch in der Übung des linken Diplom-Politologen Pfüller über die »Innenpolitische Situation der DDR«. Unzureichende Kenntnisse verhinderten die fällige Sachdebatte über die DDR-Landwirtschaft und verführten zum Polit-Plausch. Pfüllers Frage, ob denn die »Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe« -- eine Massenorganisation der SED auf dem flachen Lande -- jemals eine politische Rolle gespielt habe, vermochten weder der Übungsleiter noch ein Übungsteilnehmer zu beantworten. Das Kollektiv stritt sich statt dessen unter anderem darüber, ob der einstige sowjetische Sicherheitschef Lawrentij Berija, der am 23. Dezember 1953 hingerichtet wurde, »nicht vielleicht sinnigerweise am Weihnachtstag liquidiert« worden sei.

Doch Pannen dieser Art förderten, jedenfalls in der Pfüller-Übung, Kritik und »Selbstkritik«. Ergebnis: weniger Befangenheit gegenüber dem Arbeitsobjekt (DDR), mehr Sachinformation und Nachdenken.

So stellte die Arbeitsgruppe Krönig und Konukiewitz fest, daß die Frauen-Emanzipation in der DDR zwar schneller vorangekommen sei als in der Bundesrepublik, bemängelte aber zugleich: »Unter Befreiung der Frau wird heute in der DDR in erster Linie ihre Gleichberechtigung und volle Eingliederung in den Produktionsprozeß verstanden.«

Der Student Karl-Heinz Hamburger referierte sowohl das »Selbstverständnis« des »Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds« ("Schule des Sozialismus") als auch eine eigene Analyse gewerkschaftlicher Praxis in der DDR. Er kam zu dem Schluß: »Die Gewerkschaften sind also kein Organ zur wirksamen Vertretung von Arbeitnehmerinteressen, sondern Hilfsorgane des staatlichen Arbeitgebers.«

Auch die etablierten OSI-Lehrer handhabten den neuen Arbeitsstil mit unterschiedlichem Geschick -- der eine von der sicheren Warte des Experten (Studentenjargon: »Fachidiot"), der andere hinlänglich angepaßt, der dritte formal modern, inhaltlich aber konservativ wie eh, der vierte schließlich. Löwenthal, wie Löwenthal.

Der Ost-Experte, in den zwanziger Jahren kommunistischer Studentenführer, nach dem Zweiten Weltkrieg Sozialdemokrat und nun, nach den Reformen am Otto-Suhr-Institut, Exponent des konservativen Professoren-Klubs »Freiheit der Wissenschaft«, blieb dennoch ein souveräner Lehrer: »Ich sprach Ihnen davon.«

Löwenthal sprach druckreif jeweils 90 Minuten vor hundert Studenten über die »Grundzüge und Entwicklung des bolschewistischen Einparteistaates«. Für den allgemeinen Begriff »Säuberung« zur Bezeichnung der stalinistischen Massenmorde in den dreißiger Jahren möchte er lieber den Begriff »Blutsäuberung« verwendet wissen, um sie gegen unblutige Verfolgungen früherer und späterer Jahre abzuheben.

Die Linke, die bekundet hatte, sie wollte Vorsorge treffen, daß akademische Frischlinge »dem Löwenthal nicht anheimfallen«, machte sich nicht bemerkbar. So unterblieben Einwände und Kommentare gegen Fakten und Wertungen ("Man muß sich fragen, ob die Blutsäuberung nicht systemimmanent war"), die Löwenthal vortrug. Ein Student tuschelte freilich: »Der läßt die sozio-ökonomischen Aspekte ja völlig außer acht.«

Auch im Seminar von Professor Georg Kotowski über den »Vertrag von Versailles« blieben die Nicht-Linken unter sich. Der christdemokratische Bundestagsabgeordnete, der Kette raucht (Seminar-Rekord: elf Zigaretten in 90 Minuten), sich mit einem schmalen Band über den SPD-Reichspräsidenten Friedrich Ebert habilitieren ließ, hält es »immer noch für einen interessanten Forschungsgegenstand, ob man den Friedensvertrag hätte unterschreiben sollen«. So machte er sich noch 1970 jene Gedanken, die bereits Anno 1918 Paul von Hindenburg bewegt hatten, der auch lieber weitergekämpft hätte, obgleich es nichts mehr zu kämpfen gab.

So mager wie solche Katheder-Weisheit blieben denn auch etliche Studenten-Papers und Seminar-Diskussionen. Student K. Neumann referierte in 76 Zeilen über »Die Deutschen Gegenvorschläge« auf der Friedenskonferenz von Versailles. 48 Zeilen genügten dem Studenten Felix Escher, um »die Bedingungen des Versailler Vertrags und das Wiedererstarken der konservativen Kräfte im Jahre 1919« zu untersuchen. Pauschal wurde behauptet, was sich detailliert ganz anders lesen würde: Die Konservativen hätten damals nicht »an eine Rückkehr zur Monarchie« gedacht, und »auch im Stahlhelm empfand man Sympathien für den neuen Staat«.

»Liebe Kommilitonen«, begrüßte Instituts-Chef Hartwich die rund 150 Studenten, die sich am 20. April im Hörsaal A zu seiner ersten Vorlesung im Sommersemester 1970 versammelt hatten (Thema: »Regierungssystem und Gesellschaftspolitik in der Bundesrepublik"). »Es wird picht so sein«, versprach Hartwich, »daß ich hier monologisiere. Um Frustrationen zu vermeiden, will ich nur Thesen vortragen.«

Eine Woche später war der OSI-Direktor immer noch beim Monolog und »direkt konsterniert, daß wir gar nicht zu einer Diskussion gekommen sind«. Nach einem Rückgriff in das 19. Jahrhundert, »das geschieht nur skizzenhaft« (Hartwich), meldeten sich dann doch zwei Studenten zu Wort: »Bismarck war doch in der sozialen Gesetzgebung vorbildlich.«

Hartwich: »Ich danke Ihnen für den richtigen Hinweis, aber Sie dürfen nicht vergessen, das war ein autoritärer Sozialstaat.«

»Inwieweit sehen Sie den Antifaschismus als konstituierendes Element für die Bundesrepublik?«

Hartwich: »Das kommt noch.«

Trotz Öffnung nach links ließ sich auch an der Hartwich-Veranstaltung die zunehmende Polarisierung von Rot und Rosa am Otto-Suhr-Institut beobachten. Wenn der neue Halblinke von der »Präjudizierung« der deutschen Nachkriegswirtschaft im Sinne ungebrochenen Kapitalismus durch das alliierte »Verbot der Präjudizierung« sprach, hörten ihm im Hörsaal A nur wenige, zumeist schweigende Linksradikale zu.

OSI-Direktor Hartwich, der noch Anfang der sechziger Jahre -- damals Assistent -- auf Seminarscheinen monierte: »Marxistische Terminologie und Beweisführung; darunter litt die wissenschaftliche Distanz«, geht nun gerne auf Tuchfühlung mit den Linken und bekennt: »Die engagierten Studenten haben mich auf Themen und Fragestellungen gebracht, die ich früher nicht gesehen habe.«

Daß die Linksradikalen das Otto-Suhr-Institut tatsächlich in eine rote Kaderschmiede umfunktionieren könnten, fürchtet er nicht: »Der Druck ist raus. Wir haben genügend Ventile.«

Die Aussichten der OSI-Marxisten« den Wissenschaftspluralismus durch einen einzigen, nämlich marxistischen Studiengang zu ersetzen, sind im Sommersemester -- formal betrachtet

sogar geringer geworden. Denn das neue Berliner Hochschulgesetz setzte die weitergehende OSI-Reformsatzung außer Kraft: An die Stelle des drittelparitätisch besetzten OSI-Rates trat der Fachbereichsrat« dem sieben Hochschullehrer, vier wissenschaftliche Mitarbeiter, drei Studenten und eine »andere Dienstkraft« angehören. Selbst der konservative Diplom-Politologe Lodder sieht in dieser Machtverschiebung »einen enormen Rückschritt«, vor allem für die Studenten, denen nun statt eines Drittels nur noch ein Fünftel der Sitze zusteht.

Bei den Juni-Wahlen zum Fachbereichsrat eroberten marxistische Assistenten und Studenten ("Wir werden die bürgerliche Wissenschaft samt ihren Institutionen und Prüfungspraktiken bekämpfen") vier Sitze -- zu wenige, um revolutionäre Forderungen gegen zehn zumeist eher reformistische Hochschullehrer, wissenschaftliche Mitarbeiter, Studenten und eine »andere Dienstkraft« durchzusetzen.

SAZ und SAKO sind dennoch zuversichtlich ("Unsere Perspektive ist richtig"). Sie setzen darauf, daß ein Marxist den Lehrstuhl des Nationalökonomen Gert von Eynern einnehmen wird, der demnächst emeritiert. Sie hoffen außerdem, einen zweiten Marxisten auf den Marxismus-Lehrstuhl hieven zu können, dessen Errichtung noch vom alten Institutsrat einstimmig beschlossen worden war. »Und dann braucht«, so kalkuliert die SAKO, »nur noch der eine oder andere von den linksliberalen Scheißern umzufallen, und wir haben die Mehrheit im Fachbereichsrat.«

In diesem Bewußtsein träumen sie -- mit Lenin -- »nach vorn«, und sie sprechen -- mit Mao Tse-tung: »Der Feind verfault mit jedem Tag, während es uns täglich bessergeht.«

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